1. Timotheus 3,16

1. Timotheus 3,16

 


Christnacht,
24. Dezember 2001
Predigt über 1. Timotheus 3,16, verfaßt von Hinrich Buß

Ein paar Hinweise vorweg
1. Die Predigt wird in der St. Jacobi-Kirche gehalten, in einer der zentralen
Kirchen der Innenstadt Göttingens. Es ist damit zu rechnen, daß
sie voll besetzt sein wird.
2. In dem Gottesdienst kurz vor Mitternacht wird die Kantorei singen.
Sie gibt der Christmette ihr starkes Gepräge. Daß es sich bei
dem Predigttext um ein Lied handelt, ein frühes urchristliches, wird
herausgestellt. Auch andere Liedtexte werden zitiert.
3. Das große Geheimnis, hier auf die Geburt Jesu zugespitzt, wird
in den Mittelpunkt gestellt. Daß es immer Rätsel aufgibt und
gerade darum seine große Wirkung tut, wird in verschiedenen Facetten
entfaltet.
4. Kernpunkt der Predigt ist die Menschwerdung Gottes und damit die Verbindung
des Gegensätzlichen, die nicht aufgehoben werden kann, die vielmehr
Gott angemessen ist und dem Menschen gerecht wird bzw. ihn gerecht macht.

Liebe Gemeinde in der Christnacht,

die meisten Geschenke sind ausgepackt. In größerer Ruhe als
sonst und mit Sorgfalt betrachtet, es ist ja Weihnachten. Da werden nicht
nur Gegenstände in die Hand genommen, sondern auch Gefühle ausgewickelt.
Da entdeckt man verborgene Botschaften und dezent versteckte Zuneigung.
Sie zu erspüren ist das besondere Erlebnis dieses Festes. Schon beim
Auspacken sind viele dem Geheimnis auf der Spur.

So kann jemand sagen: „Die Geschenke, die ich als Kind an Weihnachten
bekam, habe ich alle schon vergessen. Aber Jahr für Jahr stellt sich
für mich zur Weihnachtszeit ein besonderes, unverwechselbares Gefühl
ein; das verliere ich nie … die Weihnachtsgeschichten und -lieder tragen
mich jedes Jahr wieder in der Erfahrung des Besonderen.“

Das sind nicht meine Worte. Norbert Blüm hat sie zu Papier gebracht,
jener unverkennbare Mann, der viele Jahre Arbeitsminister war. Nicht von
Arbeit redet er an dieser Stelle, sondern von der Erfahrung des Besonderen.
Sie hängt an Geschenken und mehr noch an Geschichten und Liedern.
Ein Lied möchte ich heute vorstellen.
Es ist bereits früh entstanden. Im Urchristentum. Es ist beim Schreiben
in einen Brief eingeflossen und steht nun mitten zwischen alltäglichen
Dingen als eine Kostbarkeit. Zu finden im 1. Timotheusbrief 3, 16:

„Und groß ist, wie jedermann bekennen muß, das Geheimnis
des Glaubens:
Er – Christus – ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist,
erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden,
geglaubt in der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit.“

In denkbar knapper Form ist das Lied in Worte gekleidet. Wie ein fest
verschnürtes Paket, das Erwartung weckt beim Auspacken.

1.
Ein großes Ereignis ist bereits die Tatsache, daß es diesen
Jesus gegeben hat und gibt. Als Mega-Ereignis einzustufen. Was wie heutige
jugendliche Sprache klingt, ist dem griechischen Wortlaut entnommen: „Mega“
steht da und bedeutet „groß“. So kommen sie sich nahe,
unsere jungen Menschen und die damalige junge Kirche. Es ist die Faszination
des Geheimnisses, welches wirkt.

Ein Mega-Ereignis, wie jeder bestätigen muß, sagt der Schreiber
des Timotheusbriefes. Und tatsächlich, die Geburt Jesu hat nichts
von der Faszination eingebüßt. Selbst das „Stille Nacht,
heilige Nacht“, am hellichten Tage von einem Karussell gedudelt,
kann Weihnachten nicht zerstören. Es dreht sich buchstäblich
um das Geheimnis und zehrt von ihm.

Bis in unsere Tage setzt dies Fest immer neue Ideen aus sich heraus.
Mein Vater hatte sich zur Gewohnheit gemacht, den Kühen am Heiligabend
eine Getreidegarbe extra zu geben, noch jenseits von Tiermehl und BSE.
Die Tiere sollten teilhaben an der Besonderheit dieser Nacht. „Freu
dich Erd und Sternenzelt, Gottes Sohn kam in die Welt..“ Dies ist
heute, schon wegen der fließbandmäßig ablaufenden Fütterung,
kaum noch möglich.

Aber es gibt neue Einfälle, die Geburt des Gottessohnes selbst unter
Bedingungen hoch technischer Produktion zu begehen. Das VW-Werk in Wolfsburg
hat seine vier Schornsteine, Symbol der Stadt, kurzerhand in Adventskerzen
verwandelt. Es hat ihnen neue Lichter aufgesetzt. Pünktlich zum 1.
Advent wurden in diesem Jahr erstmalig per Hubschrauber hohe Leuchtkörper,
die wie brennende Dochte aussehen, auf die Schornsteine montiert. Sie
ragen nun über 140 m in den Himmel, ganz an ihn heran reichen sie
nicht. Sie sind aber im Umland von weitem zu erkennen. „Licht des
Winters“ ist das Event in und um die Autostadt benannt. Das klingt
säkular oder gar vorchristlich-germanisch. Doch die roten Schornsteine
mit den leuchtenden Dochten sind so klar als Adventskerzen zu identifizieren,
daß kein Zweifel besteht, was sie darstellen: Christus, Licht der
Welt. Das Geheimnis ist groß, selbst für VW.

