Beim Namen rufen

Beim Namen rufen

19. Sonntag nach Trinitatis | Johannes 1,35-51 (dänische Perikopenordnung) | Von Anders Kjærsig |

Beim Namen rufen

Ist man zu nichts nutze, hat man keinen Namen. Es wäre korrekter, die Reihenfolge in diesem Satz umzukehren: Hat man keinen Namen, ist man zu nichts nutze. Wenn man keinen Namen hat, ist keiner da, der einen ruft, und man kann nichts vollbringen. Dann ist man nur einer von vielen, Teil der Menge ohne sonderlichen Wert. Ein Thema, das Kierkegaard in seinem ganzen Werk beschäftigt hat.

Ohne Name auch keine Vergangenheit, keine Erzählung und keine Liebe. Wir finden das u.a. in Ludvig Holbergs Theaterstück Jeppe vom Berge. Jeppe kennt das mit Namen und der Vergangenheit. Nicht zuletzt in der Szene, wo er zum Tod durch den Strang verurteilt wird. Hier ruft er nach all den Tieren und Menschen, die seinem Leben einen Wert gegeben haben. Wie ein zweiter Adam nennt er jeden einzelnen beim Namen: Da sind der Sohn Hans, die Tochter Martha und die Ehefrau Nille. Da sind der Schuster Jakob und nicht zu vergessen der Hund namens Krabask.

Aber Jeppe weiß auch, dass man an seinem eigenen Namen zweifeln kann. Das zeigt sich, als er sich plötzlich in dem Bett des Barons wiederfindet. Hier ist keiner mehr, der nach ihm ruft. Er kann kaum noch nach sich selbst rufen. Er ist anonym. Nicht einmal Nille ruft nach ihm.

Das ist ein unheimliches Erlebnis. Man stelle sich vor, man hat nicht mehr das Gefühl, am Leben zu sein als der, der man nun einmal ist.  Das ist schlimmer als der Tod – was deutlich in der Komödie von Holberg zutage tritt. Die Angst und die Leere, die Jeppe erfährt, ist psychologisch und existenziell weit mehr erschütternd als die ganze Szene mit der Verurteilung, der Hinrichtung und dem Misthaufen.

Der Mensch wohnt in seinem Namen, deshalb ist er sowohl Verlust als auch Nutzen. Dieser Gedanke findet sich in der Version der Geschichte von der Berufung im Johannesevangelium. Hier werden verschiedene Menschen berufen: Andreas, Simon Petrus, Philipp und Nathanael.  Menschen, die im Prinzip alles Mögliche heißen könnten, es aber nicht tun. Jeder einzelne Mensch wird namentlich genannt, wird herausgehoben aus der Menge und erhält im selben Augenblick eine Richtung und Orientierung. Folge mir, heißt es. Oder richtiger: Simon Petrus – auch Kefas genannt – folge mir; Philipp aus Betsaida – folge mir; Nathanael, der Israelis ohne Fehl – folge mir. Erst der Name – dann die Richtung?

Nun kann man mit einem gewissen Recht fragen, ob da eine spezielle theologische Pointe darin liegt, dass der Name genannt wird, ehe die Richtung abgesteckt wird. Ist es der Gedanke Grundtvigs: Mensch zuerst, und dann Christ, der hier im Hintergrund steht? Oder ist das bloß eine alte stilistische Form, dass man immer den Namen nennt, ehe man die Richtung vorgibt und einen Befehl gibt? Im Prinzip könnte Gott ja jedem Menschen irgendeine Richtung anweisen, ohne notwendigerweise den Namen des Betreffenden zu nennen. Er ist trotz allem Gott und kennt insoweit das Innere des Menschen besser als der Mensch selbst und braucht deshalb nur zu befehlen.

Aber das tut er bekanntlich nicht. Personifiziert in Jesus Christus – Gottes eigenem Namen – ruft er, ehe er befiehlt. Das gibt zu denken. Gott nennt uns beim Namen, ehe wir zunutze sein können. Oder Gott nennt und beim Namen, weil er uns braucht. Nicht damit wir ein spezielles Stück Arbeit verrichten sollen oder weil er uns prüfen will. Er ruft einzig und allein, weil er uns liebt, weil er jeden einzelnen Menschen liebt, ganz gleich welchen Namens und ob er zu etwas zunutze ist.

Der früh verstorbene dänische moderne Lyriker Michael Strunge bringt dieselbe grenzenlose Liebe in einem Gedicht aus seiner letzten Gedichtsammlung Mit Flügeln bewaffnet zum Ausdruck, wobei er sich auf sein eigenes allzu kurzes Leben bezieht und den Gott, der trotz allem Schmerz und Tod unsere Namen umfängt:

Keine Zelle wird jemals

unter irgendeiner Form

verloren gehen

vom Universum.

ich werde dich nie vergessen.

