Amos 5,21-24

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Amos 5,21-24

Unser Leben und unser Glaubensleben sollen auf Recht und Gerechtigkeit ausgerichtet sein | Estomihi | 11.2.2024 | Amos 5,21-24 | Rainer Stahl |

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen!“

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Am 11. Februar begehen wir in diesem Jahr den „Sonntag vor der Passionszeit“. Wir verwenden auch den Namen „Estomihi“. Was heißt das? Die Schreibweise unserer Tradition lässt uns zuerst ratlos zurück. Denn wir müssen uns erinnern, dass dieses Wort – „Estomihi“ – eigentlich die Kombination zweier Worte ist: „Esto mihi!“ Jetzt erinnern wir uns vielleicht an unsere Lateinstunden: Ich hatte Latein nur in den ersten beiden Semestern, also im Studienjahr 1969/70, gelernt. In der Erweiterten Oberschule, was in Westdeutschland das Gymnasium gewesen wäre, hatten wir damals in Meiningen vier Parallelklassen. Auf die Klassen waren wir entsprechend dem Beruf, den wir parallel gelernt hatten, verteilt. Ich war in eine Klasse gekommen mit Englisch als zweiter Fremdsprache – neben dem Russischen als erster Fremdsprache. Es gab aber auch eine Parallelklasse mit Latein – für diejenigen, die eine Pflegerinnen- und Pfleger-Ausbildung absolviert hatten. Im vierten Semester, also im Frühjahr des zweiten Studienjahres, 1971, hatte ich noch eine kursorische Lektüre lateinischer Texte unserer Tradition. Vielleicht hatte ich damals auch schon die Bedeutung solcher lateinischer Sonntagsnamen gelernt: „Esto mihi!“ – „Sei mir!“ Das ist der Anfang der zweiten Hälfte des dritten Verses des 31. Psalms: „Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest!“ Also eine Bitte von uns, gerichtet an Gott.

In einer Woche, in diesem Jahr am 18. Februar, beginnt die Passionszeit. Der Name jenes Sonntags ist auch auf der Basis einer Aussage im Psalm jener Woche entstanden: „Invocavit!“ – „Invocabit me!“ – „Er ruft mich an!“ Hier geht es um die erste Hälfte des 15. Verses des 91. Psalms: „Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören!“ Damit handelt es sich um eine Selbstverpflichtung Gottes mit Blick auf uns.

Unser gesamtes Leben ist in der Weise organisiert, dass der Montag der erste Tag der Woche ist und der Sonntag ihr letzter Tag. Wenn ich recht weiß, geht das auf die Einführung durch die deutsche Reichsbahn in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zurück. Als Christinnen und Christen dürfen wir aber die alte Ordnung in Erinnerung behalten: Da beginnt für uns die Woche mit dem Sonntag – also mit heute. Die so entstehende Arbeitswoche ist also gerahmt: Vom heutigen Sonntag her: „Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest!“ Und vom kommenden Sonntag her mit der Antwort des angerufenen Gottes: „Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören!“

Diese besondere Woche soll nun von den Einsichten des Bibelwortes geprägt werden, das in Amos 5 steht. Ich gebe Ihnen eine eigene Übersetzung:

21a   „Ich hasse, ich verabscheue Eure Feste.

21b   Und nicht kann ich riechen Eure Festversammlungen.

22a1  Außer, wenn Ihr mir Brandopfer darbrächtet! / Selbst, wenn Ihr mir Ganzbrandopfer und Eure Opfer darbringt, werde ich sie nicht annehmen.[i]

22a2  Und an Euren Speisopfern habe ich kein Gefallen.

22b   Und das Friedeopfer eurer Mastkälber kann ich nicht mit Wohlgefallen[ii] anschauen. / Und den Anblick Eures Rettungsopfers werde ich nicht ansehen.[iii]

23a   Entferne / Entfernt[iv] vor mir den Lärm Deiner Lieder / Eurer Lieder.[v]

23b   Und den Klang Deiner Harfen / Eurer Harfen[vi] kann ich nicht hören!

24a   Es ströme doch wie Wasser das Recht! / Es wird aber das Urteil wie Wasser strömen[vii]

24b   und die Gerechtigkeit wie ein immer fließender / reißender[viii] Bach![ix]

Geht es Ihnen wie mir? Dieses Bibelwort unterwirft mich einem Wechselbad. Zuerst werden wirkliche Tieropfer abgelehnt – 1. Konkretion –, die wir alle Gott gar nicht darbringen. Dann werden – 2. Konkretion – meine / unsere Lieder, meine / unsere Choräle, mein / unser Orgelspiel und mein / unser Posaunenblasen – wenn wir ein Instrument spielen könnten – abgelehnt. Was soll das Gutes bringen? Und schließlich – 3. Konkretion – werde ich / werden wir herausgefordert, Recht und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Gerade dazu – so merken wir – brauchen wir Gottes Unterstützung, dass „er mir ein starker Fels“ wird! Und, dass wir uns darauf verlassen können, dass er uns „erhören“ wird: Dass zum Beispiel endlich Frieden wird.

