Den Blick öffnen

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Den Blick öffnen

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


(Zur Übersicht der
Predigtreihe)

Predigtreihe „Facetten gelebter
Frömmigkeit“

„Den
Blick öffnen“, Wolfgang Steck


Den Blick öffnen

Begrüßung zur Predigtreihe

‚Wenn du fromm bist, dann kannst du den Blick
frei erheben.‘ Mit diesem Wort aus der uralten Geschichte von Kain und
Abel begrüße ich Sie alle zu unserem 1.
Universitätsgottesdienst in diesem Semester.

‚Facetten gelebter Frömmigkeit‘
– so lautet diesmal das Thema unserer Gottesdienstreihe. In 7
Gottesdiensten werden wir das Album der Frömmigkeit durchblättern,
Seite für Seite. Jedesmal wird uns die im Alltag gelebte Frömmigkeit
in einer anderen Gestalt begegnen. Zuerst nehmen wir die
Relflexionsfrömmigkeit in den Blick, den religiösen Wissensdurst, der
uns dazu drängt, den Rätseln des Lebens auf die Spur zu kommen und
‚die Welt zu ergründen‘. Dann wenden wir uns der
persönlichsten aller Frömmigkeitspraktiken zu, dem intimen
Zwiegespräch, in dem miteinander vertraute Menschen einander ‚das
Herz ausschütten‘. In der Adventszeit konzentrieren wir den Blick
zuerst auf die meditative und dann auf die festlich gestimmte Frömmigkeit:
‚In sich gehen‘ und ‚Sich verzaubern lassen‘. Im neuen Jahr
werden wir dann die Tatfrömmigkeit betrachten, die den Lauf der Welt nicht
sich selbst überläßt, und die rituelle Frömmigkeit, die
den Ablauf des Alltags regelt: ‚In Angriff nehmen‘ und ‚In
Ordnung bringen‘. Jede und jeder von uns wird sich im Panorama der
Frömmigkeitsstile wiederfinden, die eine hier, der andere dort. Vielleicht
entdecken wir bei der Betrachtung der Frömmigkeitsgalerie aber auch, wie
sich die Formen alltagspraktischer Spiritualität miteinander vermischen.
Am Ende entsteht dann ein neues, ein persönlich getöntes Bild
individueller Frömmigkeit, selbst entworfen und selbst koloriert.

Heute schlagen wir das Titelblatt unseres
Frömmigkeitsalbums auf, die Frömmigkeit des freien Blicks oder:
Frömmigkeit als Lebensoptik. Fromm zu sein ist nicht jedermanns Sache,
jedenfalls dann nicht, wenn wir an eine bestimmte Sorte von Frommen denken, an
die Frömmler, die sonntags mit gesenktem Blick zur Kirche gehen und
werktags mit Scheuklappen durch die Welt stolpern – so als würde einem die
Frömmigkeit die Aussicht auf die Wirklichkeit verstellen und einen vom
wirklichen Leben fernhalten. Je mehr einer sich der Frömmigkeit
verschreibt, umso eingeschränkter wäre dann sein Gesichtsfeld. Wer
die Frömmigkeit für sich entdecken, wer ihr in ihren
vielfältigen lebendigen Gestalten begegnen will, der muß sich eine
andere Sichtweise angewöhnen; er muß den Kopf heben, hinauf zum
Himmel, und den Blick öffnen, hinaus in die Weite.

Der freie Blick des Glaubens meint aber nicht nur
die Fähigkeit, sein Auge über das weite Feld der Frömmigkeit
schweifen zu lassen. Wenn du fromm bist, dann kannst du deinen Blick frei
erheben – das meint zugleich auch eine religiöse Grundeinstellung, die
alle Frömmigkeitsformen untereinander verbindet, eine religiöse
Leitperspektive, in der sich die vielfältigen Strahlen der
Wirklichkeitssicht bündeln.

