1. Thessalonicher 5, 14-24

1. Thessalonicher 5, 14-24

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


14. Sonntag nach Trinitatis,
1. September 2002
Predigt über 1. Thessalonicher 5, 14-24, verfaßt von Karin
Klement

-> Vorbemerkungen zur Predigt

Liebe Gemeinde!

Das Wichtigste kommt immer zum Schluss, wenn alles knapp vor dem Ende
schnell zusammengefasst und das Eigentliche – bevor der Zuhörende
geht – auf den Punkt gebracht werden soll. „Was ich dir noch sagen
wollte… Was du unbedingt wissen musst… Was ich dir mitgeben möchte…“
Wenn eine Rede so beginnt, wacht die Aufmerksamkeit noch einmal auf. Eine
persönliche Aussage wird erwartet, etwas, was Sprecher und Hörer
gleichzeitig betrifft und sehr wichtig ist.
Nach etwa 14 knappen, präzisen Anweisungen für die Praxis eines
christlichen Lebens kommt Paulus auf den Punkt, die Grundlage seiner Rede:

ER aber, der GOTT des Friedens, heilige euch durch und durch
und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt,
untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus.

Ein Segenswort wie aus tiefstem Herzen gesprochen, den ganzen Menschen
umfassend in allen seinen Lebensbezügen von Körper, Geist und
Seele. Es geht um unser Heilwerden als Einzelner wie in der Gemeinschaft;
um ein Gesunden innerlich und äußerlich und rundherum in unseren
zwischenmenschlichen und anderen komplexen Beziehungen zur Welt – das
ist Paulus innigster Wunsch für seine junge Gemeinde. Das höre
ich als Segenswort auch für uns heutige Christen/Christinnen.

Väterlich, mütterlich sorgt Paulus sich um die Menschen, die
einen neuen Weg beschreiten wollen und nach Orientierung suchen. Ihnen
legt er ans Herz, was nach seiner Überzeugung die Grundelemente eines
gelingenden christlichen Lebens sind – gerade auch in der Gemeinschaft
mit anderen:

(1) die Unordentlichen – auf sanfte, aber bestimmte Weise – zurechtzuweisen
„Zieh deine Jacke an, wenn es draußen kalt ist, damit du dich
nicht erkältest!“ Welcher Vater, welche Mutter kennt sie nicht
diese wohlmeinenden, hundertfach wiederholten Bitten und Ermahnungen.
Häufig in den Wind gesprochen liegen sie uns dennoch immer wieder
auf der Zunge. Welche bessere Alternative gäbe es auch? „Liebe
Mitarbeiterin, liebe Kollegin, ich sehe, wie viel gute Arbeit Sie vollbringen
mit großem Engagement und Begabung für die Sache, aber eines
würde ich Ihnen doch gern sagen …“ Kritik mit einem stimmigen
Kompliment versüßt, lässt sich leichter anhören.
So kann ich selbst eine Ermahnung auch besser ertragen und komme ins Gespräch
mit dem anderen. Wenn es doch immer so einfach wäre, Menschen, für
die wir uns verantwortlich fühlen, mit guten Ratschlägen auf
den richtigen Weg zu weisen.

(2) die Kleinmütigen trösten und aufrichten, ihren eingeschränkten
Blickwinkel erweitern, neue Perspektiven aufzeigen, ihr Selbstvertrauen
stärken, Lebensmut wecken, aber zuvor ihre Trauer auch ernst
nehmen und gelten lassen

(3) die Schwachen tragen; geduldig bleiben und ausgeglichen; das Böse
meiden (besonders, wenn man überzeugt ist, doch nur das „zurückzugeben“,
was man selbst erleiden musste); das Gute anstreben uvm.
Zu jedem humanitären Ratschlag, den Paulus erteilt, fielen uns jede
Menge Beispiele ein, positive wie negative.

