2. Korinther 4,6–10

2. Korinther 4,6–10

Irdene Gefäße | 4. Sonntag nach Epiphanias | 28.1.2024 | 2. Kor 4,6–10 | Rainer Oechslen |

Der Apostel Pauls schreibt in seinem zweiten Brief an die Christen in Korinth:

Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, dass die Erleuchtung entstünde zur Erkenntnis Gottes in dem Angesicht Jesu Christi. Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, auf dass die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns. Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um. Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, auf dass auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde.

2. Korinther 4,6-10

Liebe Gemeinde,

Licht leuchtet hervor aus der Finsternis, ein heller Schein ist in den Herzen der Christen. Zugleich aber werden sie bedrängt und es wird ihnen bang.

Als ich nachdachte über die irdenen, die tönernen Gefäße, in denen der Schatz der Christen enthalten ist, da fiel mir ein griechisches Wort ein: Ostraka.

Ostraka – das sind Scherben, Tonscherben, manchmal auch Scherben von Muscheln und Eierschalen.

Wenn man wissen will, wie die Menschen in den Zeiten von Paulus gelebt haben, wie zum Beispiel auch die Christen in Korinth, Ephesus und Rom gelebt haben und wie sie gedacht haben, dann kann man und muss man natürlich zum Neuen Testament greifen. Bücher wurden damals allerdings auf Papyrus geschrieben. Papyrus stellten man auf komplizierte Weise aus einer Pflanze her. Es war darum sehr teuer. Nichts Alltägliches schrieb man darauf, nur das Wichtigste und Wertvollste. Schreibfehler durften dabei nicht vorkommen und wenn doch, dann musste sorgfältig mit dem Schabmesser radiert und darübergeschrieben werden. Papyrus wegzuwerfen, kam nicht in Frage.

Für den Alltag gab es Gefäße und Tafeln aus Ton und Lehm, gebrannt, so wie man bis heute Ziegel brennt. Diese Gefäße wurden beschriftet. Wenn Tongefäße und Ziegel zerbrechen, dann gibt es Scherben. Werden diese ausgegraben, nennt man sie Ostraka. Man findet bis heute bei Ausgrabungen Scherben mit allerlei Mitteilungen und Notizen: Rechnungen für Korn und Wein und Quittungen für die erfolgte Bezahlung. Man findet Scherben, auf denen steht „Drei mal drei ist acht“. Eine andere Hand hat das durchgestrichen und „neun“ daneben geschrieben. Schüler lernten auf diesen Scherben schreiben und rechnen. Auf die Scherben schrieb man ja oder nein, wenn eine Volksabstimmung war. Oder man schrieb bei der Wahl den Namen eines Kandidaten darauf. Natürlich schrieb man auch kurze Liebesbriefe auf eine Tonscherbe, etwa: „Heute Abend warte ich auf dich bei der großen Linde.“

Aus den Ostraka, den Scherben kann man das alltägliche Leben in dieser Zeit kennenlernen.

Bei uns heute ist es nicht anders. Bücher sind heute zwar bei weitem nicht so teuer wie Papyrus – aber wer schreibt schon Bücher in den christlichen Gemeinden, einmal abgesehen von ein paar Pfarrern, die ihre Predigten drucken lassen. Unser Alltag zeigt sich eher in Telefongesprächen, E-Mails und Nachrichten per WhatsApp oder Signal – manchmal Gott sei Dank auch noch in handschriftlichen Briefen. Gott sei Dank sage ich, weil Briefe haltbarer sind als Telefongespräche und WhatsApp-Nachrichten. Wenn Forscher einmal unsere Zeit erforschen, werden sie sich fragen, was wir eigentlich die ganze Zeit gemacht haben, warum es so wenige Briefe von unserer Hand gibt. Aber das soll jetzt unsere Sorge nicht sein.

Wichtig ist, was der Apostel Paulus sagt: „Wir haben diesen Schatz“ – das Evangelium also, das Licht, das in der Finsternis leuchtet – „in irdenen Gefäßen“, also in sehr zerbrechlicher Form und oft genug in Scherben. Er gebraucht das griechische Wort: Ostraka.

Wir Menschen selbst sind zerbrechlich, so manches Leben ist schon zu Bruch gegangen und es steht nicht fest, ob wir nicht selbst einmal noch vor einem Scherbenhaufen stehen werden. Ob die Scherben unseres Lebens später einmal von anderen Menschen gesammelt und gelesen werden, das wissen wir nicht. Wie gesagt: Einfach wird es die Nachwelt mit uns nicht haben. Doch Paulus sagt uns, dass Gott die Scherben unseres Lebens entziffern kann und dass er diese Scherben aufbewahrt. Kein einziges Bruchstück unseres Lebens wird verloren gehen. Der Schatz ist nicht irgendwo vergraben, er ist verteilt auf die Scherben unseres Lebens und leuchtet aus den Bruchstücken hervor. Das ist das Wunder, das wir heute bedenken, – dass Gott die Scherben unseres Lebens zum Leuchten bringt.