Von der Frömmigkeit und ihrem
Gegenstück, von der freien Sicht und vom verblendeten Blick, handelt die
kleine Szene aus der biblischen Urgeschichte. Sie spielt draußen in der
Weite der Prärie, zwischen Himmel und Erde, dort wo sich der Blick frei
entfalten kann; wenn er sich nicht selbst begrenzt. Kain und Abel stehen an
ihren Altären. Beide tun dasselbe; sie feiern Gottesdienst. Aber ihre
Augen sehen nicht das gleiche. Abels Augen gleiten an der dichten
Rauchsäule entlang, die geradlinig in die Höhe steigt, bis sich der
Blick in der Weite des Himmels verliert. Kain ist kurzsichtig. Er sieht nur,
wie die dünnen Schwaden seines Brandopfers zur Seite wegziehen – so malen
die Kinder die Szene noch heute. ‚Da ergrimmte Kain sehr und senkte
finster seinen Blick.‘ ‚Warum ergrimmst du?‘ fragt Gott, fast
so, als wären wir bei Don Camillo in der Kirche. ‚Warum senkst du
deinen Blick? Wenn du fromm wärst, dann könntest du deinen Blick frei
erheben. Dann könntest du die Linie sehen, die Erde und Himmel miteinander
verbindet; aber der Weitblick ist wohl nicht so deine Sache. Du siehst nur die
Dunkelheit in deinem Herzen.‘ Die Geschichte vom unfreien Blick – wir
wissen es – nimmt ein schlimmes Ende. ‚Gehen wir aufs Feld‘, sagt
Kain zu seinem Burder. Und als sie auf dem Feld waren, erhob er seine Hand und
schlug seinen Bruder tot.

Vielleicht hatte Jesus die Geschichte vom
bösen Blick im Kopf, als er seinen Zuhörern eine Lektion über
die Anatomie der Frömmigkeit erteilte: ‚Das Auge ist das Licht des
Körpers. Wenn dein Auge lauter ist, dann wird dein ganzer Körper
licht sein. Wenn dein Auge aber böse ist, dann wird dein ganzer
Körper finster sein. Denn wenn das Licht, das in dir ist, Finsternis ist,
wie groß wird dann die Finsternis sein.‘

Wir feiern unseren Gottesdienst im Namen des
Vaters, der am ersten Tag das Licht erschuf, im Namen des Sohnes, der den
Blinden das Augenlicht zurückgab, und im Namen des Geistes, der die
Wirklichkeit licht und klar werden läßt.

Bei dir, Gott, ist die Quelle des Lebens. In
deinem Licht sehen wir das Licht.

PREDIGT Mt 23, 23-28

Wehe euch, ihr Verblendeten; ihr siebt Mücken aus und
verschluckt Kamele! Wehe euch, ihr Heuchler, ihr reinigt Becher und
Schüsseln von außen; aber im Innern seid ihr voller Raub und Gier!
Du blinder Pharisäer, reinige zuerst das Innere des Bechers, damit auch
das Äußere rein wird! Wehe euch, ihr seid wie übertünchte
Gräber; von außen sehen sie hübsch aus, aber drinnen sind sie
voller Totengebeine und lauter Unrat! Wehe euch, ihr Heuchler, ihr gebt den
Zehnten und laßt das Wichtigste beiseite: das Recht, die Barmherzigkeit
und den Glauben!

(Mt 23, 23-28)

1. Es gibt Situationen, da fehlen einem einfach die passenden
Worte. Wenn einen der Zorn packt, wenn einem der Kragen platzt, dann reicht der
feine Duden nicht mehr aus. Dann muß eine andere Sprache her. Zuerst ist
man sprachlos; man ringt nach Worten und fängt zu stottern an. ‚Ihr
seid doch alle …, ach was, wenn ich euch sehe, dann bleibt mir einfach die
Luft weg, da verschlägt es einem ja die Sprache‘. Dann folgt die
zweite Runde. Die Gegner werden auf ein Feindbild festgenagelt: ‚Ja, jetzt
weiß ich`s: Heuchler seid ihr, verlogenes Pack, blinde
Pharisäer‘. Schließlich greift man in die Kiste mit den
Stilblüten, pickt sich die deftigsten Metaphern heraus und wirft sie den
anderen an den Kopf: ‚Ihr Mückensieber und Kamelschlucker, ihr seid
wie schmutzige Schüsseln; einmal darüber gewischt und schon ist alles
palletti, außen hui und innen pfui. Nein: übertünchte
Gräber seid ihr, oben fein durchgerecht, das Unkraut ausgezupft, die
Primeln gegossen; aber unter der Grabplatte nichts als Totengebeine, Moder,
Unrat‘.

