1. Thessalonicher 1, 2-10

1. Thessalonicher 1, 2-10

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


14. Sonntag nach Trinitatis, 24. September 2000
Predigt über 1. Thessalonicher 1, 2-10,
verfaßt von Henry von Bose


Entscheidungen für die
Predigt

Liebe Gemeinde,

mit diesem Abschnitt beginnt ein sehr persönlich gehaltener
Brief, den der Apostel Paulus an die Gemeinde in Thessalonich geschrieben hat.
Dieser Brief ist der älteste Teil des Neuen Testaments. Heutige Leserinnen
und Leser lernen hier wie die damals in Paulus einen herzlich zugewandten Mann
kennen. Er schreibt voller Wärme. Auch heute noch ist seine starke
Verbundenheit mit den Menschen der kleinen Gemeinde dort in Nordgriechenland zu
spüren. Ihm liegen ihre Erfahrungen mit dem Glauben an Gott am Herzen.
Deshalb erinnert er sie an die Anfangszeit, als er zu ihnen gekommen ist und
ihnen das Evangelium von Jesus Christus verkündigt hat. Gern wäre er
bereits wieder gekommen, ist daran aber gehindert worden. Darum hat er von
Athen aus seinen Mitarbeiter Timotheus nach Thessalonich geschickt, um ihre
Widerstandskraft gegen verschiedene Bedrängnisse zu stärken. Schon
hier, in diesem ersten schriftlichen Zeugnis des Neuen Testaments, wird dabei
eine Erfahrung deutlich, die zum Christsein hinzugehört: sie wird heute
ebenso gemacht wie damals. Wer andere zu trösten versucht, wer jemandem
Mut macht angesichts von etwas Schwerem, das sie oder ihn bedrängt, der
sieht auch selbst leichter an das hin, was ihn belastet. Trösten,
ermutigen geschieht gegenseitig.

Paulus hat Grund, um die gerechte Würdigung seiner Arbeit
hier in Thessalonich durch Christen aus anderen Orten besorgt zu sein. Ihm
werden Unregelmäßigkeiten im Umgang mit den Kollekten vorgeworfen.
Angeblich soll er Geld, das für die Armen in Jerusalem gesammelt war,
für sich selbst verwendet haben. Gegen diesen Vorwurf des Betrugs wehrt er
sich, indem er darauf pocht, ehrlich und glaubwürdig zu sein. Die Gemeinde
in Thessalonich hat die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde mit
großer Ausdauer ernst genommen und sich davon auch nicht durch umlaufende
Gerüchte abbringen lassen. Deshalb ist Paulus den Thessalonichern
besonders verbunden, sie haben seine Position gestärkt. Was das für
ihn bedeutet, ist daran zu erkennen, auf wie bereitem Raum er in seinem Brief
seine Dankbarkeit entfaltet. Weil er aber dermaßen stark von dem Anliegen
durchdrungen ist, den Glauben zu verkündigen und die vom Glauben
geprägte Lebensweise nachzuzeichnen, liegt ihm daran, in der Art seines
Dankes das Verständnis des Glaubens bei den Thessalonichern zu vertiefen.
Er dankt nicht ihnen, sondern Gott.

Seinen Leserinnen und Lesern, den Gemeindegliedern, die bei der
Verlesung des Briefes zuhören, wird dadurch noch einmal ihre Verbundenheit
mit dem Apostel genauso wie seine mit ihnen deutlich. Es geht ihnen allen
gemeinsam gleich. Gott hat sie erwählt, jede und jeden einzelnen in der
Gemeinde nicht anders als den Apostel. Gott hat sie befähigt, sein Wort
aufzunehmen, von ihm bekehrt zu werden und ihm, dem lebendigen und wahren Gott
zu dienen. So ist ihnen allen Gottes Liebe zur Erfahrung geworden.

Die einzelnen lassen den Glauben wirksam werden, wenn sie Gottes
Willen wahrnehmen und befolgen; sie scheuen die Mühe der Liebe nicht, die
sorgfältige und zeitaufwendige Zuwendung zu Notleidenden macht; sie
bewähren standhafte Ausdauer in der Hoffnung auf die Wiederkunft des Herrn
Jesus Christus und sind darin frei von Angst vor Gott: bei alledem wissen sie,
dass der Glaube im Alltag nur so zu leben ist, wie er in ihnen begonnen hat
– in der Kraft des heiligen Geistes. Dass diese Kraft in Thessalonich
erlebt wird, dafür dankt Paulus Gott allezeit, immer wieder. Von diesem
Dank schreibt er der Gemeinde und zeigt ihr damit, dass danken zur Sprache des
Glaubens gehört. Glauben, lieben und auf Jesus Christus hoffen
können, das tun Menschen nicht aus ihrer eigenen Kraft, das bewirken nicht
sie selbst, dazu werden sie durch den heiligen Geist befreit, erwählt. Der
Geist Gottes und Jesu Christi wirkt es an ihnen. In der Sprache des Glaubens
danken Menschen deshalb, wenn es ihnen um die Erfahrung des Wirkens Gottes
geht.