Ich kann also nur bei zwei Konkretionen bleiben: bei unseren Liedern und unserer Musik und bei unseren Versuchen von Recht und Gerechtigkeit. Die gesamte Auseinandersetzung um Opferfeste betrifft uns heute nicht! Betrifft uns seit über 2.000 Jahren nicht! Betrifft uns nicht, weil der Kreuzestod von Jesus aus Nazareth, des Christus, das ein für alle Mal gebrachte Opfer ist: „sind wir geheiligt ein für alle Mal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi“ (Hebräer 10,10)! Und: Die Abwehr von Opfern betrifft auch unsere jüdischen Freunde nicht, die seit über 2.000 Jahren einen Tempel nicht mehr haben und bewusst nicht wieder aufgebaut haben!

Also wende ich mich zuerst der 2. Konkretion zu:

„Entferne / Entfernt vor mir den Lärm Deiner Lieder / Eurer Lieder.

Und den Klang Deiner Harfen / Eurer Harfen kann ich nicht hören!“

Sollte diese Aufforderung uns gelten? Ich finde auch hierfür: Nein!

Wenn diese Aussagen im Amos-Buch genutzt würden, um die Kirchenmusik in Frage zu stellen, sie zu desavouieren, sie bloßzustellen, dann würde man ein grundlegendes Missverständnis dieser Musik zum Ausdruck bringen:

Hatte doch Johann Sebastian Bach viele seiner Kompositionen mit „s-d-g“ – „soli Deo gloria“ – „allein Gott die Ehre“ unterschrieben! Damit hatte er zum Ausdruck gebracht, dass die Musik und ihre Reichweite – dass sie nämlich von Gott positiv rezipiert wird (!) – doch die innere Quelle für unser Leben ist, auch für unsere Versuche, Recht und Gerechtigkeit zu verwirklichen! Nie vergesse ich, dass ich einmal in der DDR-Zeit eine Führung im Bach-Haus in Eisenach besucht hatte und erleben musste, dass während dieser Führung viel dargestellt und demonstriert wurde, aber die geistliche Musik von Johann Sebastian Bach mit keinem Wort erwähnt worden war. Also: „soli Deo gloria“ verheimlicht worden war. Dagegen halte ich fest: Diese Ehre zu geben, das war doch Bachs Anliegen! Mit einem solchen Anliegen können auch wir gut durch unser Leben gehen. Dazu werden wir eingeladen!

Und damit haben wir zugleich die Grundlage dafür gelegt, die 3. Konkretion zu verwirklichen: Wie wir nämlich beispielhaft die Herausforderung, Recht und Gerechtigkeit zu verwirklichen, meistern könnten. In meinem Nachdenken habe ich mich auf eine Dimension bezogen – es gibt noch vielmehr –: auf die Dimension des Umgangs mit dem Geld.

Eine erste Herausforderung: Sofern wir Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland sind, leben wir ja im Moment in der Sondersituation beamtenähnlich angestellter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, weshalb wir ja auch nie streiken können. Erst in der Situation des vereinigten Deutschlands hatte ich mich mit einem Kirchenjuristen über die Frage austauschen können, warum wir nun unser Gehalt ganz am Anfang des Monats erhielten, oder unsere Pension – so jetzt bei mir – sogar schon am Ende des vorhergehenden Monats erhalten. Die Antwort war ganz klar: „Sie werden nicht für Ihre Arbeit bezahlt, sondern Sie erhalten eine Finanzierung, die Sie befähigt, ein für Ihren Dienst angemessenes Leben zu führen.“ Alle, die sich das bewusst machen, kommen doch damit in die Nähe zum biblischen Grundsatz des „Zehnten“: „Ich […] gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme“ (Lukas 18,12). Als ich Referent von Landesbischof Roland Hoffmann in Eisenach war, hatte dieser mich einmal ganz überrascht, weil er gemeint hatte: „Na, Sie geben doch den Zehnten, Bruder Stahl.“ Ich gebe manche Spende, aber ob die Gesamtsumme in die Nähe des Zehnten käme, das weiß ich gar nicht, das will ich auch nicht ausrechnen. Aber im Vergleich zur Situation in der DDR-Zeit stehen wir doch sehr gut da. Als ich Pfarrer in Altenburg geworden war, das war 1985 gewesen, hatte mich meine Mutter, die damals schon in der Bundesrepublik lebte, bei einem Telefonat gefragt, ob ich denn mit dem Geld hinkommen würde. Obwohl ich damals deutlich weniger verdiente als heute, konnte ich sie beruhigen. Aber ich habe immer allein gelebt. Familienmütter und Familienväter hätten da gewiss eigene Geschichten zu erzählen. Diesen Gedanken darf ich ein wenig ausführen und dabei wieder die Fragen von Recht und Gerechtigkeit berühren: Eine Strategie bei uns jungen Leuten in der DDR bestand damals darin, dass die Ehefrau des Vikars, der Ehemann der Vikarin möglichst einen Beruf ausüben sollte, bei dem sie oder er besser verdiente. Überhaupt erinnere ich mich, dass damals die Ablösung von der Tradition begann, dass die Ehefrau unbezahlt zu Hause blieb, aber in der Gemeinde Hilfsdienste machte. Landesbischof Dr. Leich, mein Ordinator, setzte sich sehr dafür ein, dass sie in den Gemeinden ordentlich angestellt und bezahlt wurden!

