Alles Märchen?!

Alles Märchen?!

Predigt zu 2. Petrus 1,16-19 | verfasst von Thomas Muggli-Stokholm | 

Lesungstext aus dem ersten Testament: Jes 53,1-12

 Wir leben in dunklen Zeiten. Ich denke nicht zuerst an die Corona-Pandemie, welche unseren Alltag so sehr dominiert, dass ich nicht mehr darüber reden mag. Noch mehr bedrücken mich die Bilder vom Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar dieses Jahres, anlässlich der formellen Bestätigung des neuen US-Präsidenten Joe Biden. Die USA gelten als älteste Demokratie der Welt und sind nach wie vor führend in Wissenschaft und Wirtschaft.

Umso unfassbarer scheinen die primitive Brutalität des Mobs, welcher das Regierungsgebäude teilweise mit Billigung und Unterstützung der der Sicherheitskräfte stürmte und seine Beweggründe: Die ganze Aktion war massgeblich durch QAnon geleitet, eine rechtsextrem motivierte Verschwörungstheorie, die Donald Trump mit völlig absurden Argumenten zum Messias erhebt und seine Gegner samt und sonders zu Satanisten erklärt. Dass QAnon auch in der Schweiz mindestens 100’000 Anhängerinnen und Anhänger findet, macht sprachlos. Ja, wir leben in dunklen Zeiten.

Dabei sah es vor einigen Jahrzehnten so aus, als würde eine Zeit des ewigen Friedens und Glücks anbrechen: Am 6. November 1989 geschah, was noch wenige Jahre zuvor niemand für möglich gehalten hätte: Es kam zum Fall der Berliner Mauer. Das Symbol des kalten Kriegs zwischen dem kommunistischen Osten und dem kapitalistischen Westen verschwand fast über Nacht. Innert weniger Monate fielen die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten in sich zusammen, und das auf weitgehend friedliche Weise. Deutschland wurde wiedervereinigt. Freiheit und Demokratie hielten Einzug in Gebieten und Ländern, die seit dem zweiten Weltkrieg durch die kommunistischen Machthaber unterdrückt und bevormundet wurden. Die Euphorie war so gross, dass der Politikwissenschafter Francis Fukuyama das Ende der Geschichte gekommen sah, den endgültigen Sieg der liberalen Demokratie, die Frieden und Wohlstand schafft – für alle Menschen und für immer. Als damals noch junger Pfarrer fand ich dies gar nicht so abwegig. Heute wären solche Prognosen undenkbar.

Auch die Menschen zur Zeit des zweiten Petrusbriefes leben in dunklen Zeiten. Als Christinnen und Christen bilden sie nach wie vor eine Minderheit, leben in rechtlicher Unsicherheit und müssen ständig mit Schikanen und Verfolgung durch den römischen Staat rechnen. Das ist aber noch das kleinere Problem. Viel schlimmer steht es mit dem Glauben.

Die Zeit der Euphorie, als in Jerusalem die Gefährten Jesu noch lebten und Paulus das Evangelium in ganz Kleinasien verkündigte, liegt weit zurück. Mittlerweile hat sich Ernüchterung breit gemacht: Die Wiederkunft Christi, mit welcher die ersten Christen noch zu Lebzeiten rechneten, bleibt aus. Das Reich Gottes, welches Jesus verkündigte und dessen vollständige Umsetzung man innert weniger Jahre erwartete, scheint weit weg. Nichts von Frieden und Freude, Freiheit und Gerechtigkeit, wo nicht mehr Mann und Frau, Sklavinnen und Herren, sondern nur noch Geschwister in Christus leben. Im Gegenteil: Rom ist so mächtig wie nie zuvor. Und in den christlichen Gemeinden werden statt des Evangeliums zunehmend menschliche Geschichten und Theorien verbreitet. So gibt es eine starke Bewegung mit wortgewandten Predigern, welche die Heiligen Schriften, die Propheten und die Bücher Mose zur Lehre eines finsteren, satanischen Gottes erklären. Dieser Götze, welcher die Welt schuf, um die Menschen darin einzusperren, ist der Gegenspieler zum wahren Gott, der Jesus in die Welt sendet, um die gefangenen Seelen zu befreien und zurück ins Licht zu führen. Solche antijüdischen Lehren gleichen frappant heutigen Verschwörungstheorien.