Damals schreibt Paulus es den Thessalonichern in seinem sehr
persönlichen Brief. Wie wahr es ist, erschließt sich seitdem den
Menschen in der Kraft des heiligen Geistes nicht anders als den Christen
damals. Das Geschehen gleicht sich stets. Der heilige Geist führt Gottes
Erwählung der einzelnen Menschen aus; er bringt die Kraft zur Bekehrung
und zum anhaltenden Glauben, Lieben und Hoffen durch die Verkündigung
einzelner in die Gemeinden. Das ausgelegte Wort Gottes trifft Menschen, sie
können es in der Kraft des Geistes aufnehmen und gewinnen dadurch selbst
die Ausstrahlung, die auf andere wirkt; denen werden sie zum Vorbild. So
beschreibt Paulus es am Beispiel der Thessalonicher. Ihre vorbildliche
Ausstrahlung prägt die Gemeinden, nah und fern in der Ökumene, die
davon hören, mit, die ahmen sie nach. So wirkt der Geist im Weitergeben
und Weiterwirken vom einen zum andern. Das geschieht ganz wunderbar und ist
wirklich ein Wunder. So ist es damals gewesen und so ist es noch heute. Wo sich
einzelne zum Glauben erwählt wissen dürfen und zur Gemeinde
zugehörig, erleben sie dasselbe wie die Menschen vor annähernd 2000
Jahren. Sie teilen dieselbe Dankbarkeit mit ihnen. Und sie wissen sich heute
wie die Christen in Thessalonich damals gesegnet, Gott danken zu können.
Ein alter Hausspruch im graubündischen Chur sagt es so: „Dem, den
Gott liebt, er auch ein Herz zum Danken gibt.“

Liebe Gemeinde, die Freude, Gott danken zu können,
gehört mit einer tiefenscharfen Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit der
Menschen in der Gemeinde zusammen. In der Verantwortung des Seelsorgers nimmt
Paulus die Bedrängnisse der Gemeinde in Thessalonich ernst. Erwählt
zu sein, bedeutet zu keiner Zeit, bewahrt zu sein vor den Gefahren des
Scheiterns mit der eigenen Verantwortung und den Zumutungen, wenn im Umfeld der
Gemeinden ihre Lebensäußerungen missverstanden oder bewusst
verachtet werden. Die jüdische Gemeinde in Thessalonich hat es keineswegs
mit Wohlwollen gesehen, dass nach den drei Auftritten des Apostels in ihrer
Synagoge einige Gemeindeglieder zusammen mit etlichen Griechen Christen wurden.
Es kam zu einem Aufruhr, hören wir in der Apostelgeschichte (17,1-9), und
die junge christliche Gemeinde blieb lange Diffamierungen ausgesetzt, sie
musste auf die soziale Anerkennung und Integration in der großen
Hafenstadt verzichten. Diese leidvolle Erfahrung erhellt den Hintergrund, vor
dem Paulus schreibt: „Ihr habt das Wort aufgenommen in großer
Bedrängnis mit Freuden im heiligen Geist!“ (V. 6). Im 3. Kapitel
seines Briefes erinnert Paulus daran, dass er Timotheus zu ihnen gesandt hat,
um sie zu stärken, „damit nicht jemand wankend würde in diesen
Bedrängnissen“ (V. 2+3).

Paulus schreibt wohlabgewogen und wieder im Blick auf die Mitte
der Glaubenserfahrung: „in großer Bedrängnis mit Freuden im
heiligen Geist“. Wo Menschen standhalten im Glauben und sich gegenseitig
in der Hoffnung bestärken zum Aushalten, zum Widerstehen und zum Beharren
bei den Geboten Gottes, die Menschen und die Schwachen zumal zu lieben, – da
ist der heilige Geist geradeso am Werk wie in der Freude der einzelnen, Gott
danken und dienen zu können. Bedrängnis und Freude schließen
einander nicht aus: sie sind oft wie die Innen- und Außenseite derselben
Wirklichkeit.

