Apostelgeschichte 8,26-39

Apostelgeschichte 8,26-39

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


6. Sonntag nach
Trinitatis

30.7.2000
Apostelgeschichte 8,26-39

Anna-Katharina Szagun


Bei der Suche nach der Quelle begleiten…

Wir haben eine Tauferzählung mit drei
Akteuren vor uns: Zwei konkrete Personen gibt es da und den unsichtbar Regie
führenden Geist Gottes. Die beiden Personen begegnen sich ganz punktuell.
Der eine hat die Quelle seines Lebens gefunden. Der andere ist auf der Suche
danach. Beginnen wir bei letzterem.

Ein Hofbeamter, Schatzmeister, also Finanzminister
der Königin Kandake ist auf der Suche. Hat der nicht schon alles? Wissen,
Ansehen und Macht, hohes Einkommen, einflussreiche Freunde, offenbar auch
Gesundheit – ist das nicht alles? Ist der Mann unersättlich?

ES MUSS IM LEBEN MEHR ALS ALLES GEBEN ist eine
Geschichte von Maurice Sendak überschrieben: „Einst hatte Jennie alles.
Sie schlief auf einem runden Kissen im oberen und auf einem viereckigen Kissen
im unteren Stockwerk. Sie hatte einen eigenen Kamm, eine Bürste, zwei
verschiedenen Pillenfläschchen, Augentropfen, Ohrentropfen, ein
Thermometer und einen roten Wollpullover für kaltes Wetter. Sie hatte zwei
Fenster zum Hinausschauen und zwei Schüsseln für ihr Futter. Und sie
hatte einen Herrn, der sie liebte. Doch das kümmerte Jennie wenig. Um
Mitternacht packte sie alles, was sie besaß, in eine schwarze Ledertasche
mit einer goldenen Schnalle und blickte zum letzten Mal zu ihrem
Lieblingsfenster hinaus.
„Du hast alles“, sagte die Topfpflanze,
die zum selben Fenster hinaus sah. Jennie knabberte an einem Blatt.

„Du hast zwei Fenster“, sagte die Pflanze. „Ich habe nur
eines.“ Jennie seufzte und biss ein weiteres Blatt ab.
Die Pflanze
fuhr fort: „Zwei Kissen, zwei Schüsseln, einen roten Wollpullover,
Augentropfen, Ohrentropfen, zwei verschiedene Fläschchen mit Pillen und
ein Thermometer. Vor allem aber liebt er dich.“
„Das ist
wahr“, sagte Jennie und kaute noch mehr Blätter.
„Du hast
alles“, wiederholte die Pflanze.
Jennie nickte nur, die Schnauze
voller Blätter.
„Warum gehst du dann fort?“
„Weil
ich unzufrieden bin“, sagte Jennie und biss den Stängel mit der
Blüte ab. „Ich wünsche mir etwas, was ich nicht habe. Es muss im
Leben noch mehr als alles geben!“
Die Pflanze sagte nichts mehr. Es
war ihr kein Blatt geblieben, mit dem sie etwas hätte sagen können.“

„Ich wünsche mit etwas, was ich nicht
habe. Es muss im Leben mehr als alles geben!“ Jennie weiß nicht, was
ihr fehlt. Aber sie spürt, dass es eine leere Stelle gibt, der sie
aufsitzt, die unruhig macht, immer wieder. Die besitzbürgerliche
Behaglichkeit ihres kleinen Hundelebens, das kann doch nicht alles sein. Dieses
Unruhegefühl ist nicht rational begründet. Die Pflanze –
Verkörperung einer stationären Vernunft – ist auf ihrer Ebene
der Argumente nicht zu schlagen. Sie hat ja Recht: Jennie hat alles. Aber das
hilft ihr nichts, und die rationalen Argumente auch nicht. Die kann man
zerkauen und „runterschlucken“, – sie nähren einen nicht. Die
leere Stelle bleibt und schmerzt. Das treibt Jennie zum Aufbruch.

Ob es dem Schatzmeister ähnlich ging? Ob am
Anfang jeder existentiellen Suchbewegung so eine Jennie steht? Nach unserer
Erzählung gibt es auch bei dem Schatzmeister eine „leere“
Stelle. Da, wo eben „Hofmeister“ vorgelesen wurde, steht im Urtext
„Eunuch“. Ein Kastrierter ist er also, kastriert wie alle Hofbeamten
damals, weil man so der Gefahr illegitimen königlichen Nachwuchses
vorbeugen wollte.