Dann jedoch überhöht er seine Anforderungen; er zeichnet das
unerreichbare Idealbild eines Christen: jederzeit mit einem fröhlichen
Lächeln auf den Lippen; unbeschränkt belastungsfähig, weil
dauerhaft mit seinem persönlichen Seelsorger, sprich: GOTT, im Gespräch;
dankbar für alles und stets auf göttlicher Linie.

Der PERFEKTE CHRIST – und wo bleibt der Mensch? Das sündige, fehlerhafte,
irdische, niemals ganz „fertige“ Ebenbild Gottes? Wäre
solch ein perfektes, engelgleiches Hochglanz-Bild eines Menschen tatsächlich
erstrebenswert? Oder brauchen wir nicht auch unsere Schattenseiten, unsere
Leidenschaften, unseren brennenden Zorn über Ungerechtigkeiten, unsere
vorschnelle, zielstrebige Ungeduld, um etwas voranzubringen, unsere „niederen
Instinkte“ (wie z.B. Egoismus), um uns selbst zu schützen? Sind
wir nicht damit geschaffen, um damit etwas zu schaffen – in dieser Welt
und für sie?

Ganz klar, es hat schon seinen Sinn, dass wir so sind, wie wir sind,
– und uns gleichzeitig sagen lassen, wie es mit uns besser sein könnte!
Den Geist dämpfet nicht; prophetische Rede verachtet nicht! Kluge
Worte lehnt nicht ab.
Wo jemand mit Weitsicht das Bestehende oder
Künftige kritisch betrachtet, lasst euch auf seinen/ihren ungewohnten
Blick einfach mal ein! Lasst euch anstoßen, anregen, notfalls auch
aufregen! Lasst Phantasie, Intuition, Witziges und Irritierendes, Schmerzliches
und Ärgerliches, Freudiges und Fragliches an euch heran! Um es zu
prüfen – mit Herz und Verstand. Denn vielleicht lernen wir nur so,
gut zurechtzukommen mit anderen, wie mit uns selber.

Ausgeglichenheit, innere und äußere Zufriedenheit und Selbstbewusstsein
können somit in uns wachsen, eine innerliche Zerrissenheit wird verbunden
und ein beschädigter Kontakt nach außen hin kann heilen. „Dann
wächst tatsächlich zusammen, was um Gottes Willen zusammen gehört“.
Solange eine bunte Mischung von vielfältigen, unterschiedlichsten
Begabungen und Kräften, von menschlichen Stärken und Schwächen
toleriert wird, kann jede/r für sich in dieser Gemeinschaft einen
Platz finden. Dann kann und darf jede/r die persönlichen Mängel
und Ängste genauso ausleben wie seine/ihre originellen Talente, den
frechen Witz oder gewagten Übermut.

Was nicht bedeuten soll, dass wir uns mit offensichtlich schädlichen
Defiziten und belastenden Schwächen unkritisch abfinden sollten.
Aber vielleicht kann es gelingen im gegenseitigen Miteinander Fehler und
Problemseiten auszugleichen; ja durch das Hervorheben der positiven Seiten
eines Menschen ihn eher darin zu bestärken, ihm zu helfen, mit seinen
schwierigen Seiten besser fertig zu werden.

Warum nicht einmal die extrem pedantische, stets kritisierende Mitarbeiterin
für ihre sorgfältige, wohldurchdachte Arbeit loben und gleichzeitig
aufmerksam und freudig überrascht auf eine spontane, ungewohnt leichtfertige
(im Sinne von „leichten Herzens“) Reaktion von ihr achten? Warum
dem behäbig-brummigen, etwas trägen Nachbarn nicht einmal danken
für seine ruhige Geduld und sanfte Ausgeglichenheit? Warum nicht
einmal dem ständig nörgelnden, unzufriedenen Kritiker mitteilen,
was man aus seinen sehr direkten, offenen Worten gelernt hat? Warum nicht
einmal das, was uns an anderen persönlich stört, in einem ganz
anderen, positiven Licht sehen? Hat nicht alles (mindestens!) seine zwei
Seiten?