Ich liebe dich bis hinein in die Kniee der Sterne.

Sehr lieben ist auch weit lieben, lieben bis an das Ende der Zeiten und in alle Ewigkeit.  So stark ist nur die Liebe, die in der Liebe Gottes ruht und gründet. Nicht eine Zelle fällt auf die Erde, ohne genannt zu werden. Gott ruft, damit wir nicht fallen, damit wir nicht angst und einsam werden und im Bett landen wie Jeppe, wo man kaum weiß, ob man lebendig oder tot ist. Er ruft uns, wenn da sonst niemand ist, der uns ruft. Selbst wenn Nille nicht mehr ruft, ruft Gott. Der Name, den wir in der Taufe bekommen haben, ist der Name, denn er noch immer nennt.

In einem anderen Gedicht aus derselben Gedichtsammlung spürt man die Nähe, die zwischen Gott und dem Menschen ist:

Und Gott ist ein kleines plötzliches Gedicht,

das von einer Hand zur anderen geht

durch einen Handdruck

in einem Abteil in Ostdeutschland.

Gott ist eine Zärtlichkeit einer Adresse warm in der Hosenasche.

So nahe ist Gott am menschlichen Dasein. Seine Stimme wohnt in unserem Namen, und seinen Namen können wir festhalten, indem wir die Hand in die Hosentasche stecken. So wie er uns ruft, so können wir ihn anrufen. Wir werden ja auf einen Namen und in einem Namen getauft. Wir werden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft, und das bedeutet, dass wir wohlgemerkt unbesorgt in unserem eigenen Namen wohnen können, ganz gleich wie wir heißen.

Dieser Gedanke findet sich u.a. auch in einem anderen Gedicht Strunges wieder mit dem Titel: Gott weiß, wer wir sind. Hier erlebt man die doppelte Position des modernen Menschen: Einerseits navigiert er in einer relativen und chaotischen Welt, die sich schneller verändert, als die Zeit verbrennen kann. Andererseits die Erfahrung von Gottes Gegenwart als eine Realität selbst in einer Welt, die unmittelbar weltlich und gottverlassen aussieht, eine Welt, die sinnlos und ohne Träume zu sein scheint. Das Gedicht lautet so:

Gott weiß, wer wir sind

mit unseren Uhren

und unseren Küssen und steifen Blicken.

Wir bewegen uns durch die Welt,

und alles löst sich auf.

Die Begierde will alles in Träumen festhalten,

und man sieht, dass es zersplittert

wie dünnes Glas und Knochen.

Bei Strunge ist Gott die ewige unvergängliche Instanz, durch die wir sind – wir, die wir uns mit unserem dynamischen Verhalten durch die Welt bewegen und den Bedingungen der Vergänglichkeit unterworfen sind. Hier, wo sich alles auflöst, drängt sich die Welt in einem solchen Maße auf, dass man sie nicht unmittelbar erfassen kann, gewaltig und wahnsinnig. Die Hauptperson des Gedichts spürt deshalb keine Versöhnung mit der Welt. Vielmehr erscheint sie fremd und zusammenhanglos. Nur Gott ist. Er ist der einzige, der derselbe bleibt mitten in diesen Veränderungen.

Dies ist die Erfahrung, zu der Strunge gelangt. Trotz all der Dinge, die ihn umgeben, Uhren, Küsse und steife Blicke, trotz der Illusion, die zersplittert wie dünnes Glas und Knochen, hält der dennoch fest an Gott, der weiß, wer er ist, und der seinen Namen kennt.

Ich glaube nicht, dass zwischen dem, wovon Johannes spricht, und den Erfahrungen Strunges ein großer Unterschied besteht. Gott ruft uns, damit wir nicht uns selbst überlassen bleiben. Er ruft uns und nennt uns bei Namen, auch wenn der Schmerz und der Tod sich melden. Andreas, Simon Petrus, Philipp und Nathanael, Jeppe, Strunge – alle Namen wo auch immer. Gott liebt uns ja bis in die Kniee der Sterne, und weiter kann man wohl nicht gehen. Deshalb hören den Bericht von der Berufung. Er erinnert uns an die Stimme Gottes, die Stimme, an der wir im Gottesdienst festhalten, indem wir den Namen des Herrn loben und preisen. Amen.

Pastor Anders Kjærsig

5881 Skårup Fyn

Emal: ankj(at)km.dk

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