Sich so zentral verkrüppeln zu lassen –
ein großes Opfer für eine Karriere. Und wir? Kennen wir das nicht
auch, dieses Gefühl des Beschnitten-Seins, – das Gefühl, irgendwie um
das Wesentliche gebracht zu sein? Das kann doch nicht alles gewesen sein… Sie
meldet sich immer wieder, unsere leere Stelle, manchmal vielleicht ganz
verschlüsselt…

Man kann ganz verschieden damit umgehen: Die
Unruhe-Stimmme versuchen zu überdecken mit Betriebsamkeiten,
Anstrengungen, sich mit Reisen und Konsum ablenken, – vielleicht auch in
Abenteuer oder Rausch flüchten – oder aber hinspüren, sich auf
die Suche machen.

Der Schatzmeister ist aufgebrochen. Vermutlich lag
der Anfang seiner Suchbewegung in einer Art innerem Nebel. Vage Ahnungen, wo
das Fehlende zu suchen sei, gibt es vielleicht und Anstöße von
außen. Wir kennen das aus eigenen Phasen des Aufbruchs, der Suche. Die
Antennen sind sozusagen ausgefahren: Gedichte, Begegnungen, ein irgendwo
aufgeschnappter Satz, alles kann zur Orientierungshilfe werden. Und manche
Sackgasse, mancher Umweg wird gegangen, muss wohl auch gegangen werden.
Für den Schatzmeister war Jerusalem ein Ort der Hoffnung, – sonst
wäre er wohl nicht zehntausend Kilometer gereist, um dort anzubeten. Er
fand dort offenbar noch nicht das, was seine leere Stelle füllte. Aber er
bekam neue Anstöße, wo und wie die Quelle vielleicht zu finden sei:
Eine Jesajarolle. Hieß es nicht, dort gebe es zukunftseröffnende
Verheißungen auch für solche, die religiös sonst abgeschrieben
waren, für Beschnittene wie ihn? Würde die Suche überhaupt
irgendwann in Erfüllung enden? Ein bisschen wie Topfschlagen ist das mit
existentiellen Suchbewegungen: Blind tasten wir nach dem noch unbekannten
Schatz. Irgendwann mag es schon ganz heiß gewesen sein. Aber wie dicht
man schon dran war, weiß man selbst nicht (bzw. erst aus der
Rückschau).

Unser Schatzmeister ist nahe dran, als er sich da
auf dem Wagen mit einem unverständlichen Text abmüht. Nur der letzte
Stups fehlt ihm noch zur Entdeckung DAS IST ES JETZT FÜR MICH. Ich brauche
bei meinen Suchbewegungen Hilfe durch andere, – durch Personen, die etwas
wahrnehmen da, wo ich selbst noch blind bin. Aber HEISS oder KALT schreien so
viele. Wem kann ich trauen?

Unsere Geschichte verrät uns wenig über
Philippus. Was machte ihn vertrauenswürdig für den Schatzmeister? War
es (und das wäre für uns kirchliche MitarbeiterInnen bzw.
Religionslehrkräfte, aber auch für Eltern und Paten ja höchst
bedenkenswert) vielleicht die Geduld und Unaufdringlichkeit, mit der Philippus
dem Suchenden hinterher geht? Nicht vorweg schreitet in zielorientierter
Belehrsamkeit, sondern hinterher geht, schweigend präsent. Wir erfahren
auch nicht, wie lange diese stille Begleitung dauerte. Nur, dass Philippus,
geistgeführt, im entscheidenden Moment zur Stelle ist, dann nämlich,
als das innere Fragen des Schatzmeisters sich so zuspitzt, dass es nur noch
dieser einen Begegnung bedarf.

Wie können wir uns Philippus vorstellen? Wir
wissen immerhin, dass er das Wasser des Lebens für sich gefunden hat und
dass er – erfüllt von diesem Wasser – offenbar überzeugend
wirkt in der Begegnung. Er scheint transparent zu sein für die
Wirklichkeit Gottes: Sie strömt durch ihn hindurch und erreicht das
Gegenüber. Ein schönes Bild: Aber was stellen wir uns darunter vor?
Solche „Wasser-Bilder“ von Menschen finden wir ja häufiger in
der Bibel. Als erstes fällt mir ein Johanneswort dazu ein: „Wer an
mich glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers
fließen“ (Joh.7, 38).

