Lukas 18,31-43

Lukas 18,31-43

Estomihi | 11.02.2024 | Lk 18,31-43 (dänische Perikopenordnung) | Anders Kjærsig |

Eine Schriftrolle

Vor den Mauern Jerusalems gut begraben unter einem Feigenbaum fand man eine kleine Schriftrolle mit fünf Aufzeichnungen über das Christentum, geschrieben von dem ehemaligen Oberzöllner und Multimillionär Zachäus. Wir befinden uns im Jahr 39, und der schlimmste Sturm nach der Kreuzigung, dem Tod und der Auferstehung Jesu hat sich gelegt. Überall in Galiläa und Samaria sind kleine Gemeinden entstanden, die das Wort weiter am Leben erhalten.

Die Aufzeichnungen sind oft schwer zu lesen, weil sie durch Wind und Wetter der vielen Jahre beschädigt sind. Sie sind im Jahr 33 verfasst kurz vor dem jüdischen Osterfest, also im Frühjahr. Der Stil ist nicht erzählend, sondern poetisch und aphoristisch. Es sind persönliche Aufzeichnungen, die nicht nur etwas über das Christentum sagen, sondern auch über den Verfasser. Als gemeinsame Überschrift steht da: „Aus eigener Sicht“, und das bezieht sich auf die Erfahrungen, die Zachäus mit Christus zu dessen Lebzeiten hatte. Unter der Überschrift steht da: „Von einem Feigenbaum mit dem Blick auf Jericho“. Die Worte bezeichnen die Position, in der sich Zachäus befindet, und die Perspektive, die er einnimmt. Außer der gemeinsamen Überschrift hat jede einzelne Aufzeichnung dann ihren eigenen Titel.

Erste Aufzeichnung

„Seht, wir gehen nach Jerusalem“

Der Gang ist oft träge, man geht Schritt für Schritt wohl wissend, dass es bald vorbei ist. Das ist ein schrecklicher Gedanke. Und der staubige Weg gibt nicht genug Luft, um vielleicht zu erwägen, einen anderen Weg einzuschlagen, vielleicht umzukehren und zurück nach Jericho zu gehen. Es geht einem ganz wie Abraham, als er gebeten wurde, seinen Sohn zu nehmen und nach Moria zu reiten, um ihn zu opfern. Es war ein langer Weg. Da war viel Staub – und da waren viele Gedanken, die zu bewältigen waren. Aber Abraham zweifelte nicht. Das tun wir aber. Selbst der Meister zweifelt, aber dennoch geht er weiter, so als habe er einen Auftrag von einer höheren Wirklichkeit.

Die Oberseite der Füße ist allmählich von der warmen Sonne gebrannt. Man erblickt Jerusalem vor sich wie ein Bild, verhüllt in Hitze, aber ansonsten kalt wie Eis, eine Fata Morgana von Dimensionen, bewohnt von kommerziellen und machtbewussten Großstadtbeduinen mit eigenen Oasen. So schrieb ein Freund über Jerusalem, die Stadt mit allen Mitteln und mit dem legendären und selbstherrlichen Prokurator Herodes Agrippa als Stadtoberhaupt.

Jerusalem liegt und lockt

Kleine und schwache Seelen im Schritt,

sie fallen ein aus der Provinz

und bekommen das Leben frisch serviert.

Die Sterne, sie blinken und erbleichen,

wenn Herodes erwacht und hinausgeht.

Herodes gleicht einem Engel

und führt sich auf wie ein Gott.

Das Nachtleben gibt zu denken.

Jerusalem gleicht sich selbst,

gebrannte Kinder spielen mit dem Feuer,

Herodes küsst den Himmel zum Abschied.

Zweite Aufzeichnung

Verfolgungen, Gewalt und Mord

Einige von uns, die mitgingen, hörten, wie der Meister seinen Jüngern erzählte, was mit ihm geschehen würde, wenn er nach Jerusalem kommt. Hier würde er verspottet, misshandelt, gefoltert und schließlich getötet werden. Aber am dritten Tag würde er von den Toten auferstehen, damit erfüllt werde, was von den Propheten geschrieben wurde.

Ich werden nicht sterben, sondern leben

Und von den Taten des Herodes erzählen.

Der Herr züchtigte mich hart,

aber er überlieferte mich nicht dem Tode.

All das Reden von Misshandlung und Tod war für die Jünger nicht zu verstehen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass der Erlöser des Menschen so viel leiden sollte. Er, der selbst das wahre Bild der Liebe war in einer Welt von Gewalt und Grauen, ihn wollten die Menschen beseitigen. War das wirklich so? Petrus wollte das nicht akzeptieren. Und wenn er dazu auch zu den Waffen greifen und selbst sterben müsste, er würde mit aller Gewalt und Macht den Meister verteidigen. Aber war das Liebe?

