Aus dem Blick?

Aus dem Blick?

Predigt zu Jesaja 1, 10-18 | Verfasst von Kira Busch-Wagner | Trinitatisgemeinde Karlsruhe-Aue |

Das Buch Jesaja beginnt mit Tiraden. Tiraden Gottes gegen die Leute im Südstaat Juda, gegen den Rest in Jerusalem, den die mächtigen Assyrer noch nicht eingesackt haben. Das religiöse Leben scheint intakt zu sein. Not lehrt beten – vielleicht führte tatsächlich die Angst vor der Zukunft zur Teilhabe an Gottesdiensten. Doch ausgerechnet Gott will von der Religion nichts wissen. Will nichts wissen von Feiertagen, von Hingabe, von Gebet. Gott will Recht, Gerechtigkeit, Hilfe für die Unterdrückten. So das Prophetenwort des Jesaja. Unser Bibelwort zum Tag der Umkehr, zum Buß- und Bettag 2020.

Bei uns ringen ja viele in den Gemeinden mit der Frage: Warum haben Menschen kein Interesse an Gott? Warum keines an der Kirche und ihren Angeboten? Warum wollen Menschen nicht ihre Kinder taufen lassen? Warum ist das Image der Kirche schlecht? Das Arbeitspapier unserer Bezirkssynode, der Synode der Evangelischen Kirche in Karlsruhe will, dass Kirche „wiederentdeckt“ werde und unterstellt damit bisher oder auf jeden Fall derzeit mangelndes Interesse. Das Papier will, dass die Hauptamtlichen die „Taufquote erhöhen“, offenbar als sichtbares Zeichen von „Wiederentdeckung“ durch Menschen, die das Interesse verloren haben.

Unser Predigtabschnitt aus dem Prophetenbuch fragt umgekehrt: Was ist, wenn Gott kein Interesse an uns hat? Wie kommt das zustande? Können wir daran etwas ändern?

In einem der Verse hier am Anfang des Jesajabuches ist vom Angesicht Gottes die Rede. Wir kennen das sonst vom aaronitischen Segen am Ende des Gottesdienstes. „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir. … Der Herr hebe sein Angesicht auf dich, über dich.“

Angesicht Gottes – zugewandt, freundlich, verheißungsvoll – und Segen – Zuspruch Gottes einschließlich materieller und immaterieller Güter – sind also Eines. Beides bedeutet umfassend Gutes für die Gesegneten, für die, denen Gottes Angesicht sich zuwendet.  Wir reden vom Ansehen, das jemand genießt. Segen bezeugt das Ansehen, das wir von Gott her bekommen. Ansehen, weil Gott uns ansieht.

Im Hebräischen, der Sprache der Bibel, hat das Angesicht nicht wie im Deutschen mit Sehen zu tun, sondern mit Drehen. (Darauf weist hin Barbara Honigmann in: Das Gesicht wiederfinden. Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum, München 2006; zitiert von Michael Kannenberg in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe II, S. 418).

Gesicht: im Hebräischen, ein Wort nur im Plural, so wie im Deutschen etwa das Wort „Geschwister“. Gesicht also beides: das, was sich hindreht. Das was sich wegdreht. Was sich hin-, was sich wegdrehen kann. Das, woran sich das Verhältnis von Mensch zu Mensch entscheidet. Von Gott zu Mensch.

Unser Predigtabschnitt heute ist ein Gegenstück zum aaronitischen Segen. Wenn Gott abgewandt ist, wenn Gott sich nicht zuwendet, sondert wegdreht, dann bedeutet das Schrecken, Untergang, Dunkelheit, letztlich Tod. Im 104. Psalm heißt es: „Verbirgst du dein Angesicht, Gott, so erschrecken die Menschen. Nimmst du weg ihren Odem, so vergehen sie und werden wieder zu Staub“.

Kann es denn sein, dass Gott sich abwendet? Schweigt? Abwesend ist?

Kann es sein, dass Gott keine Lust mehr hat an den Menschen, nicht einmal an seinen Liebsten, seinem Augapfel, wie er sonst sagt, seinem Volk?

Ja, sagt der Prophet, das kann nicht nur sein, das ist so. Denn Gott hat jene im Auge, die aus dem Blickwinkel gerieten. Unterdrückte. Solche, deren Rechte missachtet werden. Vor allem Minderjährige und Frauen, die keinen Rechtsbeistand haben, der ihre Rechte durchsetzt. Die stattdessen auf allgemeines Rechtsempfinden vertrauen müssen – und viel zu wenig oder gar keine Resonanz finden. Die an Ende ihre Klage nur noch vor Gott bringen können, dass er ihnen Gerechtigkeit verschaffe.

So ist es, faucht der Prophet. Darum hat Gott sich abgewendet. Darum schweigt Gott. Seine Augen, seine Ohren, sein Segen ist dort, wo ihr nicht hinschauen, nicht hinhören, nichts Hilfreiches tun wollt. Sodom und Gomorrha sind untergegangen über ihren Untaten. Ihr seid nur eine Handbreit hinter ihnen. So der Prophet.

