2. Kor 5,1-10 | November-Blues

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2. Kor 5,1-10 | November-Blues

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres | 14.11.2021 | Predigt zu 2. Kor 5, 1-10 | verfasst von Ralf Reuter |

Es ist November und der Regen kriecht durch die Kleider auf die Haut. Ich geh alleine auf den Wegen die mir vom Sommer her vertraut. Wem wohl die kalten Tage nützen? Was gestern lebte ist heut taub. Und in den schmutzig grauen Pfützen ertrinkt der Bäume welkes Laub. …An ein paar Zweigen hängen Blätter, die heute Nacht der Wind vergaß. Den Pavillon versperren Bretter, wo manches Liebespärchen saß (Chanson von Alexandra).

November-Blues, er ist auch in diesem Jahr wieder da, spätestens nach der Zeitumstellung und den ersten nassgrauen Tagen, den kahlen Bäumen und dem früheren Dunkelwerden. Da kommt eine ganz eigene Stimmung auf und nimmt uns mit. Splitter von Herbstgedichten fallen mir ein: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr (Rainer Maria Rilke), oder: Die große Fracht des Sommers ist verladen (Ingeborg Bachmann). Als Gottesdienstgemeinde wandern wir in dieser letzten Woche des Kirchenjahres über Volkstrauertag und Buß- und Bettag zum Totensonntag.

Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel (Paulus, Vers 1). So beginnt der heutige Bibeltext und zielt damit mitten in den November, ins Erleben von Vergänglichkeit. Und gleichzeitig ist etwas Bleibendes herauszuhören, ein ewiges Haus, als Hoffnung schon hier und jetzt. In diesen Tagen ist Margret Friedländer 100 Jahre geworden. Es darf nie wieder geschehen, ihre unermüdliche Botschaft, mit 100 Freunden hat die Holocaust-Überlebende in Berlin gefeiert. In ihren letzten beiden Jahrzehnten ist sie regelmäßig in Schulen gegangen und hat mit den Kindern und Jugendlichen diskutiert, hat ihre Geschichte und ihre Botschaft erzählt.

November-Blues, die Schwere des Lebens zulassen, die Geschichten anhören, die Menschen angetan wurden, den Tod ins Leben holen. Vom Seufzen zum Sehnen kommen (Vers 2), nicht nackt da zu stehen (Vers 3). Eben kein entblätterter Baum zu sein, kein Mensch ohne himmlisches Haus, bei aller Krankheit, Gewalt, Obdachlosigkeit und Abbruch von Lebenstagen. Gelingt uns heute diese Wanderschaft von der Traurigkeit zur Hoffnung, als innerer Vorgang des Herzens? Und dann auch die Transformation von Kriegs- und Gewalterfahrungen zum Friedenssonntag, vom Toten- zum Ewigkeitssonntag? Wird das Beten wieder neu einziehen in unser Leben?

Zurzeit besuche ich jeden Tag einen lieben Menschen, der sterben wird. Bin oft nur kurz bei ihm, spreche ein Gebet, einen Segen. Und gehe wieder, selber reich beschenkt. Die Abschiede überkleiden, mit Worten des Glaubens, Menschen umhüllen, behüten, mit Hoffnung ihre Blöße, ihr Davonmüssen bedecken. Konfirmanden, die davon hören, beginnen automatisch von ihren Großeltern zu erzählen, von der Uroma, von Abschieden. Von den letzten Diensten, den Besuchen, die sie gemacht haben. Mit leuchtenden Augen. Immer sorgen wir doch für andere, schon kleine Kinder benötigen ein Umhüllen und das Auflegen der Hand am Krankenbett, sie zehren wie Menschen in der Krise und in den Widerfahrnissen des Alltags von unserer zupackenden Liebe.