Es sind starke Worte, die der Wanderprediger den Frommen im Lande
entgegenschleudert. Aber irgendwie müssen wir Jesus Recht geben;
jedenfalls wenn es um eine bestimmte Sorte von Leuten geht, um die
Frömmler mit dem aufgesetzten Heiligenschein. Die können einen schon
in Rage bringen. Sie werfen sich zu Vorbildern für die anderen auf; sie
stehen Modell für das rechtschaffene Leben und führen einem vor, wie
man zu sein hat, wenn man sich zu den Frommen zählen will. Sie legen ihre
Meßlatten an das Leben der anderen an und reden einem ständig ein
schlechtes Gewissen ein. Aber in Wirklichkeit sind sie keinen Deut besser. Sie
verbergen den Unrat ihres Lebens nur in Schüsseln und Gräbern, damit
keiner die Innenseite ihres Lebens zu sehen bekommt.

Kehrt mal zuerst in eurer eigenen Küche, putzt eure
Schüsseln mal von Innen. Steigt endlich aus den Gräbern, in denen ihr
euch verschanzt habt, und zeigt euch, wie ihr wirklich seid. Aber das wollt ihr
ja nicht. Euch geht es doch nur um den frommen Schein. Das Sonntagsgesicht
wahren und die bröckelnde Alltagsfassade übertünchen, das ist
alles, worauf es euch ankommt. Aber das hat mit Sicherheit nichts mit
Frömmigkeit zu tun. Das bringt die Frömmigkeit nur in Verruf. Kein
Wunder, daß die Frömmigkeit diesen üblen Beigeschmack hat, den
Geruch des Halbseidenen, des frommen Trugs, mehr Schein als Sein.

2. Was Frömmigkeit ist, versteht sich offenbar nicht von
selbst. Wer der Frömmigkeit auf die Spur kommen will, der muß zuerst
einmal unterscheiden lernen. Und dazu braucht er den scharfen, den kritischen
Blick. Es gibt falsche Fromme und echte, verblendete Frömmigkeit und
klarsichtige. Aber die Böcke sind leicht von den Schafen zu trennen.
Dafür hat Jesus mit seiner bildhaften Scheltrede über
Küchenhygiene und Grabpflege das Textbuch geschrieben, eine aus dem Zorn
geborene Karikatur der Fassadenfrömmigkeit. Aber man kann die Sache auch
in Ruhe betrachten; dann geht die Rechnung genauso auf.

Die halbseidenen Frommen entlarven sich selbst. Sie tragen ihre
falsche Frömmigkeit ja regelrecht zur Schau. Man erkennt sie an ihrem
auffälligen Verhalten. In der Kantine schauen sie sich erst einmal um;
dann falten sie die frommen Hände. An jeder Ecke suchen sie nach einem
Kind, das sie über die Straße geleiten können; und mitten auf
der Fahrbahn vergewissern sie sich noch einmal, ob es auch bestimmt jemand
gesehen hat. Für jeden guten Zweck haben sie einen Zehner übrig,
Hauptsache, die anderen erfahren davon. Das hat nichts mit Frömmigkeit zu
tun. Das ist Gutmenschentum in seiner abschreckendsten Gestalt.

Man erkennt die selbst ernannten Heiligen auch an ihrem typischen
Gesichtsausdruck, an der suggestiven Einfühlsamkeit oder an dem mahnenden
Ernst ihrer Mienen. Man erkennt sie an ihrer frömmelnden Sprache; warum
können sie nicht wie andere reden, sondern müssen immer diesen
salbungsvollen Ton anschlagen, immer einen frommen Wunsch auf den Lippen. Und
warum müssen sie über die alltäglichsten Gedankengänge die
Milch der frommen Denkungsart gießen. Vor allem: warum müssen sie
ihre Rechtschaffenheit so demonstrativ herauskehren. Und dabei fällt ihnen
gar nicht auf, daß keiner so sein will wie sie, so makellos, so
fehlerfrei, so vollkommen wie ein frisch poliertes Gefäß oder wie
ein fein geharktes Grab.