2.
Was aber macht das Geheimnis aus? Es wird in drei Gegensatzpaaren entfaltet:
Fleisch und Geist; Engel und Heiden; irdische Welt und himmlische Herrlichkeit.
Da ist Elend und Glanz versammelt; die schmutzige Tat und der Edelmut;
das Niedrige und das Erhabene. Wie soll es zusammengehen? Genau dies ist
Gottes Geheimnis, die strahlende Kraft seiner Menschwerdung. Mega verstehen
wir gern als immer höher, schneller, besser. „Optimieren“
heißt das oft gebrauchte Modewort, was wörtlich übersetzt
keineswegs „verbessern“ heißt, sondern „verbesten“.
Wer immer nur steigern will, muß aufpassen, daß er nicht Welt
und Mensch verpestet. Wer das Leben ins Unendliche verlängern will,
muß gewärtigen, daß es ausgeleiert wird wie ein altes
Gummiband.

Die Geburt Jesu zeigt einen anderen Weg. Das Große verbindet sich
mit dem Kleinen, das Erhabene gewinnt die Gestalt der Liebe. Gott steigt
herunter von seinem Thron und entäußert sich. Man könnte
meinen, damit verlöre er sein Gottsein. Er wäre nicht mehr er
selbst. Das ist allzu menschlich gedacht.

Jeder und jede von uns hat das Bestreben, zu sich selbst zu kommen, morgens
schon und abends erst recht und am besten jeden Tag wieder. Wann aber
sind wir endlich bei uns angekommen und bei Trost? Wenn er oder sie entdeckt,
daß der Weg zu sich selbst nur über andere führt. Ohne
mein alter Ego bin ich ein armer Egoist.

Es wird nie so spürbar wie Weihnachten, wenn ich mich beschenkt
fühle und glücklich bin oder eben die Liebe eines Menschen empfindlich
vermisse.

Warum ist dies Gefühl gerade zu Weihnachten derart ausgeprägt?
Weil Gott mit seinem Beispiel vorangeht. Weil er in die Geburt Jesu seine
göttliche Zuneigung legt. Wo denn bliebe er in der himmlischen Erhabenheit
mit seiner Liebe? Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Nie ist Gott so sehr
er selbst, nie ist er mehr Gott, als in dem Moment, in dem er in der Krippe
liegt. In der Tat: Das Geheimnis ist groß. Alle Jahre wieder muß
man sich ihm neu stellen, um auch nur ein Fitzelchen davon zu begreifen.
Das Große im Kleinen, im Kind der Erhabene, im Ohnmächtigen
der Allmächtige. „Gott ist im Fleische, wer will dies Geheimnis
verstehen?“

3.
Glücklicherweise wird durch Weihnachten der Mensch nicht vergottet
– das wäre nicht auszuhalten, Paschas gibt es schon zu viele! Durch
die Geburt Jesu wird Gott nicht zu einem beliebigen Menschen und damit
eine weitere armselige Kreatur, auch davon gibt es schon mehr als genug.
Die Verbindung des Gegensätzlichen ist es, die etwas aufblitzen läßt.
Die Berührung des Göttlichen ist es, die uns anrührt und
uns menschlich macht.

Es ist erstaunlich, wie sehr Krippen Menschen von heute faszinieren.
Kinder drücken sich die Nase platt, wenn sie eine im Schaufenster
entdecken. Durch die Johanniskirche gehen alle Jahre wieder Scharen von
Jung und Alt und sehen sich die ausgestellten Göttinger Krippen an,
hingerissen von der kunst- und liebevollen Gestaltung von Rind und Esel,
Maria und Joseph, Hirten und Weisen und natürlich vom Jesuskind.
Gerade wenn die Figuren scharf geschnitten sind, kommt um so stärker
die tiefe Zuneigung zum Zuge.

„Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen;
und weil ich nun nicht weiter kann, bleib ich anbetend stehen.
O daß mein Sinn ein Abgrund wär, und meine Seel ein weites
Meer,
daß ich dich könne fassen!“

Am 6. Dezember habe ich eine besondere Erfahrung gemacht. Ich hatte die
Aufgabe, in Nikolausberg, einem dörflichen Ortsteil Göttingens,
eine Kinderbischöfin im Alter von 9 Jahren einzuführen und so
das Team der Drei wieder zu komplettieren. Sie haben die Aufgabe, für
Belange der Kinder einzutreten und auch Erwachsene dafür zu gewinnen.
Ein Mann war ihnen besonders aufgefallen durch sein kinderfreundliches
Verhalten, dafür wurde er in diesem Gottesdienst ausgezeichnet. Ein
Kind hielt die Laudatio. Auf den Erwachsenen. Mit treffenden und gerade
darum anrührenden Worten. Der mit Lob Überhäufte war sichtlich
erfreut. Und sprach es aus: Danke, danke, lieber Kinderbischof.

Da waren die Rollen vertauscht. Der Weihnachtszeit angemessen. Natürlich
spielt ein Kinderbischof auch wieder im Matsch oder macht sich sonst die
Hände dreckig. Steht das seiner Aufgabe entgegen? Gewiß nicht.
Das göttliche Geheimnis ist groß und Weihnachten darum unverwüstlich.
Es macht menschenfreundlich und gottselig.

Amen

 

Dr. Hinrich Buß
Landessuperintendent für den Sprengel Göttingen
E-Mail: lasup.goettingen@evlka.de

 

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