Wirklich ein schönes Bild mit einer
großen Zusage. Aber ich fürchte, auch mit einer riesigen Illusion
und Überforderung: Ströme lebendigen Wassers sollen da fließen!
„Klingt so: Hast du Jesus, sind alle Probleme gelöst!“, meinten
ein paar junge Leute, die zu einem Schattenspiel zu diesem Text grübelten
und dann aufgaben. Und bei mir kommen zu diesem Bild Sätze hoch wie
„Ein Christ ist immer im Dienst“ oder „Geben ist seliger als
Nehmen“, auch Bilder von sich pausenlos freudig verströmenden
Diakonissen. Heißt Glauben – von der Quelle her leben – nie
mehr müde, nie mehr bedürftig zu sein, sondern zu
unerschöpflicher Nächstenliebe und Aktivität befähigt oder
auch verdammt zu sein? Können oder müssen Christen so leben? Vom
Schatzmeister hieß es: „Und er zog seine Straße
fröhlich“. Geht das überhaupt mit so einer
Dauerüberforderung?

Mir fällt ein weiteres Wasser-Bild ein. In
Jes. 58, 11 heißt es: „Du wirst sein wie ein bewässerter Garten
und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt“.

Quelle und Garten sein: Waren Sie schon mal ein
Garten? Vor einer Weile sollte ich einen spielen und war zunächst ganz
hilflos: Wie spielt man einen Garten? In Form einer Pflanze, die langsam
wächst? Oder als Erde, die den Boden gibt für alles, was wachsen
will? Wie kann man ein Garten sein? Im Ausprobieren merkte ich: Alles
Hektische, alles Bewegen und Machen musste abfallen – gar nicht so
einfach, aber dann unendlich befreiend: Garten sein. Da gibt es Zeiten des
Keimens, des Wachsens, des Reifens, der Ernte und auch der Ruhe. Garten sein:
Im Rhythmus aufnehmen, verwandeln, abgeben, ruhen: Gelassenheit. Andere ernten,
– nicht der Garten selbst. Andere holen sich nach ihren Bedürfnissen etwas
von mir ab, wenn ich Garten bin. Und sie können nur das erwarten und
holen, was mein Rhythmus zulässt und anbietet an Lebens-Mitteln. Garten zu
sein heißt: Ich kann und muss nicht dauernd überquellen. Auch Herbst
und Winter gehören zu mir.

Aber Garten zu sein mit der Taufzusage heißt
auch: Ich darf mich auch in Zeiten des Zweifels, der Erschöpfung, der
Mutlosigkeit auf meine Quelle der Tiefe verlassen. Luther soll in dunklen
Stunden seines Lebens mit Kreide auf seinen Tisch geschrieben haben: „Ich
bin getauft“. Ich darf mich darauf verlassen, dass mich die Quelle der
Tiefe neu speist, – dass ich gereinigt und genährt werde in vielerlei
Weise, – auch durch Menschen, die mit mir auf dem Wege sind.

Durchlässig sein für die Wirklichkeit
Gottes als Garten, dem immer wieder neue Kraft aus der Tiefe zuströmt,
heißt vielleicht auch, sich aus erfahrener Annahme heraus in Gelassenheit
und Beständigkeit der Wirklichkeit neu stellen und selbst Annahme leben
können. Bei Erich Fried finde ich das so ausgedrückt:

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was
es ist
sagt die Liebe

Es ist ein Unglück
sagt die Berechnung

es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst

Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es
ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es
ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die
Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Annahme erfahren trotz zentraler
Verkrüppelung in Gelassenheit und Beständigkeit – lebendiges
Wasser spüren: Da zieht einer fröhlich seiner Straße. Und wer
weiß, wem er – geistgeführt – begegnen noch wird…

Prof. Dr. Anna-Katharina Szagun
Theologische
Fakultät Rostock
Schröderplatz 3-4, 18051 Rostock
E-Mail:
anna-katharina.szagun@theologie.uni-rostock.de


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