Man erkennt die falsche Frömmigkeit an der polierten
Außenseite. Offensichtlich kommt es bei der Frömmigkeit also auf die
Blickrichtung an. Betrachten wir die Frömmigkeit ohne die notwendige
Tiefenschärfe, dann bleibt von ihr nur die glatte Fassade übrig, die
gestanzte Maske, die äußere Form. Dann wirkt die Frömmigkeit
wie ein hohles Gehäuse, wie eine leere Schüssel oder ein fest
verschlossenes Grab. Da mag dann Sigmund Freud Recht gehabt haben, als er die
Frömmigkeit mit einer Zwangsneurose verglich, mit einer unheilbaren
Krankheit, von der der Fromme zeitlebens nicht loskommt.

Als hätte er die Diagnose vorausgesehen, so beschreibt Jesus
die Symptome der zwanghaften Frömmigkeit. Sie ist eine Art Putzfimmel, der
einen ständig in Atem hält und einen nicht zu sich selbst kommen
läßt. Penibel werden die letzten Krümel von der Oberfläche
des Lebens gewischt. Immer feinere Siebe werden geflochten, um auch die
kleinsten Mücken aus dem klaren Wasser auszusieben. Aber man verliert beim
religiösen Hausputz leicht den Überblick. Während man sich
lebenslang mit Kleinigkeiten beschäftigt, schluckt man die großen
Brocken, ohne es zu merken. Das Gespür für das wirkliche Leben geht
verloren. Man pflegt das Leben wie ein akribisch ausgezirkeltes Grabbeet und
merkt gar nicht, wie es dabei an Farbe verliert. Die von außen
aufpolierte Frömmigkeit ist zwanghafte Frömmigkeit, unnatürlich
und gezwungen. Wenn es nur darum geht, die äußere Form zu wahren,
dann verliert die Frömmigkeit ihre Leichtigkeit, ihre Lebendigkeit. Je
routinierter einer das Handwerk der Frömmigkeit beherrscht, umso trister
wird sein Leben. Wer sich an den Äußerlichkeiten festhält, der
ist ein Mückensieber und Grabrecher.

Betrachten wir die Frömmigkeit aber aus der umgekehrten
Blickrichtung, von Innen heraus, dann entdecken wir sie in ihrer wirklichen,
ihrer vitalen Gestalt. Frömmigkeit – das sind nicht die
Äußerlichkeiten eines rechtschaffenen Lebenswandels, die einem
sofort in den Blick stechen. Frömmigkeit – das meint eine verborgene, eine
innere Bewegung des Menschen: die Sammlung der Sinne, die Entspannung des
Körpers, innere Gelassenheit und Ruhe, Andacht und Meditation.
Frömmigkeit – das meint eine Umkehr der Blickrichtung: die Augen
schließen, sich von der äußeren Welt abwenden, sich in sich
selbst versenken, zu sich selbst kommen oder – wie wir die Bewegung nach Innen
im Programm der Gottesdienstreihe benannt

haben – :‘in sich gehen‘. Wirkliche, echte
Frömmigkeit taugt nicht für die Öffentlichkeit; sie macht keinen
Eindruck, denn sie bleibt unsichtbar, eingeschlossen in die Herzkammer, das
Allerheiligste eines frommen Lebens. Dort, tief im Innern, kann die
Frömmigkeit gedeihen, dort erwacht sie zum Leben. Dort, in der letzten
Einsamkeit, kommt es zu der intimen Zwiesprache des Herzens mit Gott, wie
Martin Luther das Gebet genannt hat. Und von dort geht auch die
Frömmigkeitsbewegung aus, die zwei Herzen miteinander verbindet. ‚Das
Herz ausschütten‘ haben wir das intime Gespräch untereinander
Vertrauten in unserem Gottesdienstprogramm genannt. Und wenn wir uns heute in
unserer Kirche umschauen, dann fällt unser Blick auf das Organ der
Frömmigkeit, das pulsierende Herz.