Es braucht wohl den November-Blues, diese entschleunigte Tiefenschärfe, um existentielle Augenblicke mit Menschen zu erleben, in denen schon die Ewigkeit aufleuchtet. Es ist wie in den Bildern von Impressionisten, wo aus den vielen Farbtupfern Bilder entstehen. Wo plötzlich Zukunft erscheint, die eigentlich gar nicht sichtbar ist. Wo mitten im November schon die Sonne aufstrahlt uns wärmend umfasst. Wo der schwindenden Zeit so viel Fülle abgetrotzt wird wie möglich. Wo Bilder des Himmels die Abbrüche ersetzen, kompensieren, auffüllen, und dadurch der Lähmung, der Resignation, der Sinnlosigkeit, entziehen.

In der Bibel finden sich viele Bilder dieser Verwandlung. Vom Haus ist da die Rede, das abgebrochen wird, und dann vom ewigen Haus, das Gott uns bereitet. Noch näher, enger ist das Bild vom Kleid, das Nacktwerden verhindert, damit das Sterbliche verschlungen werde vom Leben (Vers 4). Und dann, ganz direkt, der Leib, der stirbt, und erwacht, auferweckt als geistlicher Leib (so Paulus in 1.Kor 15, 44). Hier wird mitten im Abbruch, in der Unzulänglichkeit, das Bleibende gesehen und als ein Neuwerden umschrieben.

Bilder der Hoffnung sind es, bei näherem Hinsehen beginnen sie zu verschwimmen wie alle Vorstellungen von Zukunft. Doch es bleibt von ihnen etwas hängen, ein Unterpfand der Ewigkeit (Vers 5), ein Angeld auf den Geist, ein Moment von Ewigkeit mitten im Alltag. Ich glaube ganz fest daran: Erst diese Momente des Geistes, ganz gleich, ob sie intellektuell, künstlerisch oder spirituell erfahren werden, ermöglichen das Zulassen des November-Blues, dieser inneren Melodie, die das Hier und das Einst erfassen kann, und die im direkten Kontakt Zeit und darin zugleich Ewigkeit zuspielt.

Ein Autor unserer Zeit hat eine Biographie des Heiligen Geistes geschrieben (Jörg Lauster). Im Rauschen der Welt vernimmt er die Gegenwart des göttlichen Geistes. So stelle ich mir den Absender dieser Lebensmelodie vor. In unserer Geschichte hier auf Erden, und zugleich in uns Menschen, spielt Gott seine Melodie. Es ist wichtig, ihr zu lauschen, wie wir Menschen zuhören, die uns Schweres erzählen und sagen, dies möchte nie mehr einem Menschen zustoßen. Wie wir uns Kinderworten zuwenden, wie wir das Atmen von Sterbenden vernehmen. Im Zuhören entstehen Bilder von Zukunft, von gelingendem Leben.

Daher hängt der November voller Regen, ein Segen für die Schöpfung, und zugleich voll von Hoffnung und Aufbruch, steckt darin eine Lebenskraft für uns. Mit Christus bricht die neue Weltzeit schon an und überlagert die alte, vergängliche Welt. Die Welt, die wir so innig lieben, an der wir hängen, für die wir uns einsetzen. Wo wir hoffentlich unsere Ehre dareinsetzen, damit wir Gott wohlgefallen (Vers 9) und vor dem Richterstuhl Christi bestehen (Vers 10). Gut, dass es diese Lebensmelodie des Geistes gibt, die uns darin anleitet und führt.

In den Erzählungen vom Holocaust, in der jüngeren Geschichte, den Toten der Kriege, im Elend der Gegenwart, ist es sehr tröstlich, von diesem Richterstuhl zu hören. So ist eben nicht alles erlaubt. Es gibt Grenzen, das Böse soll nicht sein, es ist Rechenschaft abzulegen über das Tun und Unterlassen. Menschen kommt die Würde Gottes zu, die ihnen auch im Abbruch ihres Hauses ein Dach über dem Kopf ermöglicht, in ihrer Bedürftigkeit neu einkleidet, ihren Leib als Gefäß Gottes achtet und schützt. Dies ist die Haltung, die es wieder und wieder einzuüben gilt, in der Familie, in der Gesellschaft, in der Kirche, auf der Erde. Ich bin gewiss: So führt uns Gott in die Zukunft.