Für viele von uns wirkte das komisch, dass Petrus so unterwegs war. Der Meister hatte selbst gesagt, wenn er nur Streit wolle, dann könne er nur seinen Vater im Himmel bitten, ihm eine Legion von Engeln zu schicken, um die Sache in Ordnung zu bringen. Es war also eine bewusste Entscheidung von ihm, dass er nicht die Gewalt und dir Folter bekämpfen würde, denen er ausgesetzt war. Das war eine bewusste Entscheidung für Ohnmacht und damit ein Ausdruck für das wahre Wesen Gottes als Gott der Barmherzigkeit und der Vergebung. Das verstanden die Jünger nicht, obwohl sie den Meister mehrere Jahre gekannt hatten. Sie erwarteten, dass die Erfüllung des göttlichen Plans in einem sichtbaren Reich der Herrlichkeit enden würde, wo Schmerz und Tod nicht existierten. Sie verstanden nicht, dass die Erfüllung schon in der Erniedrigung existierte. Aber verstehen wir das? Ist es nicht ein Widerspruch, der das Denken stört, dass die Erniedrigung schon die Erfüllung ist?

Dritte Aufzeichnung

Die schreienden Hälse

Unter denen, die nach Jerusalem gingen, waren wir eine kleine Schar, die man „die schreienden Hälse“ genannt hat. Diese Bezeichnung kam aus der Art und Weise, wie wir auf die Gegenwart des Meisters reagierten. Einige haben uns naiv und dumm und anmaßend genannt, weil wir uns so sicher waren, dass die Wahrheit über das menschliche Leben in Jesus Christus offenbar war. Deshalb hielten wir uns nicht zurück, als wir ihn erblickten. Ich selbst saß auf dem Feigenbaum und wartete und spähte und brach in Freude aus, da ich ihn erst sah und er sich selbst einlud, um in meinem Haus zu speisen; einer meiner Freunde, ein blinder Bettler in Jericho, rief, als er erfuhr, wer da gekommen war: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner“. Mehrere wollten ihn beruhigen und zum Schweigen bringen, aber das half nicht. Dasselbe galt für die zehn Aussätzigen oben aus dem Grenzgebiet, die geheilt wurden, nicht zuletzt der eine von ihnen, der zurückkam und laut vor allen anderen bekannte, dass Christus Gottes Sohn und der Erlöser der Menschen ist – und das obwohl der Meister ihm gesagt hatte, dass er es niemandem erzählen soll.

Die schreienden Hälse sind gottesfürchtige Himmelsstürmer, verlorene Freidenker, die nach Worten suchen, die die hungernde Seele erlösen können. Die schreienden Hälse finden keine Ruhe in harmonisch gebauten Konstruktionen, ganz gleich ob sie in Gedanken oder Institutionen bestehen und von Gott oder dem Menschen geschaffen sind. Die schreienden Hälse glauben am Rande der Peripherie, dass man nicht durchfällt und den Halt verliert, auch wenn Leben kein festes Zentrum hat. Die schreienden Hälse halten fest an der Hoffnung trotz der Umstände und Ungerechtigkeiten.

Vierte Aufzeichnung

Der Glaube – ein Licht der Auferstehung

Der Glaube ist eine Weise, wie man sieht. Durch den Glauben verstehen wir, dass das Sichtbare durch das Unsichtbare entstanden ist. Das ist der Blick des Glaubens und die Perspektive der Hoffnung – wir sollen das Unsichtbare durch das Sichtbare sehen. Als mein blinder Freud in Jericho sehend wurde, sah er nicht nur das Sichtbare, er sah auch das Unsichtbare – und damit das Sichtbare in einer neuen Weise.

Folgende Fragen drängen sich auf: War es das Licht der Auferstehung, das er sah? Sah er das, was die Jünger nicht sehen konnten? Und kann man überhaupt das Unsichtbare sehen, und wenn man das kann, kann man dann vom Sichtbaren absehen? Kann man das Licht der Auferstehung hinter der Finsternis des Kreuzes sehen, ohne das Kreuz festzuhalten? Und was ist das Unsichtbare in Folter und Gewalt, das hinter den sichtbaren Entsetzlichkeiten der Gewalt dessen Macht und destruktives Wirken aufhebt und auf ein anderes Verständnis des Lebens verweist? Ist da ein Leben auf der anderen Seite von Jerusalem? Können wir es sehen? Der Glaube kann!

Fünfte Aufzeichnung

Lobpreis

Ich danke dir, Schöpfer und Herre, weil du mir deinen Sohn gegeben hast. Gott, mein Schiff ist klein. Dein Meer ist groß.

Amen

Pastor Anders Kjærsig

DK 5881 Skårup

Email: ankj(at)km.dk

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