Man könnte das Lebens des Apostels Paulus durchaus als einen großen Scherbenhaufen verstehen. Doch auf diesen Scherben steht eine frohe Botschaft, ein Evangelium. „Wir sind von allen Seiten bedrängt“, schreibt Paulus. Wir können daran denken, wie er auf seinen Reisen aus Synagogen verwiesen wurde, wie er geschlagen wurde und irgendwo bei barmherzigen Leuten Unterschlupf fand. Wir können uns vorstellen, wie die römische Polizei anfing, ihn zu überwachen, wie er verhaftet und als Gefangener mit dem Schiff nach Rom geführt wurde. Unterwegs erlitt der Gefangenentransport Schiffbruch. Die Gefangenen sollten getötet werden, damit sie nicht fliehen könnten. Doch der römische Hauptmann beschützte sie. Schwimmend kamen sie an Ufer und wärmten sich erst einmal an einem Feuer. Wahrlich ein Scherbenhaufen. Doch der Satz geht ja weiter: „Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir kommen nicht um.“ Paulus ist ein Bote unseres Herrn Jesus Christus, Er ist gestorben in Rom – mit großer Wahrscheinlichkeit hingerichtet. Aber seine Briefe leuchten bis heute.

So viele gefährliche Abenteuer wie Paulus werde ich vermutlich nicht mehr erleben.  Aber Scherben gibt es trotzdem – in meinem persönlichen Leben und im Leben der Kirche.

Vor einigen Wochen horchte ich beim Autofahren auf. In den Radionachrichten wurde gemeldet: Eine christliche Kommunität hatte einen Bericht über den Missbrauch von Macht und Sexualität in ihren eigenen Reihen veröffentlicht. Ich erinnerte mich: Vor genau 50 Jahren, im Frühling 1973, hatte ich die betreffende Person bei einer Jugendevangelisation kennenglernt. Auch ich hatte damals als Siebzehnjähriger zum Vorbereitungskreis gehört und jeden Abend der Musik und den Ansprachen gelauscht. Mir ist damals nichts Unangenehmes aufgefallen. Nun stellte sich heraus, dass der Prediger von damals, der im Jahr 2018 verstorben ist, ein Missbrauchstäter war. Ein neuer Scherbenhaufen – nicht nur für einzelne Menschen, für unsere ganze Kirche.

Im November ist die Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland zurückgetreten. Man konnte ihr persönlich nichts vorwerfen. Aber inzwischen ist der Druck auf die Kirche so groß geworden, hat es so viele Scherben gegeben, dass es schon der Anschein genügte, sie hätte jemanden gekannt, der sich verfehlt hat.

Leuchtet auch aus solchen Scherben die frohe Botschaft hervor? Gewiss nicht. Wir werden uns in diesem Fall nicht damit entschuldigen, dass wir den „Schatz in irdenen Gefäßen haben“, dass wir nun einmal fehlbare Menschen sind. Fehler sind Fehler und Verbrechen sind Verbrechen. Es sind Dinge geschehen, die in der Kirche niemals hätten geschehen dürfen. Vertrauen ist missbraucht und zerstört worden.

Aber das kann ich sagen: Angesichts des Scherbenhaufens, den die Kirche angerichtet hat – nicht erst in den letzten Jahrzehnten, schon viel früher, ist es reine Gnade, dass es die Kirche noch gibt, dass ihr Herr sie noch nicht aufgegeben hat. Wir Christen sollten uns nicht darauf verlassen, dass es immer so weiter gehen wird. Aber ich hoffe sehr, dass auch heute die gute Botschaft, das Licht, das „aus der Finsternis hervorleuchtet“, in meiner Kirche leuchtet – und wenn es vielleicht nur glimmt.

Es gibt verschiedene Arten von Scherbenhaufen, solche bei denen die Pläne der Menschen von außen durchkreuzt werden und solche, bei denen Menschen selbst die Gefäße ihres Lebens zerbrochen haben. Paulus war für seinen Schiffbruch nicht verantwortlich. Für die Missbrauchsgeschichten in der Kirche sind Menschen verantwortlich. Das ist ein großer Unterschied. „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“, hat Paulus im Brief an die Christen von Rom geschrieben (Römer 1,16). An anderem Stellen ist Scham durchaus angebracht.

Davon, dass Gott seine Gemeinde nicht verlässt, konnte Paulus aus Erfahrung berichten. Ich könnte auch von mancher Bewahrung in den Stürmen meines Lebens erzählen und manche von euch gewiss auch. Aber für die Zukunft können wir nur hoffen und bitten, dass Gott sein Licht auch auf unseren Scherben leuchten lässt.

Was mich tröstet, das sind Sätze, die ein großer Lehrer in der Theologie ein Jahr vor seinem Tod geschrieben hat: „Wir verbergen unsere Schwäche, um Kraft zu heucheln, Gott verbirgt seine Kraft, um sie in der Schwachheit zu offenbaren. Darum verstehen ihn die Großen und Gewaltigen nicht. Darum müssen wir selbst … abnehmen und zerbrochen werden, ehe wir ihn ergreifen und begreifen in seiner Schwachheit, in dem Kreuz seines Sohnes, in der Erscheinung des Menschen Jesus.“ – „in dem Angesicht Jesu Christi“, sagt Paulus. Und noch einmal Hans Joachim Iwand: „‘Wenn ich schwach bin, bin ich stark‘, ist das Lebensgesetz der Kirche und damit auch aller ihrer Glieder. Darum der so schwer erkennbare Weg der wahren Kirche Jesu Christi durch alle Zeiten. Es ist immer ein Weg am Abgrund entlang.“

Ja, „wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen“.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.


Rainer Oechslen

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