Seelsorgerlich redet PAULUS seine Mitchristen und Mitchristinnen an und
wirbt um gegenseitiges Verständnis. Vermutlich, weil ihm durchaus
bewusst war, dass er selbst wohl kaum dem Idealbild eines perfekten Christen
entsprach: So streitbar und zornig, ungerecht und bisweilen sehr hart
in seiner Kritik, oftmals traurig und enttäuscht, innerlich wie zerrissen
erscheint seine Welt, wenn man seine Brief liest. Aber er stand zu seinen
Empfindungen und beschönigte sie keinesfalls. Er brauchte seine Schwächen
nicht zu verbergen, denn er wusste und teilte es anderen mit, gelassen
und herausfordernd: Gottes Kraft ist gerade in den Schwachen mächtig!

Sicher, es bleibt andererseits auch unverzichtbar, sich zu profilieren,
um erkennbar zu sein; von sich ein klares, eindeutiges, möglichst
positives und persönliches Bild zu erarbeiten und zu präsentieren
als einzelne/r Christ/Christin ebenso wie als örtliche Gemeinde oder
als eine im größeren Verbund zusammenkommende Gemeinschaft.
Die bunte Mischung verschiedenster Menschen spricht dem nicht entgegen,
vielmehr erweist sich an ihrem Umgang miteinander und darin, welche „Spielregeln“
bei ihnen gelten, ob Gottes guter Geist in ihnen wohnt.

Ob eine Gemeinde zu einem Ort oder ein Mensch zu einem Stifter des Vertrauens
und des Friedens wird, hängt von der BASIS ab, worauf die Gemeinschaft
baut, bzw. der/die Einzelne sich grund-sätzlich verlässt. Die
BASIS ist unabhängig von den Menschen und will dennoch für uns
Geltung haben; sie will uns unterstützen, weiterhelfen, tragen. Sie
will uns ins Bewusstsein kommen über das Wort, die Predigt, über
Singen und Beten, über das Weitererzählen, Staunen oder über
die alltägliche Begegnung mit anderen Menschen.

Die BASIS all unseres Handelns und Redens ist der wiederkommende HERR!
Auf Jesus Christus ruht unser Glaube; ER ist unser Ziel und zugleich der
WEG, auf dem wir Gott finden. ER kommt uns entgegen und steht uns zur
Seite, wenn uns der Wind hart ins Gesicht bläst. ER ist das Brot,
von dem wir alltäglich leben. Von IHM werden wir gehalten und getragen,
sogar durch die Hölle schlimmster Erfahrungen. In IHM erweist sich
Gott als zuverlässig und treu. Beweisen kann man das nicht, aber
hören, sehen, als Geschenk eines Segens staunend an sich selbst erfahren.
Ich glaube, das ist HEILIGUNG, Heilwerden in und durch Gott.

Für unser alltägliches, oft zersplittertes, angestrengtes Leben
sind klare, eindeutige, prophetisch-mahnende Worte immer wieder nötig
und wichtig. Sie werden annehmbar, wenn wir die Liebe spüren, die
dahinter steht. Sie leuchten uns ein, wenn wir Gottes Willen zutrauen,
dass er uns inmitten aller Zerrissenheit und Unzufriedenheit wieder heil
und neu und ganz werden lässt. Sie werden für uns wahr, wenn
wir hoffen und glauben, dass Gott uns bewahrt vor Seinem Angesicht, so
wie ER uns geschaffen hat mit Leib und Seele und Geist.

Der Gott des Friedens heilige euch durch und durch
und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt,
untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus.