Jesus war ein vehementer Kritiker der veräußerlichten
Religion und zugleich ein Liebhaber der Herzensfrömmigkeit. Er hat nicht
nur die äußerliche Frömmigkeit mit scharfen Worten gegeiselt,
sondern auch für das fromme Innenleben die passenden Regeln aufgestellt.
Wenn du betest, dann mach es nicht wie die Heuchler, die sich gern in die
Kirchen und an die Straßenecken stellen, damit sie von den anderen Leuten
gesehen werden. Mach es umgekehrt: Geh in dein Kämmerlein und
schließ die Tür hinter dir zu. Wenn du fastest, dann schau nicht so
sauer drein wie die Heuchler; die verstellen ihr Gesicht, um den Leuten zu
beweisen, wieviel Mühe sie sich mit ihrem frommen Leben machen. Und wenn
du Almosen gibst, dann laß es nicht vor die her posaunen auf den Gassen,
damit du von den Leuten gelobt wirst. Du bist ja nicht für andere fromm,
sondern für die selbst.

3. Wer die Frömmigkeit in ihrer lebendigen Gestalt entdecken
will, der muß seine Blickrichtung umkehren. Nicht die
Außenperspektive, sondern der Blick von Innen zeigt die Frömmigkeit
in ihrer wahren, unverstellten und reinen Gestalt. Aber so ganz ohne Rest geht
die einfache Rechnung mit innen und außen doch nicht auf. Gewiß,
Frömmigkeit ist alles andere als ein äußerlicher
Verhaltenskodex. Aber sie ist auch nicht bloße Innerlichkeit, eine Regung
des Gefühls, eine Gestimmtheit des Gemüts oder der Sinn und Geschmack
fürs Unendliche. Wollen wir die Frömmigkeit nicht nur an ihrem
Ursprung aufsuchen, tief im Innern des Menschen, sondern wollen wir das fromme
Leben auch draußen wahrnehmen, in seiner alltagspraktischen Gestalt, dann
müssen wir die Bühne des frommen Lebens noch ein drittes Mal
ausleuchten. Wir müssen dem kritischen Scharfblick und der begrenzten
Binnenoptik eine dritte Sichtweise hinzufügen: den alltagspraktischen
Weitblick. Das Interieur ist nicht das Ganze der religiösen Lebensform.
Zur Frömmigkeit gehört auch ein Ambiente, in dem sich das fromme
Leben entfalten kann und in dem die Herzensfrömmigkeit sichtbare Gestalt
gewinnt.

Betrachtet man die im Herzen verwurzelte Frömmigkeit in ihrer
lebendigen Außengestalt, dann stellt sie ein bergendes Gehäuse dar,
eine Gußform, in die sich die vielfältigen Äußerungen der
Herzensfrömmigkeit einpassen, ein Gerüst, das den Aufbau des Lebens
stützt. Manchen von uns wurde das Modell ihres frommen Lebens in die Wiege
gelegt. Sie können sich den Ablauf des Tages nicht ohne Morgengebet
vorstellen und ohne Abendsegen; dazwischen die Stille bei den Mahlzeiten und
die Ruhepausen in der Tageseile, wo sich das Leben auf natürliche Weise
nach innen kehrt, wo wir zu Besinnung kommen und Kraft schöpfen. Das ist
die Frömmigkeit in ihrer rituellen Form. ‚In Ordnung bringen‘
– so heißt diese Gestalt alltagspraktischer Frömmigkeit in
unserem Gottesdienstprogramm. Nicht jeder arrangiert sein Leben auf dieselbe
Weise. Die rituelle Alltagsfrömmigkeit hat viele Gesichter. Aber ohne das
Regelwerk einer festgefügten Lebensordnung würde der innere Rhythmus,
der Pulsschlag des frommen Herzens, seinen Takt verlieren.

