Der Blick Jesu| 7. Sonntag nach Trinitatis | Predigt zu Lukas 19,1-10 (dänische Perikopenordnung) | verfasst von Marianne Frank Larsen |

 

”Ich verstehe nicht so viel von Religion, aber ich glaube, dass die Pointe in der Religion gerade ist, dass ein verrückter Graf genauso viel wert sein kann wie ein großer Künstler“. So sagt Eldbjørg zu ihrem Mann in Kerstin Ekmans Roman Geschehnisse am Wasser. Sie kommen gerade aus dem Speisesaal in einem Sanatorium in Südfrankreich, wo sie neben einem älteren deutschen Graf saßen, der von nichts anderem  reden kann als von adligen Wappenschildern und der die ganze Gesellschaft mit seinen endlosen lauten Erklärungen behelligte. Der Graf war bei der Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg dabei gewesen. Er überlebte, kam nach Hause und wurde dekoriert und lebt also 1970 gesund und munter. Während da andere waren, die starben. Z.B. Franz Marc, einer der großen deutschen Maler, der in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ganz neue und andere Bilder in starken Farben malte. Er starb bei Verdun. Und das wirkte abstoßend auf Eldbjørgs Mann, dass der große Künstler, der im Begriff war, die europäische Bildkunst zu verändern, in den Schützengräben zugrunde ging, während der fette Graf weiterlebte. „Ich möchte wissen, wie die Vorsehung so etwas ausrechnet“, sagte er höhnisch. Aber da antwortet Eldbjørg: ”Ich verstehe nicht so viel von Religion, aber ich glaube, dass die Pointe in der Religion gerade ist, dass ein verrückter Graf genauso viel wert sein kann wie ein großer Künstler“.

Eldbjørgs Mann teilt die Menschen ein in verschiedene Kategorien. Der Graf ist lächerlich und aufgeblasen. Der Künstler dagegen ist schöpferisch, original, trägt dazu bei, anderen Menschen einen ganz neuen Blick auf die Welt zu geben. Kein Zweifel, wer am wertvollsten ist – in den Augen von Eldbjørgs Mann. Und in unseren Augen, denn wir tun ja dasselbe, meistens ohne darüber nachzudenken. Wir teilen Menschen auf in verschiedene Kategorien: Initiativreiche, kreative Menschen, die einen Unterschied ausmachen, im Gegensatz zu den handlungsunfähigen verwirrten Menschen, die keinen Unterschied ausmachen. Warme und festliche Menschen, mit denen man gerne zusammen sein will, im Gegensatz zu den langweiligen Typen, die nur von sich selbst reden können und nie weiterkommen. Menschen, zu denen wir hinaufsehen, und Menschen, auf die wir herabblicken.

Aber Eldbjørg kennt eine andere Sicht auf Menschen. Die kennt sie u.a. von der wunderbaren Erzählung im heutigen Evangelium. Ein anderer Blick, der einen verrückten Grafen und einen großen Künstler so sieht, als wären sie genau gleich viel wert. Dieser Blick gehört dem Mann, der an diesem Vormittag nach Jericho kommt. Jericho ist bekannt für seine Mauern. Seinerzeit gab Gott Josua Kräfte, diese Mauern durch seine Stimme umzustürzen, so dass die Israeliten direkt hineingehen konnten. Die Mauern aus Stein sind gefallen. Aber andere Mauern haben sich stattdessen erhoben, unsichtbare Mauern zwischen Menschen wie den Mauern, die wir mit der Sicht auf einander errichten, die andere entweder einbeziehen oder abweisen. Unsichtbare Scheidelinien zwischen guten Mitbürgern einerseits und Zöllnern wir Zachäus andererseits, berechnende Menschen, die von der römischen Besatzungsmacht dafür bezahlt werden, Steuern einzutreiben und die von dem Überschuss fett leben, den die Römer nicht sehen. Deshalb nennt man ihn einen sündigen Mann, als Jesus mit ihm in sein Haus geht. Dann ist das an seinem rechten Platz.

