2. Korinther 4, 14-18

2. Korinther 4, 14-18

Predigt als Gespräch zwischen Paulus von Tarsus und Immanuel Kant zum 300. Geburtstag von Letzterem | Jubilate | 21. April 2024 | 2Kor 4, 14-18 | Dörte Gebhard |

Paulus: Immanuel, zu deinem 300. Geburtstag gratuliere ich dir! Dein Name Immanuel, «Gott sei mit uns», geleite dich, uns beide, alle hier – die nächsten 300 Jahre und in Ewigkeit.

Kant: Danke, danke, ehrwürdiger Apostel. Spielen wir zusammen zur Feier des Tages eine Runde Billard?

Paulus: Billard? Was soll das sein? Das kenne ich nicht!

Kant: Mit Billard habe ich mein Studium finanziert, übrigens auch die theologischen Vorlesungen. In den Kaffeehäusern Königsbergs winkten dem Sieger im 18. Jahrhundert recht ansehnliche Preise. Ich war ziemlich geschickt mit den Kugeln.

Paulus: Dir wäre langweilig! Es stände doch jetzt schon fest, wer gewönne. Als ich 300 wurde, waren schlimme Zeiten. Der römische Kaiser Diokletian betrieb seine antichristliche Politik und liess die Christen verfolgen. Ausrotten konnte er die Gemeinden nicht, aber die Liste der Märtyrerinnen und Märtyrer ist lang.

Kant: Erst morgen, am 22. April, werde ich 300, aber Frieden ist bei den aktuellen Kriegen in der Welt nach wie vor nicht in Sicht. Dabei habe ich als alter Mann, 1795, «Vom ewigen Frieden» geschrieben – jedenfalls, wie er anzustreben wäre, wie die ersten Schritte aussähen. Man kann das dünne Reclamheft für ein paar Franken haben, aber es lesen viel zu wenige …

Paulus: Apropos unsere Schriften: Hast du eigentlich meine Briefe gelesen oder von ihnen gehört? Du bist nicht so ein Kirchgänger gewesen, erzählt man sich.

Kant: Ich habe nicht nur deine Briefe gelesen, sondern kenne die ganze Bibel sehr, sehr gut. Meine Mutter war eine herzensgute, fromme Frau. Sie hat mich zu Pfarrer Schultz geschickt. Er war damals der beste Prediger von Königsberg. Meine liebe Mutter starb, als ich 13 war, aber sie hat «einen immerwährenden heilsamen Einfluss auf mein Leben gehabt»[1]. Aber ich ging auf eine christliche Schule, auf das Collegium Fridericianum, wo sie es so dermassen übertrieben haben mit täglichen Belehrungen und Bekehrungen und Gebeten und Andachten … ich merkte schon als Kind, dass da viel zu viel Heuchelei dabei war. Und Zwang in religiösen Dingen ist niemals gut!

Paulus: Da hast du Recht, man kann den Glauben nicht befehlen. Aber Gott findet seine Wege – mich hat er vom Pferd gerissen und drei Tage mit Blindheit geschlagen.

Kant: Das weiss ich: vor Damaskus. Bei Gelegenheit musst du mir vom damaligen Pferdegeschirr erzählen, mein Vater war nämlich Sattler.

Paulus: Und ich gelernter Zeltmacher. Wir kommen also beide aus einem Haushalt, in dem es nach Leder roch und derber Stoff sich stapelte. Dein Vater hatte wahrscheinlich dicke Hornhaut an den Fingern wie ich.

Kant: Wir haben noch viel mehr Gemeinsamkeiten. Du hast nie geheiratet …

Paulus: … und du auch nicht! Warum eigentlich nicht?

Kant: Ich war immer schwächlich und überhaupt nur 1.57 m gross! Meine Lunge war eingedrückt, ich musste immer um Atem ringen. Es war ihnen fast immer zu leise, wenn ich sprach. Sie wollten daher lieber die Mitschriften meiner Vorlesungen haben.

Paulus: Genau wie bei mir! Mir haben sie in Korinth auch vorgehalten, dass ich schwach und kläglich klinge (vgl. 2. Kor 10, 10). Deshalb habe ich ihnen lange Briefe geschrieben. So konnte ich ihnen nachhaltiger Mut machen. Im 2. Korintherbrief schrieb ich seinerzeit im 4. Kapitel:

14 Denn wir wissen, dass er, der Jesus, den Herrn, auferweckt hat, mit Jesus auch uns auferwecken und mit euch vor sich hinstellen wird.

15 Denn alles geschieht um euretwillen, damit die Gnade sich mehre durch die wachsende Zahl der Glaubenden und so der Dank reichlich ströme zur Verherrlichung Gottes.