So der Prophet, der Gottes Wort verkündet. Laut. Vorwurfsvoll. Wütend. Gehässig. Und vor allem verzweifelt. Da gehört er mit dazu. Was er sagt, trifft ihn immer auch selbst. Jesaja ist einer in Jerusalem.

Es trifft ja auch ihn, wenn er verkünden muss: Gott wendet sich ab. Gott ist nicht mehr da. Gott nimmt seinen Segen von uns weg. Was soll er dazu noch sagen. Hat er in der Hand, die Verhältnisse zu ändern? Wenn er versucht, Gutes zu tun, nach Gottes Willen, nach Recht zu trachten, das Böse zu meiden – wird das etwas ausrichten aufs Ganze gesehen? Kann das Gott zurückholen?

 

Da höre ich am Ende der Tirade eine andere Stimme. Eine andere Stimme als die des Propheten. Da höre ich nach dem lauten Drohen und hinein in das verzweifelte Schweigen des Propheten auf einmal den biblischen Gott: Gut denn. So kommt. So lasst uns rechten. Lasst uns neu anfangen mit der Diskussion. Ich kann aus Schwarz Weiß machen. Wenn eure Taten ins Auge stechen wie Purpurfarbe auf Wolle – ich will, dass sich das ändert. Und ich werde das ändern. Kommt her. Ich habe noch etwas vor mit euch.

Gott selbst kommt zurück. Gott selbst wendet den Blick aufs Neue zu. Auch auf Gottesdienste und Lieder und Feste. Nicht wegen der Gottesdienste. Sondern weil er etwas ändern will. Er wendet sich zu trotz des Unrechts. Setzt neuen Anfang. Nimmt neu das Gespräch auf und sagt: „So kommt denn.“

 

Lasst uns also den Buß- und Bettag begehen. Lasst uns Gottesdienst feiern. Lasst uns den biblischen Gott immer wieder neu entdecken. Einen Gott, der seinem Propheten ins Wort fällt. Um dem eigenen vernichtenden Wort hinzuzufügen: „Kommt her.“

 

 

Liedvorschläge

 

EG 155             Herr Jesu Christ, dich zu uns wend …

EG 144,2           O Gott und Vater, sieh doch an …

EG 283, 2          Willst du, o Vater, uns denn nicht nun einmal wieder laben … gieß … deine Güt und

Segen aus

EG 580             Segne und behüte ….

EG 581             Segne uns, o Herr! … (beide Segenslieder sind Bitten!)

EG 586 , 3.6.7   Du Wort ob allen Worten …

 

Vorschläge zur Fürbitte

 

Du Gott des Friedens und der Gerechtigkeit,

du Gott voll Güte und Erbarmen,

du liebst das Leben in seiner Fülle, die Welt ist dein Eigen.

Dein Wort gibt Weisung und Recht, Deine Gegenwart Trost und Hoffnung.

 

So bitten wir dich für alle, die unter uns beitragen zu Verständigung

und Frieden und größerer Gerechtigkeit.

Für alle, die sich den Anliegen von Benachteiligten öffnen,

die mehr verstehen und mehr wissen wollen von Menschen,

die unter so ganz anderen Bedingungen leben als wir.

Schenke Ihnen von deiner Kraft.

 

Wir bitten dich für alle, die ihr Wissen und Können einsetzen in Gerichtsverfahren, um Rechtlosigkeit und Unterdrückung abzuwenden.

Wir bitten dich für alle, die in Parlamenten und Gremien,

in Synoden und Arbeitsgruppen den mühsamen Weg gehen,

einander zuzuhören und einander zu überzeugen,

einander zu achten und hinzuwirken auf Gemeinsinn und Solidarität.

 

Wir bitten dich für alle, die sich mühen, den Einsatz von Waffen zu mindern.

Für diejenigen, die uns aufmerksam machen,

wo der Verkauf von Reizgas, Waffen und Minen Friedensworte aushöhlt.

Gib Mut und langen Atem.

 

Wir bitten dich für Kinder in unserer Nähe und weltweit,

die unter Armut leiden, nur schwer Zugang haben zu medizinischer Versorgung, zu Bildung und Spiel. Lass uns ihre Zukunft zum Anliegen werden.

 

Wir bitten dich für die jüdischen Menschen, die auch heute Drohworte und Schmähungen erleben am Telefon, in sozialen Medien, auf der Straße.

Wir bitten dich für alle, die Opfer wurden von Gewalt, von Hass und Terror.

Stärke alle, die sich ihrer annehmen.

Dir anbefehlen wir die Toten. Und alle, deren Blut zu dir ruft wie das Blut Abels.

Rühre uns an. Lehre uns. Nimm uns mit auf deinen Weg.

 

 

Pfarrerin Kira Busch-Wagner

Karlsruhe

e-mail: Kira.Busch-Wagner@kbz.ekiba.de

 

Kira Busch-Wagner, geb. 1961, Pfarrerin in Aue, engagiert im christlich-jüdischen Gespräch und in der evangelisch-katholischen Ökumene

 

 

 

de_DEDeutsch