Danach sehnt sich mein Herz

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Danach sehnt sich mein Herz

Predigt zu Hiob 19, 19-27 | verfasst von Gert-Axel Reuß |

Liebe Gemeinde,

wer einmal – zur bestimmten Zeit des Jahres – über den berühmten Weihnachtsmarkt im Lübecker Heilig-Geist-Hospital schlendert, wird es kaum wahrnehmen, das riesige Fresko an der Stirnwand zum Lettner. Beim Schlendern von Bude zu Bude ziehen die kunsthandwerklichen Kostbarkeiten alle Blicke auf sich. Wer zufällig einen Blick nach oben in die jahrhundertealte, hölzerne Dachkonstruktion wirft – ein wirkliches Kirchenschiff – der entdeckt im Halbdunkel die Umrisse einer Kreuzigungsgruppe und mag sich an den ursprünglichen Zweck dieser Halle erinnern: er/sie steht in einem mittelalterlichen Hospital, einem Krankenhaus und Pflegeheim.

Wie passt das bloß alles zusammen, die Gebete der Alten, Kranken und die dann in der Weihnachtszeit zugleich erlebbare Vorfreude? Passt es zusammen? Und passt es nun zur Passionszeit?

I.

Das Buch Hiob gehört zu den rätselhaftesten und zugleich großartigsten Büchern der Bibel. Dass Gott mit dem Teufel eine Wette abschließt, ist so unvorstellbar wie der Tod jedes/r Unschuldigen. „Nein, so ist Gott nicht!“ möchte man mit Hiob herausschreien und steht doch zugleich vor dem Rätsel, dass Glück und Unglück, Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut so ungleich verteilt sind in dieser Welt. Ob wir (oder doch die meisten von uns) auf der Sonnenseite des Lebens eine ähnliche Glaubensstärke wie Hiob in uns tragen und bekennen: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!“?

Oder ist es doch andersherum? Dass die, die ein hartes Schicksal getroffen hat, so dass sie im Staub oder auf den Tod liegen, uns Glückliche, Gesunde (und vielleicht auch materiell Reiche) stärken und trösten? Ich habe es gelegentlich erlebt, dass ich als Seelsorger mit bangem Herzen das Zimmer einer Kranken betreten und es getröstet wieder verlassen habe; habe erlebt, dass ich gerade dort Glauben und Leben fand, wo ich nur Krankheit und Tod zu begegnen erwartete.

II.

Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. so klagt Hiob. Manche, die Krankheit oder Unglück getroffen hat, kennen solche Berührungsängste nur allzu gut. Ich vermute, dass ein solches Distanzverhalten der Gesunden im Grunde eine natürliche, wenn auch unbewusste menschliche Reaktion ist. Ich vermute, dass fast alle die diffuse Angst kennen, sich anzustecken bzw. mit in den Abgrund gerissen zu werden. (D.h. wir kennen diese Angst nicht, deshalb beherrscht sie uns.) Deshalb sind wir – wie die Freunde Hiobs – mit Erklärungen und Ratschlägen schnell bei der Hand. So versuchen wir, die unsichtbare Gefahr zu bannen, dass auch uns ein solches Schicksal treffen könnte. Und bemerken selten, dass wir in solchen Situationen mehr bei uns selbst sind als bei dem/r Kranken.

Ja, es ist schwer auszuhalten, jemanden leiden zu sehen. Die Erfahrung solcher Ohnmacht erinnert uns daran, wie das Leben ist. Dass wir nicht alles im Griff haben, dass auch sterben müssen. Hiobs Geschichte erinnert uns daran, wie schnell aus Mitleid Selbstmitleid werden kann. Und dass damit niemandem gedient ist, am wenigsten dem Kranken.

III.

„Stöhnen ist die halbe Arbeit.“ ist das geflügelte Wort unserer Tante, die nun – über 90jährig – Pandemie-bedingt eingesperrt ist in einem Pflegeheim. Ein Besuch alle zwei Wochen, mehr kann die Einrichtung unter den gegebenen Umständen nicht leisten. ‚Hätten wir das geahnt …‘ denken meine Frau und ich manches Mal. Aber unsere Tante ist – trotz all der Misslichkeiten – meistens gut gelaunt. Sie beklagt sich nicht. Vielleicht auch deshalb, weil es einen Unterschied gibt zwischen Klagen und Sich Beklagen. Vielleicht auch deshalb, weil Klagen menschlich ist und gut tut.

Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen!

Hiobs Freunde halten seine Klage nicht aus. Sie können sie nicht hören, und so könnte man vermuten, dass Hiobs Wunsch, „dass seine Reden aufgeschrieben würden, … für immer in einen Felsen gehauen“, eine bleibende Anklage ist gegen sie, die weggelaufenen Freunde ist. Ja, es mag sein, dass diese die Inschrift als solch eine Anklage gegen sich selbst verstehen müssen. Aber sind sie die eigentlichen Adressaten?