16 Darum verzagen wir nicht: Wenn auch unser äusserer Mensch verbraucht wird, so wird doch unser innerer Mensch Tag für Tag erneuert.

17 Denn die Last unserer jetzigen Bedrängnis wiegt leicht und bringt uns eine weit über jedes Mass hinausgehende, unendliche Fülle an Herrlichkeit, 18 wenn wir nicht auf das Sichtbare schauen, sondern auf das Unsichtbare. Denn das Sichtbare gehört dem Augenblick, das Unsichtbare aber ist ewig. (Zürcher Bibel)

Kant: Ich habe versucht, meine Zeitgenossen genau darüber aufzuklären – dass das alles hier eben nicht alles ist! Aber, mit Verlaub, ich habe es etwas besser, logischer gegliedert als du. Drei Fragen müssen geklärt werden:

«1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?»[2]

Wobei ich die Frage nach der Hoffnung immer die wichtigste fand!

Im Irdischen geht der Mensch nicht auf. Ich schrieb:

«Unter diesen Betrachtungen richtet der Weise (aber wie selten findet sich ein solcher!) die Aufmerksamkeit vornehmlich auf seine große Bestimmung jenseits des Grabes. Er verliert die Verbindlichkeit nicht aus den Augen, die ihm der Posten auferlegt, auf welchen ihn hier die Vorsehung gesetzt hat. Vernünftig in seinen Entwürfen, aber ohne Eigensinn, zuversichtlich auf die Erfüllung seiner Hoffnung, aber ohne Ungeduld, bescheiden in den Wünschen, ohne vorzuschreiben, vertrauend, ohne zu pochen, ist er eifrig in der Leistung seiner Pflichten, aber bereit, mit einer christlichen Resignation sich in den Befehl des Höchsten zu ergeben, wenn es ihm gefällt, mitten unter allen diesen Bestrebungen ihn von der Bühne abzurufen, worauf er gestellt war. Wir finden die Wege der Vorsehung allemal weise und anbetungswürdig in denen Stücken, wo wir sie einigermaßen einsehen können; sollten sie es da nicht noch weit mehr sein, wo wir es nicht können?»[3]

Paulus: So hast du geschrieben? Da muss man einen Ausleger anstellen, um das zu verstehen.

Kant: Ha, sagtest du gerade: einen Ausleger?! Du bist besser still, an deinen Briefen mühen sich tausende Ausleger schon 1700 Jahre länger ab als bei mir! Weil wir nur deine Antworten an die Korinther haben und nicht, was überhaupt ihre Fragen und Probleme waren …

Paulus: Aber verstehe ich dich richtig: Erst kommt hier die Arbeit, dann dort einmal das Vergnügen?

Kant: Genau. Vor allem und zuerst haben wir Pflichten in der Welt, die es zu erfüllen gilt.

Paulus: Dabei leiden wir unter dem, was uns Menschen antun. Daher schrieb ich von den Bedrängnissen, die wir zu erdulden haben. Wir sollen also hier unsere Pflichten erfüllen und auf Gott, den Höchsten vertrauen, dass seine Vorsehung richtig ist, auch wenn wir es vorläufig nicht einsehen?

Kant: Nicht einsehen können, darauf kommt es an. Unser Verstand hat Grenzen. Gott ist grösser als wir denken … grösser als wir denken können! Kurz vor meinem Tod, als ich immer gebrechlicher wurde, mit deinen Worten: als mein äusserer Mensch verbraucht war, schrieb ich noch: «Es ist unmöglich, dass ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werde.»[4]

Paulus: Aber du bist doch der Aufklärer. Du hast doch unentwegt dazu aufgerufen, sich mutig des eigenen Verstandes zu bedienen! Du hast doch dein ganzes Leben mit Denken verbracht!

Kant: Das habe ich – und es gibt viel zu denken angesichts der Dummheit in der Welt. Es geht darum, auch heute wieder angesichts von Verschwörungslegenden und absurden Meinungen, Vertrauen in die Klarheit der menschlichen Vernunft zu fassen. Das war meine Lebensaufgabe.

Aber ich habe dabei auch die Grenzen des menschlichen Verstandes schärfer als alle Denker vor mir bestimmt. Wir können Gott mit unserem Verstand nicht fassen, übrigens auch nicht mit unserem Gefühl, weil manche manchmal jetzt auch auf diese abwegige Idee kommen.

Paulus: Du hast keine Ahnung, sie kommen heutzutage noch auf viel abwegigere Ideen! Wenn es um das Leben nach dem Tod geht, denken einige an Reinkarnation und andere an ihren Nachruhm.

Kant: Darauf wollen wir uns besser nicht verlassen. Man gedenkt zwar meines 300. Geburtstages, aber es sind nicht viele, die meine Texte wirklich gründlich studieren.