AMEN

Vorbemerkungen zur Predigt

Auf der Suche nach Einfällen und Ideen zum Predigttext:
Gerade die scheinbar einfachen, klaren Texte machen mir Mühe, sie
in Relation zu unseren heutigen Erfahrungen zu setzen. Dann trage ich
sie einige Zeit mit mir herum, bis plötzlich ein Vergleichspunkt
auftaucht: Appelle und Ermahnungen erfahren wir auch heute. Wie oft hinterlasse
ich unserer Tochter einen Zettel auf dem Mittagstisch mit diversen, wenn
auch freundlich verpackten Anweisungen und Mahnungen. Am Wochenende fährt
unser 14jähriger Sohn wieder ins Internat zurück; am Bahnsteig
die übliche Szene: „Hast du auch nichts vergessen? Iss dein
Brot im Zug, ich habe dir deine Lieblingswurst draufgelegt! Sieh zu, dass
du dich mit deinem Zimmernachbarn gut verträgst! Sei freundlich gegen
deine Lehrer! Melde dich, sobald du angekommen bist! …“ Und am
Ende, eine letzte Umarmung, ein Kuss – dann geht seine Reise los.
Trotz der etwas wehleidigen Erinnerung, gebe ich mich glücklich und
stolz meiner Idee hin – und fange an zu lesen, was anderen zu diesem Text
eingefallen ist. Ich entdecke, dass meine Erfahrungsgeschichten von anderen
längst viel besser beschrieben und in Ansprache umgesetzt wurden.
Was nun?
Ein neuer Ansatz: Rat-Schläge mag wohl niemand gern um die Ohren
bekommen. Viel besser sind sie anzunehmen, wenn sie geschickt verpackt
als „eigene“ Ideen begriffen werden. Wie z.B. in der Werbung?
Zu negativ besetzt! Als email – knapp und eilig wie aus dem Handgelenk
hingeworfen, dafür aber ungeschminkt authentisch, wie einem „der
Schnabel gewachsen“, bzw. die Einfälle in die Tastatur gefallen
sind?
Oder lieber noch einmal den Text ansehen… Die komprimiert-utopischen
Mahnungen leuchten selbstverständlich ein. Aber warum müssen
sie dann immer noch extra genannt werden? Was hindert uns sie wahrzunehmen?
Titel: „Der perfekte Christ“ – nur eine unerreichbare Idealfigur
von Mitmenschlichkeit und Nachfolge im Sinne Jesu Christi? Gottes Ebenbild
mit Schattenseiten.

Zeitgeschichtliches nebenher:
– Am 1. Sept. jährt sich zum 63. mal der Überfall des Dt. Reiches
auf Polen („seit 4.45 Uhr wird zurückgeschossen“ – die
erste lautstark über Volksempfänger verbreitete Propagandalüge
des „Führers“ und der Beginn eines furchtbaren Krieges)
Prüfet die Geister!
– In 10 Tagen, am 11. September, jährt sich zum ersten mal eine zuvor
nicht für möglich gehaltene Terroraktion, die die westliche
Welt in ihrer Selbstsicherheit zutiefst erschütterte. Kann der Predigttext
mit seinen konkreten Handlungsanweisungen hier eine neue Ausrichtung anbieten
und Sicherheit wecken im Vertrauen auf Gott?
– Der Umwelt-Gipfel in Johannesburg setzt sich diese Woche das Ziel eines
„verantwortbaren Wohlstandes für alle“. Die Mahnungen zu
einem gemeinsamen Schutz der Umwelt, zum dringend notwendigen Ausgleich
zwischen Arm und Reich ertönen laut. Doch die Gegensätze innerhalb
der Staatengemeinschaft haben sich – nach Auskunft des SPIEGELS – eher
verschärft. Den guten Ratschlägen müssen entsprechende
Taten folgen. Wie kann Kirche, Gemeinde und jeder einzelne Christ hierbei
helfen?
– Der politische Wahlkampf geht in seine Endphase. Was wird bleiben von
den vielen guten, auch ermahnenden Worten?

Ich muss mich entscheiden … mal sehen, was daraus wird.

 

 

Pastorin Karin Klement
Lange Straße 42
37077 Göttingen
email: karin.klement@evlka.de

 

 

 

 

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