Das nackte Leben

Das nackte Leben

Predigt zu 1. Kor 15 | verfasst von Dr. Sven Keppler |

 

I. Liebe Leserinnen und Hörer,

ich wünsche Ihnen ein frohes, ein gesegnetes Osterfest! Auch wenn es für Sie vielleicht ein Fest ohne Gottesdienst ist. Ohne Liturgie. Ohne brennende Osterkerze, die in die Kirche getragen wird. Der Grund, warum wir Ostern feiern, bleibt davon unberührt: Der Tod ist besiegt! Jesus Christus ist von den Toten auferstanden! Gott hat den Tod überwunden und das Leben siegen lassen! Heute feiern wir das Fest des Lebens!

In diesen Tagen beweist die Menschheit, dass das Leben ihr höchstes Gut ist. Es überwältigt mich, was wir im Moment erleben. Die gesamte Weltbevölkerung hat sich verbündet für das Leben. Wann ist das jemals geschehen? Überall auf der Erde haben Menschen ihren Alltag grundlegend verändert – für das Leben.

Die Menschheit hat sich entschieden: Wohlstand ist nicht das höchste Gut. Wir sind bereit, die Wirtschaft einzuschränken. Wir nehmen sogar ihr Schrumpfen in Kauf, wenn wir dadurch Leben bewahren können. Wer hätte das gedacht! Nachdem es lange so schien, als würden wir dem Wachstum und dem Wohlstand alles unterordnen.

Die Menschheit hat sich auch entschieden: Spaß und Unterhaltung sind nicht der Sinn des Lebens. Sportereignisse sind abgesagt. Wir verzichten aufs Shoppen. Das gesamte Kulturleben ist heruntergefahren. Online schaffen wir Ersatz, so weit es geht. Aber wir nehmen Einsamkeit und Langeweile in Kauf – für das Leben.

Auch sonst hat sich die Menschheit entschieden, alles dem Schutz des Lebens unterzuordnen. Die Einrichtungen der Bildung sind geschlossen. Orte der Geselligkeit sind verwaist. Der Gottesdienst ist aus der Öffentlichkeit in virtuelle Räume verlegt worden. Auf der ganzen Linie haben Verantwortungsträger und Bevölkerung entschieden: Wir wollen dem Einsatz für das Leben alles Andere unterordnen.

Ich finde das bewegend. Es gibt ja genügend Gründe, der Menschheit eine solche Entschiedenheit nicht zuzutrauen. Denken Sie an das Versagen in der Ökologie: Wirtschaftliche Interessen, Bequemlichkeit und Egoismus verzögern seit Langem das notwendige Umsteuern. Denken Sie an die zahllosen Kriege, in denen das Leben geopfert wird für egoistische Interessen und verquere Ideen.

Aber in der Corona-Pandemie zeigt die Menschheit, dass sie tatsächlich kämpft für das Leben als ihr höchstes Gut. Selbstverständlich soll auch die Wirtschaft dem Leben dienen. Auch die Kultur und die Bildung. Aber im Moment zeigt sich: Das Wichtigste ist nicht das verfeinerte Leben. Das gesteigerte und kultivierte Leben. Sondern das nackte Leben selbst.

 

II. Das Wichtigste ist das Leben. Das ist auch die Botschaft des Osterfestes. Paulus zeigt das im 15. Kapitel seines Briefes an die Gemeinde in Korinth. Das Leben ist der Anfang und die Mitte seines Evangeliums: Jesus, der gestorben und begraben war, ist auferstanden. Wenn Jesus nicht auferstanden wäre und lebte, dann wäre unsre Predigt vergeblich. Auch euer Glaube wäre vergeblich, schreibt Paulus.

Und nicht nur Christus selbst lebt, sondern durch ihn werden alle leben. Die Vernichtung des Todes ist der Höhepunkt und das Ziel der Heilsgeschichte. Im Sieg des Lebens zeigt sich, dass die ganze Welt Gott untertan ist.

Das Osterfest ist deshalb das Fest des Lebens. Des neuen Lebens. Der Sieg des nackten Lebens. Denn das Leben der Auferstehung kann nicht erwirtschaftet werden. Es kann auch nicht durch Bildung oder Geselligkeit erlangt werden. Es ist auch nicht der Gipfel einer kulturellen Entwicklung. Sondern so nackt, wie Jesus gestorben ist, so geht er auch in das neue Leben der Auferstehung. Niemand kann ein anderes Gut mitnehmen außer dem Leben selbst.

Im Osterfest ist die Sehnsucht der Menschheit erfüllt. Im Moment erleben wir, dass wir alles dem nackten Leben unterordnen. Heute, am Ostermorgen, dürfen wir uns sagen lassen: das Leben hat gesiegt! Gott hat gesiegt! Der Gott des Lebens hat den Tod überwunden und uns allen das Leben eröffnet!