Beispiele für die Bedrängnisse einer Gemeinde lassen
sich leicht finden. Ein Blick etwa auf die wechselvolle Geschichte
Thessalonichs macht sie anschaulich. Als Paulus zum ersten Mal dort ankommt,
ist die nach einer Halbschwester Alexanders des Großen benannte Stadt
bereits 400 Jahre alt. Sie liegt an einer der wichtigsten Handelsstraßen
des römischen Reiches, der Via Egnatia. Der römische Kaiser Galerius
machte die Stadt anfangs des 4. Jahrhunderts zur Hauptstadt des Römischen
Reichs, ehe Konstantin ihr diesen Rang wenig später wieder nimmt. Der bis
heute als Schutzpatron der Stadt verehrte Dimitrios ist in der Zeit schon als
Märtyrer gestorben: der dort geborene römische Offizier hat heimlich
das Evangelium gepredigt. Über seinem Grab wird hundert Jahre darauf eine
fünfschiffige Basilika errichtet. Diese nutzen 1000 Jahre später
Türken als Moschee. Zuvor haben sich in einer elfhundertjährigen
Geschichte byzantinische und römisch-katholische Herrscher keineswegs
friedlich abgewechselt. Nach einem kulturell „Goldenen Zeitalter“ im
14. Jahrhundert mit zahlreichen neuen Kirchenbauten gliedern 1430 osmanische
Herrscher die Stadt für 482 Jahre ihrem Reich ein. Die Kultur der Stadt
prägen dann vom Ende des 15. Jahrhunderts an schon bald jüdische
Bürger, ashkenasische aus Bayern und Ungarn, mehr aber noch sephardische
aus Spanien und Italien, die vor christlichen Herrschern auf der Flucht sind
und vom Sultan in der seit der Eroberung fast menschenleeren Stadt Asyl geboten
bekommen. Sie entwickeln Thesalonich zu einer blühenden Wirtschafts- und
Kulturmetropole, die in der jüdischen Welt bald „Mutter Israels“
genannt wird. Nach einer Auswanderungswelle nach Palästina 1917 leben noch
50 000 Juden in der Stadt, als 1943 die Deportationen in Viehwagen in die
deutschen Konzentrationslager beginnen. 45 560 jüdische Menschen sind nach
Birkenau deportiert worden. Nur 10 000 Juden aus Thessaloniki überleben
den Holocaust, 2000 kehren in die Stadt zurück.

In diesen Jahrhunderten: wieviel Bedrängnissen von
außen und von innen müssen mal an Zahl verschwindend kleine, mal
mächtig große Gemeinden in Thessalonich standzuhalten gehabt haben.
Wo immer sie dem lebendigen und wahren Gott zu dienen vermochten, an Glaube,
Liebe und Hoffnung festhalten konnten, – es war für sie Erfahrung des
heiligen Geistes.

Heute wirkt Thessaloniki wie eine normale, weithin
säkularisierte Großstadt. Die orthodoxen Kirchen sind an Festtagen
übervoll, zu den übrigen Gottesdiensten spärlich besucht. Die
kleine deutschsprachige evangelische Gemeinde nimmt sich beispielhaft besonders
der deutschen Ehefrauen rückgewanderter Griechen, der ehemaligen
sogenannten Gastarbeiter, Arbeitsmigranten an; viele der Frauen sind
geschieden, können nicht in ihre ursprüngliche Heimat zurück und
leben allein – ein wahrhaft bedrängtes Leben. Sie haben hier in der
Gemeinde mit ihrer großen Bindekraft Hilfe beim Bewahren ihrer
Identität. Schwer nachzuvollziehen ist die Sprödigkeit der orthodoxen
Gemeinden der evangelischen Gemeinde gegenüber. Kaum zu verstehen ist aber
auch, wie wenig von ihnen wahrgenommen wird, mit welch großen sozialen
Problemen zurückgekehrte Arbeitsmigranten zu kämpfen haben, die oft
Jahrzehnte im Ausland gelebt haben.

Gemeinden, die sich schwer tun, die Bedrängnisse der
Gemeindeglieder zu erkennen und gelten zu lassen – sie liegen in
Thessaloniki an der Meeresbucht, jenseits derer der Olymp aufsteigt, damals
nach den Vorstellungen der antiken Welt Wohnort der Götter. Dort hat
Paulus gestanden, es ist ein Anblick, der kaum vergessen wird. „Sich von
den Abgöttern bekehren, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott“,
das vermochten in der Kraft des heiligen Geistes die ersten Christen in
Thessalonich damals.

