1. Weihnachtstag, 25.12.2009

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1. Weihnachtstag, 25.12.2009

Predigt zu Johannes 1:1-14 | verfasst von Margrethe Dahlerup Koch |

 

Man hat es zu Reklamzwecken für alles Mögliche gebraucht, von Jeans bis hin zu Handys: Michelangelos Freskogemälde von der Erschaffnung Adams in der Sixtinischen Kapelle in Rom. Rechts im Bild, umgeben von einer mannigfaltigen himmlischen Heerschar von Engeln und mit imposantem, wallendem, langem und gepflegtem, weißem Haupthaar und Bart, schwebt Gott, der Allmächtige, Schöpfer des Himmels und der Erde. Er hat seine rechte Hand ausgestreckt. Links im Bild liegt der durchtränierte und muskulöse Adam, elegant hingegossen auf einer grünen Böschung. Adam hat fast ein bisschen träge seine linke Hand ausgestreckt. Und in der Mitte des Gemäldes ist der Punkt, an dem sie sich gerade nicht berühren. Gottes langer, befehlender Zeigefinger und Adams leicht gekrümmter berühren sich eben nicht. Der leere Raum zwischen den beiden Fingern schafft die Dramatik des Bildes. Haben sie sich in der Sekunde davor, im Augenblick der Schöpfung berührt? Handelt es sich um ein Bild der Loslösung Adams von seinem göttlichen Ursprung? Um ein Bild der Größe und Gottesebenbildlichkeit des Menschen?

Oder versuchen Adam und Gott, jetzt vergeblich, einander wieder zu erreichen? Handelt es sich um ein Bild der Sehnsucht Gottes und der Menschen nacheinander? Ist der leere Raum zwischen den beiden Fingern Ausdruck dafür, dass die beiden immer weiter auseinander gleiten? Jedenfalls deutet das wallende Haar Gottes darauf hin, dass die Bewegung im Bild die beiden voneinander wegtreibt. Gott ist mit den Engeln auf dem Weg nach rechts hinaus aus dem Bild. Der Abstand zwischen beiden wird sich vergrößern.

In dem leeren Raum – in dem Abstand zwischen Gott und Adam – beginnt Johannes sein Evangelium. Was ist dort, wo nichts ist? Oder, um im Bild Michelangelos zu bleiben, was befindet sich zwischen Gott und Adam?

Es ist das WORT, damals als er alle Dinge aus dem Nichts heraus schuf: Licht, Himmel, Meer, Sonne, Mond, Tiere und Menschen.

Und, so fährt Johannes fort, das Wort wurde Fleisch. Das Vakuum wurde ausgefüllt. Im Abstand zwischen dem allmächtigen Gott und Adam und seinen Nachkommen erschien in der Heiligen Nacht ein Kind. Ein Kind, das von Gott war, und das von einer Frau geboren war.

Das Wort, der Sinn, aller Dinge Grundlage, der Anfang selbst war das Kind. Das, was ganz am Anfang unsichtbar gegenwärtig war in dem leeren Raum zwischen Gott und Adam, wurde in der Heiligen Nacht sichtbar, als Maria ihr Kind gebar. Das, was Gott Adam wollte und mit Adam wollte, das brachte Jesus zum Ausdruck und war es und tat es.

Das Wort, der Sinn, die Grundlage aller Dinge, der Anfang selbst ist nichts anderes als das Kind.

„So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer“, steht im 1. Buch Mose, nachdem die 6 Schöpfungstage beschrieben sind. „Nein, stop!“, sagt Johannes knapp 600 Jahre später, „das stimmt nicht. Die Schöpfung wurde nicht in 6 Tagen vollendet. Das Wichtigste fehlt: Weihnachten: dass das Wort Fleisch wurde und unter uns Wohnung nahm und wir seine Herrlichkeit sahen.

Ostern: dass die Finsternis es nicht begriffen hat – ihn nicht begriff.

Pfingsten: dass wir das Recht erhielten, Kinder Gottes zu sein, weil wir von Gott gewollt sind.

Erst dann ist die Schöpfung vollendet, sagt Johannes. Denn erst dann können wir sehen und hören, erfahren, glauben und hoffen, dass in dem leeren Raum – im Abstand zwischen Gott und Mensch – nicht Nichts ist, sondern alles: Neue Möglichkeit, neuer Anfang, Leben und Licht.

Im Abstand zwischen Gott und Mensch ist nicht Leere. Da ist vielmehr neue Möglichkeit, neuer Anfang, Leben und Licht. Denn da ist der Wille Gottes, seinen Menschen zu erreichen.