Eine zweite Herausforderung: Welches Verhältnis haben wir zu den Steuern, die wir zu zahlen haben? Auch als Ruheständler zahle ich ja monatlich Steuern. Deshalb kann ich, bzw. muss ich auch jährlich eine Steuererklärung erarbeiten und beim Finanzamt einreichen. Nur durch Gespräche habe ich gelernt, dass es Menschen gibt, die gern ihren Steuerbetrag reduzieren würden, um keinen Anteil für die Finanzierung unserer Verteidigungsausgaben zu leisten. Da hatte ich von dem schon genannten Kirchenjuristen in Eisenach gelernt, dass das in Deutschland aus gutem Grund nicht vorgesehen ist: Jede und jeder muss den notwendigen Steuerbetrag zahlen und unterstützt damit ohne jede Spezifizierung alle Aufgaben der Gesellschaft.

„Recht und Gerechtigkeit“ heißt also für mich: Die eigenen finanziellen Mittel auch dazu zu nutzen, andere zu unterstützen, die Hilfe brauchen. Wie wir dabei tätig werden, muss jede und jeder selber und eigenständig entscheiden. Eine Möglichkeit möchte ich hier aber doch nennen: Ist Ihnen der Begriff „Amcha“ bekannt, der Name der Organisation „Amcha“ – „Dein Volk“? Sie setzt sich für die Überlebenden der „Scho’ah“, des „Holocaust“, der Verbrechen an den jüdischen Nachbarn ein. Denn auch in späteren Generationen sind die Nachkommen von Vorfahren, die die „Scho’ah“ überlebt hatten, oft traumatisiert und brauchen Hilfe. Eine Traumatisierung, die nach dem Angriff der Hamas auf Israel bei vielen völlig neu aufgebrochen war. Jetzt hatte der Vorstandsvorsitzende von „Amcha Deutschland e.V.“, Lukas Welz, in einem Brief an die Freunde und Unterstützerinnen und Unterstützer betont:

„AMCHA unterstützt seit nunmehr 35 Jahren in Israel jedes Jahr tausende Überlebende der Shoah und ihre Familien in der Bearbeitung ihrer schweren Traumata in Folge von Verfolgung, Folter und Genozid. In Form von Kriseninterventionen stellt AMCHA diese breite Expertise jetzt allen Betroffenen zur Verfügung, denn die psychosoziale Notlage in Israel ist so groß wie selten zuvor.

In Israel leben rund 125.000 Überlebende. Das Gefühl, ein sicheres Zuhause für sich und die Familie gefunden zu haben, ist für sie von zentraler Bedeutung. Angesichts solcher Erfahrungen von Gewalt  und Sorge um nahe Angehörigen [»angesichts der exzessiven Gewalt und des Terrors, die die Menschen in Israel seit den Morgenstunden des 7. Oktober 2023 durch die Terrororganisationen Hamas erfahren« – so weiter oben im Brief] schwindet dieses Gefühl von Sicherheit. […] Bei Überlebenden der Shoah wie auch bei Familienangehörigen, die durch transgenerationale Folgen geprägt sind, werden durch diese anhaltende Gewalt Traumata reaktiviert.“[x]

Wäre das Engagement für „Amcha“ nicht eine besondere Verwirklichung von „Recht und Gerechtigkeit“?

Amen.

„Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“

 

Liedvorschläge:

„Dies sind die heilgen zehn Gebot“ – EG 231

„Wohl denen, die da wandeln“ – EG 295

„So jemand spricht: »Ich liebe Gott«“ – EG 412

Dr. Rainer Stahl, Erlangen

[i]   So die Übersetzung und Umdeutung der Septuaginta, vgl. Septuaginta Deutsch, hrg. von Wolfgang Kraus und Martin Karrer, Stuttgart 2004, S. 1182. Der masoretische V. 22a2 fehlt dort, ist dort nicht nötig.

[ii]   Dieser Zusatz soll die Verständlichkeit erhöhen.

[iii]  Dies ist die Variante der Septuaginta, vgl. Anm. 1.

[iv]  Die Pluralfassung ist eine Empfehlung von K. Elliger, dem Herausgeber des Zwölfprophetenbuches in der BHS.

[v]   Die Pluralfassung – „Eurer Lieder“ – ist wieder Empfehlung von K. Elliger.

[vi]  Auch diese Pluralfassung ist Empfehlung von K. Elliger.

[vii] Hier handelt es sich um die Variante der Septuaginta, vgl. Anm. 1.

[viii] Auch dies ist eine Variante der Septuaginta, vgl. Anm. 1.

[ix]  Die Aufteilung der Verse in „a“ und „b“ habe ich wieder entsprechend der masoretischen Gliederung vorgenommen – bis zum Atnach und nach dem Atnach.

[x]  Lukas Welz an die Freunde und Unterstützer*innen von Amcha Deutschland in einem Schreiben vom 11. Dezember 2023.

de_DEDeutsch