In dieser Zeit der Verdunkelung will der zweite Petrusbrief Mut und Orientierung vermitteln. Und er packt dies leidenschaftlich und pointiert an:

Nicht weil wir klug ausgedachten Mythen gefolgt sind, haben wir euch die Macht und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus kundgetan, sondern weil wir Augenzeugen seines majestätischen Wesens geworden sind.

Der Verfasser setzt sich ab von jenen, welche die Menschen mit ihren selbst erfundenen Mythen, Märchen und Theorien beschwatzen und nimmt für sich in Anspruch, Augenzeuge Jesu zu sein. Er ist schliesslich ein Jünger Jesu und dann erst noch einer, der mit dem Meister besonders eng vertraut war.

Wie gern würden wir das glauben. Doch leider gibt es allzu begründete Zweifel: Die historisch-kritische Forschung beweist mit erdrückender Deutlichkeit, dass der zweite Petrusbrief nicht vom Jünger Petrus geschrieben wurde. Lügt der Verfasser unseres Textes also, wenn er behauptet, er sei ein Augenzeuge? Verbreitet er einfach einen weiteren, klug ausgedachten Mythos?

Zwei Stellen im 3. Kapitel seines Briefs helfen uns weiter: Zum einen schreibt der Verfasser in Vers 4 selbst, dass alle Augenzeugen Jesu längst verstorben sind. Zum anderen rühmt er einige Verse später die Weisheit des geliebten Bruders Paulus und empfiehlt die Lektüre seiner Briefe – die offensichtlich schon eine längere Traditionsgeschichte hinter sich haben.

Der Verfasser selbst legt also offen, dass er und seine Leser in einer anderen Zeit leben als die ersten Christen. Wenn ihm wirklich daran gelegen gewesen wäre, sich als Petrus auszugeben, hätte er solche verräterischen Hinweise tunlichst vermieden. Nein, der zweite Petrusbrief will uns nichts vorgaukeln. Der Verfasser will seinen Zeitgenossen und uns allen, die an einem dunklen Ort sind, den Zugang zum Glauben neu öffnen. Dazu versetzt er sich in den Augenzeugen Petrus, nicht um uns über das Wesen Jesu zu belehren, sondern um uns alle zu Augenzeuginnen und Augenzeugen zu machen.

Christlicher Glaube lebt nicht von Mythen. Er kommt aus dem Sehen und Hören. So sagt Jesus seinen Jüngern: Selig eure Augen, weil sie sehen und eure Ohren, weil sie hören. Zu der Zeit, als der zweite Petrusbrief entsteht, liegen die direkten Begegnungen mit Jesus schon fast 100 Jahre zurück. Heute ist der Graben der Zeit noch viel tiefer. Der zweite Petrusbrief will uns helfen, diesen Graben zu überwinden und lädt uns ein, mit ihm zu zusammen zu sehen und zu hören, was es mit Jesus auf sich hat. So nimmt er uns mit auf eine Reise zurück in die Zeit des irdischen Jesus. Dazu wählt er eine Schlüsselgeschichte, die besonders geeignet ist, uns zu sehen und hören zu lassen, wer Jesus ist, damit sein Licht leuchtet in unserer Dunkelheit und sein Morgenstern aufgeht in unseren Herzen.

Zusammen mit Jesus, mit Petrus, Jakobus und Johannes steigen wir auf den Berg. Auf dem Gipfel sehen wir, wie Jesus vor uns verwandelt wird; sein Angesicht strahlt wie die Sonne, und seine Kleider werden weiss wie das Licht. Wir sehen Mose und Elija, die mit Jesus reden. Und wir hören die Stimme aus der Wolke, die spricht: Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Auf ihn sollt ihr hören! Jesus – der Sohn Gottes, der Messias, welcher das, was Mose und Elija begonnen haben, vollendet, das Volk Gottes neu sammelt und die Heilsgeschichte zum Ziel führt. Ein Gipfelerlebnis, wo alles klar ist, reiner, ungetrübter Sonnenschein.