Als das Glaubensbekenntnis vorhin lautete, war es nicht das gewöhnliche apostolische Glaubensbekenntnis, sondern aus Anlass des heutigen Tages das Nicänische Glaubensbekenntnis,  benannt nach der Stadt Nicäa, wo es im Laufe des 4. Jahrhunderts entstanden ist. Die Sprache des nicänischen Glaubensbekenntnisses erinnert an die Sprache des Johannesevangeliums. In dem Abschnitt des Glaubensbekenntnisses, der davon handelt, wer Jesus ist, befinden wir uns, wie im Johannesevangelium, ganz am Anfang, vor aller Zeit. Da, ganz am Anfang ist er, der von Gott ist, vom Licht selbst. Aber dann ereignet sich etwas – dort oben und draußen in der Unbegreiflichkeit der Ewigkeit. Und wie Bilder einen Mittelpunkt haben, der in der Regel das Wichtigste und Dramatische ausdrückt, so ist es auch in dem nicänischen Glaubensbekenntnis. In der Mitte geschieht das Entscheidende: Er, der unbegreiflich und vor aller Zeit Gott von Gott, Licht vom Licht ist, kam vom Himmel herab und wurde Mensch. Diese Worte sind der Mittelpunkt des Glaubensbekenntnisses. Sie entsprechen dem Mittelpunkt bei Michelangelo mit dem leeren Raum zwischen den zwei Fingern. Hier geschieht es.

„Er stieg herab und wurde Fleisch; wurde Mensch.“ Das ist Weihnachten. Dass Gott seinem Willen, seinen Menschen zu erreichen, Handlung folgen ließ.

Wenn es hinter uns versandet; wenn Nebel uns den Blick nach vorn verstellt; wenn wir festgefahren und von dem gefangen sind, was wir bereut haben, was wir nicht erreicht haben, was wir niemals hätten tun sollen, was in unseren fummelnden und zerstörenden Händen zerfallen ist, dann sitzt da ein Engel in einem leeren Grab und sagt: Steh auf, erhebe dich. Zu neuer Möglichkeit und neuem Anfang.

So ist es, denn so ist Gott. Gott will seinen Menschen. Immer. Gottes Willen, seinen Menschen zu erreichen, diesem Willen gab Jesus Geschichte, Fleisch und Blut. Wie Jesus Gleichgültigkeit, Selbstzufriedenheit und Machtgier verurteilte,

wie Jesus Hoffnung für die Verzagten war, dem Verzweifelten treu war, Licht war für diejenigen, die in der Finsternis saßen,

wie Jesus so weit ging, wie niemand sonst es wagte, wollte, ihm folgen mochte – so ist er und so ist Gott.

Heilig Abend kam Gott in die Welt als ein Menschenkind. Michelangelos Muskelmann von einem Gott zeigte sein innerstes Wesen und Willen in einem kleinen, barhäuptigen, runzligen Neugeborenen. Brorson kann in seinem Lied „Mein Herze immer wandelt“ nicht genug davon dichten, über das Phantastische und Wunderbare, dass der Allergrößte und Erste im Kleinsten und Erbärmlichsten und Ärmsten zu finden sein soll. Brorson fragt immer wieder Vers auf Vers, wie das miteinander vereinbar ist. Und dann gelangt er ganz am Ende zu der Antwort: Ja, Gott muss zeigen, wer er ist, im Kleinsten und Ärmsten, um überhaupt bei uns und in uns sein zu können. Weil Gott sich im Kleinsten und Ärmsten sichtbar machte in der Weihnacht, kann das Menschenherz, das kleine Herz das Größte in sich fassen. In Jesus „wird die Liebe hüllen / dich treu in ihr Gewand“, singen wir im letzten Vers des Liedes. In dem Lied wird unser Herz in die Tücher verwandelt, in die Maria in der Heiligen Nacht ihr Kind wickelt. Denn er stieg vom Himmel herab und wurde Fleisch.

Auf dem goldenen Altar der Kirche von Stadil nicht weit von hier (nördlich vom Ringköbing Fjord) hängt ein Weihnachtsbild. Wie bei Michelangelo ist es ein Bild von Gott und Mensch. Aber in Stadil ist Gott nicht der allmächtige Gott mit wallendem, prächtigem Haar und der Unterstützung durch Engel. Und der Mensch ist nicht der starke, gut gebaute Adam. Auf dem Stadiler Altar ist Gott ein kleines, lächelndes Kind. Und der Mensch ist Maria, die müde und stolze, neugebackene Mutter.

Mitten im Bild, dort wo sich das Wichtigste ereignet, sind die Hände. Marias Hände und die des Kindes. Und sie können einander erreichen. Maria greift mit ihrer linken um seine rechte Hand, deren Finger ausgestreckt sind. Aber das Kind zeigt nicht auf den befehlenden Zeigefinger Gottes des Vaters. Jesus zeigt auf Maria mit drei Fingern – dem Zeichen des Segens. So anmutig hat ein Künstler am Anfang des 13. Jahrhunderts die Weihnachtsbotschaft, die neue Schöpfung und den neuen Anfang verkündet: den Himmel, der der Erde begegnet. Der Mensch, der die Hand ergreift, die segnet. Der Kleinste, der das Größte ausdrückt: Dass Gott seine Hand ausgestreckt und uns erreicht hat. Von neuem.

Amen

 

Pastorin Margrethe Dahlerup Koch
Tim (Dänemark)
E-Mail: mdk@km.dk
Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier
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