Heiliges Christfest – 2. Weihnachtstag, 26.12.2008

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Heiliges Christfest – 2. Weihnachtstag, 26.12.2008

Predigt zu Johannes 1:1-14 | verfasst von Andreas Kern |

Ich will ihnen eine Geschichte erzählen, die eigentlich erst nach Weihnachten spielt. Wenn also das Fest vorüber ist, die Gäste abgereist, die Kekse fast alle aufgegessen, die Geschenke schon in Gebrauch genommen, und der Weihnachtsbaum einen Teppich von Nadeln unter sich ausgerollt hat.

Wenn wir also anfangen, alles wieder einzupacken, was an Weihnachten die Wohnung geschmückt und unsere Stimmung befördert hat.

Vor ein paar Jahren – es war gerade diese Januar-Zeit – war ich beim Einpacken der Weihnachtskrippe mit den Hirten, den Schafen und den Engel-Figuren. Ich nahm jeden Engel in die Hand, suchte ein Stück weiches Papier – das meiste davon schon seit vielen Jahren in Gebrauch – und wickelte sie vorsichtig ein. Dann legte ich sie in die Schachtel, die wir dafür seit Jahren benutzen, und in der sie dann in den Keller gebracht werden.

Ich weiß auch nicht mehr, warum ich das tat, aber einen Engel behielt ich in der Hand. Ich sagte mir: einen Engel packe ich nicht ein, den behalte ich das Jahr über bei mir. Ein wenig von der Weihnachts-Freude wollte ich verlängern, vielleicht mitnehmen für das ganze Jahr. Solch ein kleiner Engel, der hat gerade noch Platz auf meinem Tisch, der darf mir bei der Arbeit helfen. Der soll dabeisein, wenn ich denke, wenn ich meine Phansasie bemühe, wenn ich Freude und Ärger empfinde, wenn ich an die Menschen denke, die mir nah oder fern sind. Und so stellte ich ihn neben dem Computer-Bildschirm, damit ich ihn ein wenig im Blick hatte – und er mich.

Eine gute Woche später wollte ich eine Predigt entwerfen, was aus irgendwelchen Gründen nicht wirklich gelang, und erlebte eine Überraschung: als mein Unmut über die vielen unerledigten Vorgänge auf meinem Tisch sich in Ärger zu steigern begann, hörte ich plötzlich eine Stimme: „Wirf rein!“

Ich guckte mich um. Ich war allein – also jedenfalls war kein Mensch in meiner Nähe. Der Computer war zwar angeschaltet, aber die Lautsprecher waren aus, daher konnte diese Anrede also nicht kommen: „Wirf rein!“ Mein Blick fiel auf den Engel. Der sah mich freundlich an und wiederholte seine Aufforderung noch einmal: „Hier, wirf rein!“ – und hielt mir einen kleinen Mülleimer entgegen.

„He, du bist doch eine Holz-Figur,“ sagte ich, „du kannst doch gar nicht reden!“ „Klar kann ich reden,“ sagte der Engel. „Weil du mich nicht einfach vergessen hast beim Einpacken, sondern mich wegen der Weihnachtsfreude mit Absicht bei dir behalten hast, statt mich mit den anderen in den Keller zu tragen: deswegen kann ich reden! Also: wirf rein!“

Ich war so verblüfft und gleichzeitig hingerissen – mein Unmut war klitzeklein geworden und passte in den Mülleimer, den der Engel in seinen beiden ausgestreckten Händen hielt.

„Danke!“ sagte er und verstummte. Und ich guckte ihn ein wenig verdutzt an, denn nun sah er wieder so unbeweglich aus wie vor dieser eigenartigen Begegnung. Aber ich konnte arbeiten, an diesem Tag und dem nächsten. Tatsächlich wehte ein wenig Freude vom Weihnachtsfest zu mir herüber.

Am übernächsten Tag setzten wir unsere Unterhaltung fort. Wieder war er es, der mich ansprach, und wieder mit den Worten: „Wirf rein!“ Ich hatte mich richtig geärgert, hatte etwas nicht hinbekommen, das sonst immer schnell und leicht von der Hand ging, und da war der Engel plötzlich wieder dazwischengefahren mit seiner Aufforderung. Das hatte geholfen, ich wurde etwas los und bekam etwas dafür. Ob es Weihnachtsfreude war, ich weiß es nicht. Aber ein wenig bessere Laune – das ist ja auch schon was.

