Dein Glaube ist so stark …

Home / Bibel / Neues Testament / 01) Matthäus / Matthew / Dein Glaube ist so stark …
Dein Glaube ist so stark …

Dein Glaube ist so stark wie deine Verzweiflung | Reminiszere 2021 | Psalm 42,2-4 und Matthäus 15,21-28 (dänische Perikopenordnung) | von Marianne Christiansen |

Ein ausgetrockneter Bach, ein Hirsch, der schreit. Da ist kein Wasser. Der Hirsch kann das Wasser nicht zurückrufen. Sein Schrei ist Ausdruck von Verzweiflung und Ohnmacht.

Warum eigentlich verwenden wir Tiere als Bilder, wenn wir beschreiben wollen, was es heißt ein Mensch zu sein? Dass dies sein kann wie ein Hirsch, ein Wurm, ein Löwe, ein Zugvogel, eine Maus in einem Loch, ein Bär im Winterschlaf. Tiere verstehen wir als Nicht-Menschen. Vielleicht tun wir das, weil wir uns selbst gerade im Fremden besser verstehen können. Vielleicht tun wir das, um unserer menschlichen Einsamkeit zu entkommen, indem wir daran denken, dass es auch andere Lebewesen in der Welt gibt als uns und dass wir mit ihnen verbunden sind. Vielleicht verstehen wir Tiere besser als Menschen.

Wie der Hirsch schreit, weil er durstig ist, so sehnt sich meine Seele nach dir, Gott. Wir wissen nicht, ob der der Mensch das einzige Wesen ist, das nach Gott fragt, nach Sinn im Leben, nach Hoffnung. Aber wir wissen, dass wir es tun.

Manche denken nicht oft daran, andere suchen täglich nach Gott, nach einem Gefühl, mit Gott verbunden zu sein. Nähe zu spüren – zu merken, dass ich nicht allein bin in diesem Universum oder dass wir nicht allein sind.

Es ist schwer, über das Verhältnis zu Gott zu sprechen. Jeder einzelne Mensch hat das in sich als ein Fragen und ein Suchen – manchmal als ein ganz geborgenes Gefühl, in Übereinstimmung mit Gott zu sein und mit ihm immer reden zu können. Zu anderen Zeiten ist es als rufe man ins Leere.  „Wo bist du, o Gott! Bist du überhaupt?“ Auch wenn ich dies schreibe, weiß ich nicht, ob das richtig ist, dass es sich so für andere als mich verhält. Das Gottesverhältnis ist wie andere Gefühle von Liebe und Furcht etwas Unbeschreibliches, und wir wissen im Grunde nicht, ob es den anderen so geht wie uns selbst. In den Worten, in der Musik und der Kunst können wir das Gefühl haben, dass andere etwas fühlen, das dem ähnelt, was wir selbst fühlen – und das ist ein Trost.

Der Psalm aus dem Alten Testament bringt Verzweiflung zum Ausdruck, wenn er nach Gott sucht und keine Antwort erhält. In dem Psalm findet sich keine andere Antwort als die, die sich der Autor selbst gibt:

Was betrübst du sich, meine Seele?

Und bis so unruhig in mir?

Harre auf Gott!

Das ist keine Antwort, die für den Hirsch etwas ändert: Der braucht Wasser, und der kann kein Wasser bekommen. Niemand kann eine ausgetrocknete Quelle dazu bringen auszuspringen. Man muss nur warten.- Aber die Antwort ist die die einzige, die man in vielen Lebenslagen geben muss: Du musst warten. Die Antwort enthält die stille Hoffnung, dass etwas zu erwarten ist. Auch wenn du überhaupt nichts tun kannst.

Vom Hirsch an der ausgetrockneten Quelle wenden wir uns der Frau zu, die in der Erzählung aus dem Matthäusevangelium wie ein Hund abgelehnt wird. Die kanaanäische Frau, die um Hilfe für ihre Tochter bittet, ist ausgeschlossen und ohnmächtig. Sie gehört einem fremden Volk an und hat keine Rechte ihm gegenüber ihm, den die Anderen Christus nennen, den gesalbten König. Er gehört dem jüdischen Volk an und versteht sich offenbar so, dass er nur denen helfen soll, die zu seinem eigenen Volk gehören.

Wie der Hirsch schreit sie. Und Jesus antwortet ihr kein Wort. Er, den wir als das Wort Gottes bekennen, die Liebe selbst, weist einen Menschen in Not zurück.

Schweigen, Leere, Verzweiflung. Da steht sie. Wie so unendlich viele Menschen vor und nach ihr, die gerufen, geschrien und gebetet haben: „Hilf mir, Herr!“ – Da kam keine Antwort.

Was Jesus sich dabei gedacht hat, können wir ja nicht wissen, aber was er sagte, ist zu verstehen: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“.  Der Sohn Davids zu sein bedeutet offenbar für Jesus, dem Volk Davids zu helfen, den Juden, nicht allen möglichen anderen. Es hat seine Grenzen, man kann ja nicht allen helfen. Die Frau und ihre Tochter gehören leider nicht mit dazu, sie gehören dem falschen Volk an, sie sind ohne Rechte.

Das ist eine wirklich menschliche und logische Begründung, die wir heutzutage gut kennen und verwenden. Jesus erweist sich als durchaus menschlich in seiner Ablehnung, er nennt die Frau und ihr fremdes Volk kleine Hunde im Vergleich zu den eigenen Kindern des Landes.