Und am Ende der Zeit, wo Menschen nichts mehr selber können, da gilt es, sie als Geliebte und Heilige zu bewahren. Wo und wie immer das auch sein mag, welche Umstände es gibt, im Kreis der Familie, im Hospiz oder an anderen Orten, sind sie gut zu versorgen und zu pflegen, und immer ist auch an ihrem Bett zu beten und zu segnen. Dann ist schon die Ewigkeit angebrochen, erscheint das Licht der Auferstehung und leuchtet ihnen den letzten Weg auf Erden aus. So erkennen wir ganz lebensnah, dass wir selber einst davonmüssen, und spüren etwas vom Himmel Gottes, schon jetzt, und als Ziel allen Lebens.

November-Blues, liebe Gemeinde, lasst uns singen, unsere Lieder spielen von der Hoffnung, vom Glauben und der Liebe, ob wir daheim sind oder in der Fremde (Vers 9), oder in welchen Bildern wir uns gerade wiederfinden. Der Geist Gottes ist es, der diese Lebensmelodie erweckt, er führt uns in diesen Zeiten durch alle Bitterkeit und Trübnis, dass wir zuversichtlicher werden, sogar heiter, ja fröhlich. Er sendet uns neu in den Tag.  Ob wir alt sind oder jung, wir sind schon jetzt mitgenommen in die Zukunft Gottes.

Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit (Ingeborg Bachmann). So können wir auch unruhig wandern, wenn die Blätter treiben, ja, wir dürfen das. Und wo sie fallen, fallen wie von weit, da ist doch Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält (Rainer Maria Rilke). Es ist November und der Regen kriecht durch die Kleider auf die Haut. Wem wohl die kalten Tage nützen? Was gestern lebte ist heut taub…. Doch aus Verzweiflung wächst das Hoffen, das uns die Kraft zum Atmen schenkt (Alexandra). November-Blues.

Pastor Ralf Reuter

Göttingen

E-Mail: Ralf.Reuter@evlka.de

Ralf Reuter, Pastor der Friedenskirche Göttingen, und zugleich Pastor für Führungskräfte der Wirtschaft, Ev.-luth. Landeskirche Hannovers

Literatur und Bezüge:

Den Text von 2.Kor 5, 1-10 entnehme ich der Lutherübersetzung von 2017. Die deutsche Übersetzung in V.5 mit „Unterpfand“ hat Luther ursprünglich mit Pfand übersetzt, der uns das Pfand, den Geist, gegeben hat. Andere Übersetzungen sprechen von Angeld, dazu auch: F.W. Horn: Das Angeld des Geistes, 1992. Eine nachgeschriebene Lutherpredigt von 1525 über 2.Kor 5, 1-5 findet sich in der Epistelauslegung Bd 2, Die Korintherbriefe, 1968, hg von Eduard Ellwein, S.385-390.

Der Hinweis im drittletzten Abschnitt, „sie als Geliebte und Heilige zu bewahren“, ist angelehnt an Röm 1,7: „An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen…“ und 12,13: „Nehmt euch der Nöte der Heiligen an“ und auch weiter an Kol 3, 12: „So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen…“

Die Bemerkung vom Autor unserer Zeit mit der Biographie des Heiligen Geistes bezieht sich auf Jörg Lauster: Der Heilige Geist. Eine Biographie, München 2021, sein Buch lese ich gerade.

Durch die paulinischen Stellen zum Thema Auferstehung von den Toten und den Wandel der verwendeten Bilder führt Christfried Böttrich in: Paulus-Handbuch, hg. von Friedrich W. Horn, Tübingen 2013, S. 461-471, zu unserem Text besonders S. 468f.