Und so ging es weiter, wochen-, ja: monate-lang. Immer wenn ich irgendeinen Frust oder Ärger, eine Enttäuschung, eine Bitterkeit, einen Zweifel spürte, also irgendeinen Seelen-Müll mit mir herumtrug, war er im Einsatz. „Wirf rein!“ – so begann regelmäßig sein Auftritt. Und schon streckte er mir seinen Mülleimer entgegen. Ich hatte zuerst gedacht, es sei ein Kerzenhalter, aber da hatte ich mich geirrt. Der Mülleimer war nicht wirklich groß, aber es passte alles immer rein, was ich loswerden musste. Ich warf im Laufe der Zeit viel Ärger da hinein – und weg war er. Manchmal war es ein kleiner Ärger, aber es war auch großer Ärger dabei, manch große Not oder großer Schmerz.

Irgendwann hatte er gesagt: „Ich heiße übrigens Heinrich.“ Er hatte mir auch noch ein bisschen mehr erzählt, manches von sich aus, manches, nach dem ich ihn gefragt hatte. Es war schon eine merkwürdige Bekanntschaft!

Nach ein paar Monaten begann ich mich über ein Detail zu wundern, nach dem ich ihn fragen musste. Als er also ein paar Tage später wieder einmal sein „Wirf rein!“ sprach – ich war kurz aufgebraust nach einer eMail, die ich erhalten hatte -, folgte ich sofort seiner Aufforderung und fragte dann neugierig: „Heinrich, wieso ist der Mülleimer eigentlich noch nicht voll? Was ich da alles schon reingeschmissen habe – und nichts davon ist gestapelt, drückt sich irgendwo rum: der Mülleimer bleibt leer. Wie machst du das? Wo bringst du das alles hin?“

„Ach, das ist ganz einfach,“ antwortete er ganz unbefangen: „Du weißt ja, ich gehöre zu der Krippe, die du Weihnachten aufstellst. Die Krippe ist ganz klein, und darin liegt ein Kind, das ist noch kleiner. Das Kind nimmt den ganzen Müll, den ich sammle. Es nimmt sich den Müll zu Herzen. Es nimmt all deinen Seelen-Müll in seinem Herzen auf.“

Welch beschämende und doch gleichzeitig bewundernswerte Lösung! Und ich als Pastor muss sogar zugeben, dass das theologisch überaus schlüssig erklärt ist: der Seelenmüll, den ich produziere, den nimmt das menschgewordene Gotteskind mir ab – da hätte ich doch fast selbst drauf kommen können! Gott legt sich als Mensch in die Krippe, um mir nah zu sein, er lässt sich auf mein Mensch-Sein ein, er trägt meinen Müll, meinen Ärger, meinen Frust – und schließlich sogar meine Verfehlungen, meine Schuld.

Deswegen konnte Johannes schreiben: „Das Wort wurde Fleisch, nämlich: Körper, Mensch, Leben – und es wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.“ So, und nur so, durchbricht Gott meine, unsere menschlichen Dunkelheiten – indem er selbst Mensch wird. So, und nur so, trägt er uns wirklich – mitsamt all unseren Fehlern, all unseren Sorgen, Nöten, unseren Schmerzen, unserem Leiden, unserer Verzweiflung.

Heinrich mit seinem Mülleimer hat mir wieder einmal gezeigt, wie das funktioniert. Eigentlich kaum zu glauben, dass solche komplizierten Dinge manchmal so einfach zu erfahren sind; dass sich die Herrlichkeit Gottes nicht im Goldglanz zeigt oder im gleißenden Lichtschein, sondern – wie bei Heinrich – im Grunde sogar im Mülleimer gefunden werden kann. Großartig, unser Gott!

Als ich darüber nachgedacht hatte, wollte ich das mit Heinrich besprechen. Aber er legte den Finger auf den Mund: „Psst! Nicht reden! Freuen!“

Also: behalten Sie doch mal einen Engel zurück wegen der Weihnachtsfreude, die den kleinen und großen Ärger und Schmerz des Lebens in sich aufnimmt und verbirgt. Und dann spitzen Sie die Ohren! Hören Sie es? „Wirf rein!“

Unter Aufnahme einer Geschichte von Dietrich Mendt, „Der Nachweihnachtsengel“, in: Hildegard Toma (Hrsg), Engel-Weihnacht, Münster 2008

 

Pastor Andreas Kern
Buchholz i. d. Nordheide

E-Mail: akern@ikern.de


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