Das sollte ja die Frau zur Verzweiflung bringen, so dass sie aufgibt. Aber das geschieht nicht. Sie nimmt den Tiernamen an und zeigt ihm die Gemeinschaft mit dem Fremden. Der Name Hund wird verächtlich auf Menschen bezogen, um ihnen ihre menschliche Würde zu nehmen. Aber die Frau nimmt Jesus beim Wort und wendet es gegen ich selbst: „Ja, dann sagen wir, ich bin ein kleiner Hund, aber das entbindet dich nicht von der Pflicht, mir zu helfen. Die kleinen Hunde essen dasselbe Brot wie die Kinder – sie leben von demselben. Und wenn du das Brot bist, das Leben und die Hoffnung, die Gott min die Welt gesandt hat, dann gehörst du auch mir“. In dieser Antwort der anonymen Frau sammelt sich die Hoffnung aller gedemütigten Menschen: „Nenne mich, was du willst – ich bin noch immer ein Mensch, gerade auch wenn du mich ein Tier nennst“.

Und dann erhebt sich Jesus mit einem neuen Verständnis dessen, wer Christus ist und was seine Aufgabe ist. Er gibt nach: „Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst!“ Ihr Glaube, ihr beständiger Schrei nach Hilfe, treibt Jesus über die Grenze – über die Grenzen seines Volkes, über die Grenze zwischen dem unfehlbar Göttlichen und dem verletzlichen und fehlbaren Menschenleben, über seine eigenen Grenzen hinaus.

Irren ist menschlich, sagen wir. Vielleicht ist dieser Bericht von der Begegnung zwischen Christus und der fremden Frau die am meisten evangelische, also erfreuliche Geschichte von allen. Jesus irrt sich und wird von einer fremden Frau korrigiert, die in Not ist. Der Menschensohn irrt, akzeptiert Belehrung und bekehrt sich. Gehe einen anderen Weg. Wenn wir nach Gott in Jesus suchen, dann finden wir einen Gott, der sich von der Not bewegen lässt und der sagen kann: „Du hast Recht, ich habe mich geirrt. Dir geschehe, wie du willst. Deine Sehnsucht siegt“.

Nach der Begegnung mit dieser Frau geht Jesus einen neuen Weg. In der Erzählung des Evangeliums hat er gerade tausende Menschen aus seinem eigenen Volk mit fünf Broten und zwei fischen gesättigt und Menschen geheilt. Nun geht er weiter zu all denen, die sein eigenes Volk Heiden nennen, und heilt und sättigt auch hier Tausende, hier mit sieben Broten und zwei Fischen. Was im Menschen Jesus gegeben ist, ist allen gegeben. Das Brot des Lebens – als Brosamen, Reste, Manna, Sinn. Da ist genug für alle.

Das neue Licht auf Gott, das wir in Jesus erhalten, ist auch neues Licht über das, was es heißt ein Mensch zu sein: Dass wir dasselbe Brot teilen. Das wir uns bewegen lassen von dem verzweifelten Ruf, dass wir die Hoffnung haben dürfen, dass die Ding e nicht bloß so sind, wie sie sind, sondern dass es anders werden kann. Und wir können aus unseren Fehlern lernen und einen anderen Weg gehen. Das gilt auch für unseren Lebensstil in der Gemeinschaft mit anderen Geschöpfen, Tieren und Menschen, alle die, die an den trockenen Quellen nach frischem Wasser schreien. Und dass wir stets das Selbstbewusstsein haben, dass jeder von uns eine einzigartige kleine Stimme hat, die das recht hat zu schreien und gehört zu werden. Nichts und niemand kann uns unsere Würde nehmen, ganz gleich, was wir genannt werden oder wie wir uns selbst nennen.

Es gibt einen fast fünfhundert Jahre alten Chorsatz des Komponisten Palestrina über den Psalm „Wie der Hirsch schreit“, lateinisch Sicut cervus. Während die Stimmen von dem Hirsch singen, der nach dem Wasser schreit, erklingen die Töne so als sei das still strömende Wasser schon da. Erst wenn sie zu dem lateinischen Wort Anima mea kommen, meine Seele, ist da eine Dissonanz, so als breche die Menschenseele ein in die Harmonie mit einem Schmerz und einer Sehnsucht. Die Seele ist allein, aber kurz darauf kommt das Wort Gott mit demselben Ton. Die Seele begegnet Gott in der Verzweiflung, und das weiß die Musik. Deshalb beruhigt sie sich, noch bevor eine Antwort erfolgt ist.

Diese Musik klingt wie der Glaube daran, dass eine Antwort kommt und dass Gott nicht gleichgültig ist oder fern oder gar nicht da. In dem Psalm ist sind der Zweifel und die Verzweiflung gleichzeitig mit dem Glauben: Die Verzweiflung – der Schrei des Hirschen nach Wasser, der Schrei der Seele nach Hoffnung – ist begleitet von der anderen Stimme, die sagt: „Harre auf Gott. Da ist ein Du, mit dem du sprichst und das dich hört, auch wenn du ins Leere rufst, dass du ganz allein bist. Dein Glaube ist so stark wie deine Verzweiflung. Und du wirst eine Antwort erhalten“.

Bis wir selbst das erfahren, haben wir das Wort und die Erzählung von der Begegnung Jesu mit der fremden Frau, um die Hoffnung am Leben zu halten. Amen.

Bischöfin Marianne Christiansen

Ribe Landevej 37
6100 Haderslev

Email: mch(at)km.dk

de_DEDeutsch