Gezielt wählt der zweite Petrusbrief den Höhepunkt des irdischen Wegs Jesu, um uns in unserer Dunkelheit Mut zu machen. Einen Moment lang ist alles strahlend hell und sonnenklar: Doch dieser Augenblick darf nicht verweilen. Das müssen Petrus, Jakobus und Johannes – und mit ihnen wir alle – bitter erfahren. Jesus steigt mit den dreien vom hohen Berg hinab, zurück in die Tiefe, zurück in den mühsamen Alltag, wo sie sofort mit ihren Grenzen und den Folgen ihres Kleinglaubens konfrontiert werden. Auch der zweite Petrusbrief verharrt nicht auf dem heiligen, erhabenen Berg. Er schreibt:

Eine umso festere Grundlage haben wir im prophetischen Wort, und ihr tut gut daran, darauf zu achten, wie auf ein Licht, das an einem dunklen Ort scheint.

Elija und Mose sind nicht einfach Vergangenheit. Jesus als Sohn Gottes verstehen wir nur auf der Grundlage dessen, was die prophetischen Schriften bezeugen. In der Lesung haben wir eines der sogenannten Gottesknechtslieder aus dem Jesajabuch gehört. Wäre Jesus einfach der Megaprophet, Hohepriester und Superkönig, würde er sich nahtlos in die Herrschergilde einfügen, zu denen auch Trump, Putin und Co gehören. Jesus wird erst der Sohn Gottes, weil er zugleich wahrer Mensch ist und sich der Dunkelheit der Welt, dem Leiden, dem Schmerz, der Verzweiflung und dem Tod aussetzt.

Der zweite Petrusbrief will uns zum Sehen und Hören von Herzen führen, zum Gleichzeitig-Werden mit Jesus und seinem Weg, nicht nur auf dem hohen Berg der Verklärung, sondern auch in der Tiefe, im Dunkeln, in Zeiten von Ratlosigkeit und existentiellen Krisen. Gerade damit wird unser Glaube mehr als das Fürwahrhalten eines klug ausgedachten Mythos. Er wird zur Kraft, die aus dem Sehen und Hören kommt, zur Hoffnung, die aus der persönlichen Beziehung zum Sohn Gottes erwächst, der für uns und mit uns bis in die tiefste Tiefe geht – um hier, am dunklen Ort, sein Licht, den Morgenstern aufgehen zu lassen.

Nichts weniger als die Macht und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus will uns der zweite Petrusbrief kundtun. Und er zieht dabei alle Register, vom hohen Berg bis zur finsteren Tiefe. Erreicht er damit sein Ziel – damals bei seinen Zeitgenossen zu Beginn des zweiten Jahrhunderts – und heute, bei uns? Tatsache bleibt, dass die Christenheit damals die schweren Krisen nach dem Ausbleiben der Wiederkunft Jesu durchsteht. Und 200 Jahre später wird das Christentum sogar Staatsreligion – äusserlich ein grosser Erfolg. Der zweite Petrusbrief würde das allerdings anders sehen: Das Christentum als Staatsreligion hat nicht mehr den Gottessohn, der sich für die Welt hingibt vor Augen und im Herzen, sondern klug ausgedachte, staatstragende Mythen, die erlauben, dass Priester Kanonen segnen und Pfarrer für den Sieg der eigenen Armee und die Vernichtung des Feindes beten.

Mindestens in der Schweiz ist das Christentum als Staatsreligion längst Vergangenheit. Wir können schon froh sein, wenn unsere diakonische Arbeit weiterhin von der Gesellschaft unterstützt wird. Und die Aussichten sind angesichts der zahlreichen Austritte düster. Wir müssen uns darauf einstellen, dass Christinnen und Christen in absehbarer Zeit eine Minderheit sind wie zur Zeit des zweiten Petrusbriefs. Wie sich in der Vergangenheit wiederholt zeigte, können solche dunklen Zeiten der Ungewissheit und Verunsicherung jedoch eine Chance sein.

Genau da, wo wir von uns aus nicht mehr weitersehen, können wir neu Augenzeuginnen und Augenzeugen von Jesus Christus werden. Wir schauen nicht mehr auf unsere eigenen Möglichkeiten, Konzepte, Geschichten und Pläne, sondern auf Jesus allein. Er kommt und erweist seine Macht gerade da, wo wir schwach sind. Er beflügelt uns, um sein Evangelium in die Welt zu tragen, die gute Geschichte der Liebe und Vergebung Gottes, die allen Menschen gilt. Und er ermächtigt uns, um an seinem Reich mitzubauen, dem Reich des Friedens zwischen Gott und den Völkern. Amen.

 

 

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