Für mich ist es kein Zufall, dass das Buch Hiob in der Bibel unmittelbar vor den Psalmen steht. Ein Blick – ein paar Seiten weiter geblättert – fällt auf mehr als 50 Klagepsalmen. Vielleicht nicht ‚für immer‘ aufgeschrieben, aber uns Menschen seit langem an die Hand gegeben. Als Hilfe, wenn uns die Worte fehlen.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ betet Jesus am Kreuz. Manche haben in diesem Ruf den Ausdruck größter Verzweiflung gesehen, die Klage absoluter Gottesferne. Das ist vermutlich nicht ganz falsch. Und es ist dennoch nur die ‚halbe‘ Wahrheit, denn diese Worte sind nur der Anfang des 22. Psalms. Denn weiter geht es: „Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe. Aber du bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels. Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus. Zu dir schrien sie und wurden errettet.“ (Psalm 22, 2-6a)

Die Klage Jesu wie die Klage Hiobs ist eine Ermutigung: „Du bist nicht allein in deinem Elend. Es gibt einen, der dich hört; der mit dir leidet und dir beisteht in deiner Not!“

IV.

Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!

Für manche sind Hiobs Worte Musik, sie hören sie als Arie aus Georg Friedrich Händels Messias/Messiah.

Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Vielleicht nicht in Felsen gemeißelt, aber inniger, eindringlicher, schöner kann ich mir die Erfüllung von Hiobs Wunsch nicht vorstellen. Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!

Händel selbst führte das Oratorium meistens in der Fasten- und Osterzeit auf, aber zumindest der erste Teil des Messias wird häufig zu Weihnachten musiziert. Vielleicht öffnet der zu Beginn gegebene Verweis auf den beschriebenen Weihnachtsmarkt auch in der jetzigen Passionszeit doch auch ein wenig die Herzen der Menschen für diese Botschaft.

In früheren Jahrhunderten war das Lübecker Heilig-Geist-Hospital wirklich ein Spital. Die hölzernen Buden sind eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, um den Bewohnern des Alten- und Pflegeheims in der gotischen Halle etwas Privatsphäre zu geben. Wer sich diese weg-denkt, der könnte sich einen sehr großen Krankensaal vorstellen mit vielleicht 60-80 Betten. Den Pflegebedürftigen der alten Hansestadt wird geholfen so gut es irgend geht. Die materiellen Grundlagen dafür hatte ein erfolgreicher Kaufmann gelegt, der sein Vermögen in diese Stiftung tat.

Aber viele Krankheiten und Gebrechen waren damals unheilbar, und so warteten die meisten wohl auf den Tod.

Für das Seelenheil dieser Menschen hatte Bertram Morneweg – so der Name des Kaufmanns – eine überlebensgroße Kreuzigungsgruppe auf die Stirnwand des Saals malen lassen mit Maria und Johannes. In ihren wachen Momenten sollten die Kranken den leidenden Jesus sehen können, als Trost in ihrer eigenen Not. Vielleicht gehen ihre Blicke auch zu Maria und Johannes, jetzt, wo ihre eigenen Angehörigen nicht mehr bei ihnen sein können bzw. dürfen.

Von Jörg Zink stammt eine Formulierung, die ich in einem seiner Gebete gefunden habe:[1] (Jesus,) „Meister des Lebens, an dir sehen wir, was es heißt, ein Mensch zu sein. Durch dein Antlitz hindurch schauen wir das Antlitz Gottes. Wo du bist, verwandelt sich die Welt.“

V.

In der Passionszeit bedenken wir das Leiden und Sterben Jesu Christi. Manche schreckt das ab – so wie Hiobs Freunde ihren Gefährten nicht leiden sehen können. Ich kann das verstehen, mir geht es gelegentlich genauso. Glücklicherweise werde ich trotzdem dann und wann mit der österlichen Erfahrung konfrontiert, dass mit dem Tod Jesu das letzte Wort Gottes noch nicht gesprochen ist, übermittelt von Menschen, die ihrem eigenen Tod entgegensehen. Dann denke ich: ‚So möchte ich auch glauben können.‘

So möchte ich auch glauben können. Jetzt. Heute, wo es mir gut geht und mir nichts zum Leben fehlt. Möchte glauben, dass Gott uns nahe ist und beisteht. Denn er tut es ja!

In solchem Glauben brauchen wir den Leidenden nicht mehr auszuweichen, brauchen sie nicht mehr wegzuschließen in Krankenhäusern und Pflegeheimen (auch wenn wir auf manches Zeichen der Nähe, auf Berührungen etwa, aus Vorsicht momentan verzichten). Wir gewinnen die Kraft, mit ihnen zu schweigen, zu klagen und zu weinen. Und werden dabei lebendig, mehr Leben als in solchen Begegnungen geht nicht. In denen – o Wunder – auch gelacht und Freude geteilt wird.

Ich weiß, dass mein Erlöser lebt! Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.

Amen.

 

Gert-Axel Reuß

Domprobst

Domhof 35

23909 Ratzeburg

Mail: reuss@ratzeburgerdom.de

Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor der Nordkirche, seit 2001 Domprobst zu Ratzeburg

 

[1] Jörg Zink, Wie wir feiern können, Stuttgart 1992, S. 100f: „Jesus, Bruder und Begleiter, wir sehen dich aus der Ferne und über den unendlichen Abstand der Zeit … Du bringst die Kraft Gottes und bist schwach mit den Schwachen … Meister des Lebens, an dir sehen wir, was es heißt, ein Mensch zu sein. Durch dein Antlitz hindurch schauen wir das Antlitz Gottes. Wo du bist, verwandelt sich die Welt.“

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