Das erwähnte Gedicht „Die große Fracht“ von Ingeborg Bachmann stammt vom 3.11.1952 (erste Rundfunkaufnahme NWDR Hannover) und 1.1.1953 (erste Veröffentlichung ohne Titel in: Wort und Wahrheit. Monatszeitschrift für Religion und Kultur), ich habe es aus: Ingeborg Bachmann, Werke. Erster Band, 1978, S. 34.

Die beiden recht bekannten Gedichte von Rainer Maria Rilke „Herbsttag“ mit den Zeilen „Wer jetzt kein Haus hat…“ und „…unruhig wandern, wenn die Blätter treiben“, und „Herbst“ mit der Schlussstrophe „Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“ sind aus dem Jahre 1902 und leicht zugänglich, ich habe sie aus: Die vier Jahreszeiten. Gedichte, hg. von Eckhart Kleßmann, Stuttgart 1991, S. 158f.

Das zitierte Chanson „Was ist das Ziel“ von Alexandra, das ich bei uns in der Friedenskirche in Göttingen am Drittletzten Sonntag (7.11.2021 um 10 Uhr, wo der Regen an die Kirchenscheiben klatschte) zu Beginn einer (Probe)Predigt zu unserem Text eingespielt habe (nur die in der Predigt zitierten ersten Zeilen „Es ist November und der Regen…“ dann leise ausgedreht), stammt von dem französischen Lied Les Ballons Rouges von Serge Lama, der deutsche Text von F. Weyrich, meine eingespielte Aufnahme stammt aus dem Jahr 196: Alexandra. Ihre größten Erfolge. Alexandra wurde 1942 in Litauen geboren und verstarb mit 27 Jahren bei einem Autounfall 1969. Am Ende der Predigt habe ich den Beginn der letzten Strophe dieses Liedes die Zeile zitiert: „Doch aus Verzweiflung wächst das Hoffen, das uns die Kraft zum Atmen schenkt.“

Über Margret Friedländer gab es einen kurzen Bericht am Tage ihres 100. Geburtstages am 5.11.2021 in der Tagesschau der ARD um 17 Uhr und 20 Uhr, den ich zufällig sah und der mich sehr beeindruckt hat.

Mit Gewinn gelesen habe ich auch zu unserem Text: Johanna J. Klee, In der Fremde, Göttinger Predigtmeditationen 75, 549-554, 2021, mit anderen literarischen Bezügen.

Als Predigtnachlied im Gottesdienst habe ich ein einfaches neueres Lied ausgewählt, gegen die Angst, auch gegen das Versinken in die Novemberstimmung, getragen vom Wort und als Sendung in den Tag: EG 595, „Fürchte dich nicht“, hannoversche Ausgabe, im Anhang, von Fritz Baltruweit, 1981.

Natürlich gibt es weitere neuere Lieder in den aktuellen Beiheften zum Gesangbuch, so in „freiTöne“, Beiheft zum EG der hannoverschen Landeskirche, 2019, von Lied 25 „Da wohnt ein Sehnen tief in uns“ bis hin zu Lied 43 „Meine Hoffnung und meine Freude“. Es gibt immer auch klassische Lieder wie EG 445 „Gott des Himmels und der Erden“ mit Bezug aufs Endgericht (Vers 4), und weitere sehr traditionelle, wie EG 350: „Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel wird eingehn.“ Auch Paul Gerhardt hat zur Thematik wunderbare Lieder, dazu im aktuellen Jahrbuch des Martin-Luther-Bundes, Lutherische Kirche in der Welt, Folge 68, 2021: Rudolf Keller, „Ich will dich ins Herze schließen“. Die Mystik in den Liedern Paul Gerhardts. Gerne singe ich auch EG 406 „Bei dir, Jesu, will ich bleiben“, mit dem Weinstock und den Reben als Einleitung oder Nachlied zum Abendmahl.

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