Nun ist das besondere an Zachäus, dass er zwar Oberzöllner und zudem auch sehr reich ist, aber er ist also auch sehr klein. Und natürlich ist da niemand, der daran denkt, ihm Platz zu machen. Aber in diesem kleinen dicken Zöllner wohnt offenbar anderes als kalte Berechnung. Da wohnt auch ein Wille, das zu verwirklichen, was er sich vorgenommen hat. Er will den Mann sehen, von dem alle reden. Und dann ist da eine Dreistigkeit, die man nicht gerade von einem Zöllner erwartet. Denn plötzlich sieht man, wie Zachäus alle seine Würde aufgibt und auf Bäume klettert wie ein Schuljunge. Und da sitzt er nun, ironischer Weise hoch erhoben über alle die, die auf ihn herabschauen, und er genießt die freie Aussicht auf den Weg und auf die, die da kommen. Ein kleiner dicker Zöllner in einem sehr großen Baum. Ein wunderbarer Anblick.

Vielleicht hatte sich Zachäus gedacht, dass er gut versteckt zwischen den Ästen des Feigenbaumes sitzen und sich in aller Unbemerktheit einen Überblick verschaffen konnte. Aber so läuft es nicht. Denn da ist einer, der den Blick hebt und mitten durch den Blätterwald hindurch sieht, einer, der merkwürdigerweise seinen Namen kennt und ihm zuruft und sagt, dass er vorhat, ihn zu besuchen. Zachäus muss völlig überrumpelt worden sein. Warum in aller Welt wirft Jesus unter allen Menschen seinen Blick grade auf ihn und will ihn besuchen? Ja, das ist deshalb, weil der Mann, der im heutigen Evangelium in die Stadt kommt, die Menschen anders sieht als wir. Er sieht in Zachäus offenbart nicht nur einen Zöllner, der auf Kosten anderer ein gutes Leben führt. Er sieht natürlich, was Zachäus tut. Aber er sieht mehr als das. Er sieht auch, wer Zachäus ist. Er sieht mitten durch die unsichtbaren Mauern hindurch, mit denen wir uns und einander umgeben, er sieht Zachäus als einen Menschen, der im Bilde Gottes geschaffen ist, einen wertvollen Menschen, der in seinen Augen genauso viel wert ist wie die guten Mitbürger unten auf dem Bürgersteig. Mit diesem Blick reißt er die Mauern zwischen ihnen nieder.

Wenn man im Zweifel sein sollte darüber, was mit einem Menschen geschieht, der so gesehen wird, dann braucht man nur mit dem Blick Zachäus folgen, wie er vom Baum herunterklettert und nach Hause läuft, um den Tisch zu decken, den braten in den Ofen setzt und Flaschen aufzieht, so dass er Jesus empfangen kann, wenn er kommt. Mit roten Backen vor Eifer. Und man kann die Bewegung in seiner Stimme hören, als er Jesus nach dem Essen hinausbegleitet und verspricht, die Hälfte seines Vermögens den Armen zu geben und als das zurückzuzahlen, um das er seine Mitbürger betrogen hat. So sieht es aus und so klingt es, wenn die Freude einen Zöllner überwältigt.

Heute ist diesem Haus Heil widerfahren, sagt Jesus, und Heil – das ist die Befreiung, die darin liegt, nicht als berechnender Zöllner oder verrückter Graf oder als großer Künstler gesehen zu werden, sondern als ein wertvoller Mensch in den Augen Gottes. Trotz der wertenden Blicke anderer Menschen – und unserer Blicke. Der Blick, der uns erreicht quer durch die Blätter und uns als gleichwertige Menschen sieht, ganz gleich ob wir stark sind oder schwach, respektiert oder übersehen, klein, jung, mittleren Alters oder alt. Diesem Blick begegnen wir immer, wenn wir in die Kirche kommen.  Unter anderem deshalb kommen wir in die Kirche. Dass wir hören, da ist einer, der stets etwas mehr in uns sieht als wir selbst und alle anderen, einer der mehr sieht als das, was wir vermögen, und das, was wir nicht können, einer, der uns stets als wertwolle Menschen seht und uns daran festhält, dass wir das sind. Und wohlbemerkt auch das, was jeder andere Mensch ist. Und immer dann, wenn wir dem bestimmten Blick begegnen, ist das Heil auch in dieses Haus gekommen – und in unsere Häuser. Amen.

 

Pastorin Marianne Frank Larsen

DK 8000 Aarhus C

mfl(at)km.dk

 

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