Das Bild vom fernen schneebedeckten Olymp als Wohnort der
Götter kann in zweierlei Hinsicht erinnert werden. Einmal kann es die
Frage wach halten, ob die Sehnsucht nach persönlichen
Höhenflügen das Herz so ausfüllt, dass der Geist Gottes es
schwer hat, sich Raum in mir zu schaffen. „Wo dein Schatz ist, da ist auch
dein Herz“, hat Jesus gesagt (Mt 6,21), und bei den Chassidim heißt
es: Wer seiner selbst voll ist, in dem hat Gott keinen Raum. Der faszinierende
Berg wird hier zum Sinnbild für Unbescheidenheit und die Gefahr, den
Bedrängnissen anderer gegenüber verschlossen zu sein.

(Hierher passt ein aktueller ortsnaher Bezug
zur am Sonntag beginnenden Woche der ausländischen Mitbürgerinnen und
Mitbürger, landeskirchlicher Aufruf o. ä.)

Die andere Sicht auf den hohen Berg ist ein Bild für die
beklemmende Angst, nicht über die Probleme hinauszublicken, nicht zu
schaffen und damit fertig zu werden, was sich so hoch auftürmt.

Eine Bedrängnis, deren Urheber ein Mensch sich selbst in
seiner Not und Krankheit ist, wird in diesem Jahr in den Kirchengemeinden
aufzunehmen gebeten. 2000 ist vom Vorstand der Deutschen Hauptstelle gegen die
Suchtgefahren zum „Jahr der Angehörigen Suchtkranker“
erklärt worden. In jeder Gemeinde leben Alkoholkranke. 4 Millionen sind es
in Deutschland, ihre Angehörigen werden auf 8 Millionen geschätzt,
jede 10. Familie ist von Alkoholproblemen betroffen. Freundeskreise für
Suchtkrankenhilfe sorgen in Orts- und Landesverbänden mit ihrem
diakonischen Selbstverständnis durch Besuchsdienste, vielfältige
persönliche Kontakte und Hausbibelkreise für Zusammenhalt unter
diesen Familien. Sie stützen sich gegenseitig und helfen einander, das
lebensbestimmende Krankheitsbild Alkoholabhängigkeit in einer gesunden
Lebensführung zu integrieren. In einem Freundeskreis wird erlebbar, wie
bewusst Bedrängnis und Freude zusammengehalten werden können, aber
auch wie Dienst an Gott und gegenseitige Begleitung zusammengehören, damit
sich nicht wieder ein unüberwindbarer Berg vor einem einzelnen erhebt.

Der Olymp jenseits des Meeres von Thessaloniki: wofür er auch
ein Bild ist, es tut jedenfalls gut, dem Seelsorger der antiken
Christengemeinde zu folgen. Paulus schreibt am Ende seines Briefes: „Wir
ermahnen euch aber, liebe Brüder: Weist die Unordentlichen zurecht,
tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig gegen
jedermann.“

Amen.

Entscheidungen für die Predigt:

Die Frage, wie jemand Christ wird und bleibt, wird in unseren
Gemeinden und kirchlichen Werken nicht selten gestellt. Sie ist natürlich
bereits eine Frage der ersten urchristlichen Gemeinden und wird in der
Theologie des dritten Artikels beantwortet. Dass eine Bekehrung (V. 9) ihre
Bedingung der Möglichkeit in der Erwählung (V. 4) hat und Gottes
wunderbares Werk ist, scheint als befreiendes Evangelium weiterhin wenig
bewusst zu sein. – Der zweite Schwerpunkt des Textes und das zweite
Predigtthema mit dem Verhältnis von Freude und Dank hier und
Bedrängnis dort ist für mich V. 6 b.

Meine Liebe zu Thessaloniki verdanke ich regelmäßigen
Besuchen bei dem vom Diakonischen Werk Württemberg geförderten
kleinen Rückkehrerberatungszentrum. Wem der historische Passus zu lang
ist, lässt ihn am besten weg.

Zu achten ist auf einen Einschub zur
Interkulturellen Woche.

Henry von Bose, Kirchenrat
Klopstockweg 13, 72076
Tübingen
e-mail:
vonBose.H@diakonie-wuerttemberg.de

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