 

III. Wie passt das jedoch zu dem Jesuswort, über das vor vier Wochen zu predigen war? Am Sonntag Okuli, als in vielen Kirchen vorerst zum letzten Mal Gottesdienst gefeiert wurde. Jesus sagt: Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren. Bedeutet das: Wir sollen uns nicht an unser Leben klammern? Wir sollen es nicht so wichtig nehmen?

Ist es für Jesus ein Fehler, das nackte Leben über alles zu stellen? Ist der Glaube wichtiger? Und die Bereitschaft, das Leben unterzuordnen? Ich möchte das nicht verschweigen: Es gibt durchaus die Stimmen, die die Hochschätzung des Lebens kritisch sehen.

Beim Geburtstag wünschen sich Viele: „Vor allem Gesundheit!“ Und die Kritiker sagen: Gesundheit ist doch nicht alles. Der Märtyrer zeichnet sich dadurch aus, dass er den Glauben über das Leben stellt. Dass er bereit ist, für den Glauben zu sterben. In Kriegszeiten war es sogar für Viele verächtlich, am Leben zu hängen. Sich für die Gemeinschaft zu opfern galt als wahres Heldentum.

Abschätzig karikiert Nietzsches Zarathustra die „letzten Menschen“: „Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher.“1 Ist es verweichlicht, das Leben über alles Andere zu stellen?

 

IV. Liebe Gemeinde, ich glaube, das ist Heidentum. Falscher Heroismus. Zu Ostern hat Gott ein für allemal gezeigt: Das Wichtigste ist das Leben. Glaube und Leben sind kein Gegensatz. Sondern der Glaube führt ja gerade ins Leben. Das Ziel des Glaubens ist das Leben. Das wahre Leben.

Dieses Leben ist etwas Anderes als die Behaglichkeit der letzten Menschen. Es ist nicht verzärtelt und bequem. Es ist das nackte Leben. Das Leben, in das Jesus durch den Tod gegangen ist. Ein hart erworbenes Leben. Aber es ist das Leben! Das Opfer ist nicht der Sinn unserer Existenz. Der Heroismus ist nicht das Höchste. Sondern das Ziel ist das Leben.

Das Osterfest zeigt, was dieses Leben ausmacht. Auf zwei Dinge möchte ich Ihre Aufmerksamkeit richten. Das Eine: Jesus ging es um das Leben der Anderen. Beim Sieg des Lebens siegt nicht der Egoismus. Sondern der Einsatz für das Leben der Anderen.

Als Gottes Sohn hätte er nicht sterben müssen. Nach Philippi schrieb Paulus in einem anderen Brief: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.

Jesus hat sich nicht an sein Leben geklammert. Aber sein Ziel war nicht das Opfer. Sein Beweggrund nicht die Verachtung des Lebens. Sondern es ging ihm um das Leben der Anderen. Sie, uns hat er durch seinen Tod und seine Auferstehung gerettet.

Ich gebe zu: Als die Corona-Krise begann, habe ich die Vorsichtsmaßnahmen nicht sofort ernst nehmen können. Ich wollte anderen weiter die Hand geben. Und wollte auch möglichst lange Gottesdienste feiern. Überzeugt hat mich vor allem ein Argument: Es geht doch gar nicht um mich. Sondern um den Schutz der Anderen. Der Gefährdeten. Der Menschen mit angegriffener Gesundheit. Für sie will ich nicht zum Überträger werden. Es ist wie bei den Masken: Ich trage sie nicht, um mich, sondern um andere zu schützen. Auch das hat Corona viele Menschen gelehrt: Es geht um das Leben der Anderen.

 

V. Der zweite Gedanke ist der Wichtigste: Ostern ist das Fest des Lebens – aber nicht bloß des bewahrten leiblichen Lebens. Sondern das österliche Leben ist unendlich viel größer. Es ist das Leben, das den Tod überwunden hat.

Nicht nebenbei, nicht im Vorübergehen. Sondern Jesus musste durch den Tod hindurchgehen um dieses Leben zu eröffnen. Ostern ist das Fest des ewigen Lebens. Ostern ist deshalb der Sieg für alle Menschen. Auch für diejenigen, die den Kampf gegen das Corona-Virus verloren haben. Auch für die Angehörigen, die um einen verstorbenen Menschen trauern. Ostern ist auch der Sieg über die Angst.

Daraus darf nicht der falsche Schluss gezogen werden, unser jetziges Leben sei nur zweitrangig. Nein: Gott ist der Gott des Lebens. Auch unseres Lebens hier und jetzt. Aber das Leben, das Gott uns eröffnet, ist unendlich viel mehr. Es ist das ewige Leben. Das Leben, in das wir nackt gehen, ohne etwas mitzunehmen. Das vollendete Leben, geborgen in Gottes unendlicher Liebe. Amen.

 

 

 

Pfarrer Dr. Sven Keppler

Versmold

sven.keppler@kk-ekvw.de

 

Sven Keppler, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen. Seit 2010 Pfarrer in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Versmold. Autor von Rundfunkandachten im WDR.

 

1Quelle: Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. Zarathustra’s Vorrede 5, in: KSA 4, S. 19f.

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