Paulus: Von mir spricht die Welt fast siebenmal so lange wie von Dir, aber wenn ich daran denke, wie viel Unrecht mit meinen Worten begründet wurde, dann verzichte ich gern auf Nachruhm. Schon zu meinen Lebzeiten habe ich mit aller Kraft versucht, von mir abzulenken und auf Christus hinzuweisen, dass so der Dank reichlich ströme zur Verherrlichung Gottes, wie ich schrieb, nicht zur Anbetung meiner Wenigkeit.

Kant: Das gehört zu unseren Pflichten! Einmal werden wir zur Verantwortung gerufen, ob wir uns – im Rahmen unserer Möglichkeiten – auch unseres Verstandes bedient haben, bei allem, was wir in die Welt gesetzt haben.

Paulus: Denn wir wissen, dass er, der Jesus, den Herrn, auferweckt hat, mit Jesus auch uns auferwecken und mit euch vor sich hinstellen wird.

Kant: Du wirst mir immer sympathischer. Die praktische Vernunft erfordert es, dass wir einst Rechenschaft ablegen über unser Reden und Tun. Denn der Verstand ist eine sehr gute Gabe Gottes. Die Welt sähe besser und friedlicher aus, wenn mehr Leute wirklich klar denken und handeln würden.

Paulus: Und über dich staune ich immer mehr! Dass du heute nach Schöftland gekommen bist! Du warst doch immer, immer zu Hause, du hast die Bannmeile von Königsberg zeitlebens nie verlassen. Ich hätte das nicht ausgehalten! Mich hat es nie lange an einem Ort gehalten, selbst dann nicht, wenn ich ausnahmsweise nicht fliehen musste vor denen, die mir nachstellten. Ich konnte dann immer noch einen Brief schreiben, dem gut ausgebauten, römischen Strassennetz sei Dank!

Kant: Und ich konnte es mir immer sehr gut vorstellen, wie es anderswo ist. Dazu hat Gott mich mit genügend Fantasie begabt. Ich habe alles aus der grossen weiten Welt gelesen und mich lieber körperlich geschont, drum bin ich so alt geworden.

Paulus: Alt bin ich auch geworden – aber nicht, weil ich mich geschont hätte. Ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle, aber nicht ich, sondern Gottes Gnade, die in mir ist (vgl. 1. Kor 15, 10).

Kant: Jetzt hast du wieder von der Arbeit angefangen! Jetzt hören wir auf mit aller Mühsal, denn, wie ich einmal sagte: «Der Himmel hat uns Menschen gegen die Mühseligkeiten des Lebens drei Dinge gegeben: Die Hoffnung, den Schlaf, das Lachen.»

Paulus: Da muss ich jetzt doch noch meinen Senf dazugeben!

Grosses Glas Senf kommt hervor …

Weil ich weiss, wie gern du Senf hast – und dass du ihn zu wirklich jeder Speise gegessen hast. Denn jetzt sollten wir bald einmal etwas essen! Es gibt heute Abendmahl im Gottesdienst und, wie jeden Sonntag in Schöftland, Kirchenkaffee mit feinem Zopf.

Kant: Auf meinen Senf bin ich stolz. Ich habe ihn stets selbst angerührt, für meine Gäste bei Tisch und für mich. Diese Arbeit tat ich immer gern.

Paulus: Jetzt hast du wieder von der Arbeit angefangen!

Kant: Aber … die Last unserer jetzigen Bedrängnis wiegt leicht und bringt uns eine weit über jedes Mass hinausgehende, unendliche Fülle an Herrlichkeit, 18 wenn wir nicht auf das Sichtbare schauen, sondern auf das Unsichtbare. Denn das Sichtbare gehört dem Augenblick, das Unsichtbare aber ist ewig.

Das hast du gesagt!

Paulus: Aber jetzt hast du es gesagt!

Beide zugleich: Amen.


Dörte Gebhard, Pfarrerin

Reformierte Kirche Schöftland/Schweiz

[1] Schultz, Uwe: Kant, Reinbek 1965, S. 9.

[2]  Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, 1781: A 805 – 1787: B 833.

[3]  Zitiert nach Huber, Wolfgang: Unsterblichkeit und Würde, Kant zu Ehren. Vortrag am 200. Todestag Immanuel Kants, dem 12. Februar 2004, in St. Michaelis zu Hamburg auf Einladung der Patriotischen Gesellschaft von 1765 und der ZEIT-Stiftung – Quelle: https://www.ekd.de/030216_huber_kant.html,  abgerufen am 3. 4. 2024 und orthographisch angepasst von DG.

[4] Ebd., abgerufen am 3. 4. 2024.

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