Auch die Ordnung des Jahres gehört zu den Gußformen der
Alltagsfrömmigkeit: der Viertakt der natürlichen Jahreszeiten mit dem
beständigen Wechsel von Saat und Ernte, Sommer und Winter, Tag und Nacht;
und das religiöse Festjahr mit der immer gleichen Abfolge der frommen
Stimmungslagen: im ersten Viertel des Jahreskreises die melancholische
Passionsfrömmigkeit, mitten im Winter das sinnenfrohe
Weihnachtschristentum, im Frühling Ostern und im Herbst der Erntedanktag.
‚Sich verzaubern lassen‘ – so haben wir die Faszination der
festlich gestimmten Frömmigkeit im Programm unserer Gottesdienstreihe
genannt. Das Wechselbad der Stimmungslagen hält das fromme Herz jung und
frisch.

Die Frömmigkeit ordnet den Gang des Tages; und sie regelt den
Ablauf des Jahres. Aber das Leben geht nicht in einer festgefügten Ordnung
auf, das fromme Leben schon gar nicht. Sondern stünden auch die wirklichen
Frommen immer mit einem Bein im übertünchten Grab; sonst wären
sie bald Dauergäste in der Putzküche der Fassadenfrommen; sonst
wären sie nicht gegen den Infekt der zwanghaften Religion gefeiht. Damit
die Alltagsfrömmigkeit nicht ihre Vitalität verliert, braucht sie
eine dynamische Komponente, das bewegliche und neugierige Auge, den weiten
Blick für das Neue und Überraschende. Und sie braucht den Mut, sich
von ausgetretenen Spuren zu verabschieden und die scheinbar so
unumstößliche Ordnung des Lebens aufzubrechen, noch bevor die
Gußformen der Frömmigkeit erstarrt sind. Die
Frömmigkeitsgestalt, die zugleich Ordnung und Bewegung in das Leben
bringt, ist die fromme Selbstreflexion, die religiöse Lebensbetrachtung
und Weltanschauung.

Daß nichts im Leben so bleibt, wie es ist, das weiß
jeder aus eigener Erfahrung. Auch die Frömmigkeitsgestalt eines Menschen
bleibt im Wechsel der Lebensperspektiven nicht ein und dieselbe. Jede
Lebensepoche hat ihre eigene Religion, ihre eigene Lebenseinstellung und ihre
eigene Weltanschauung. Wenn wir aber einen Schritt zur Seite treten und den
eigenen Lebensweg aus der Distanz betrachten, wenn wir uns einen Reim auf die
Wechselfälle des Lebens machen, dann entdecken wir das innere Gesetz, das
unserem Lebensweg die Richtung weist. Und wenn wir die Fortschritte und die
Rückschritte in der Lebensentwicklung bilanzieren, nie verwundene
Enttäuschungen und unvergeßliche Glückserlebnisse, dann bekommt
jedes Leben seine eigene unverwechselbare Gestalt.

Nicht anders geht es einem mit der undurchschaubaren Wirklichkeit,
in der wir tagtäglich leben und die wir doch nie endgültig begreifen
können. Die Ordnung der Welt steckt voller Rätsel. Wenn wir aber den
Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen, sondern den Welträtseln auf die
Spur zu kommen suchen, dann entdecken wir die geheimen Gesetze, die den Gang
der von Gott geschaffenen Wirklichkeit bestimmen. Der freie Blick auf die
innere und auf die äußere Wirklichkeit bringt aber nicht nur Ordnung
ins Leben, sondern zugleich auch Bewegung. Wer die Übersicht über
sein Leben gewinnt, der klammert sich nicht an die äußeren Formen
der Frömmigkeit, nicht an Schüsseln und Gräber, nicht an Sitten
und Gebräuche. Der läßt sich von der lebendigen Mitte der
Alltagsfrömmigkeit, vom frommen Herzen leiten.

4. Noch ein letztes Mal müssen wir den Blick weiten. Die
Frömmigkeit ist im Herzen zuhause; und sie gewinnt im Alltag ihre
lebensstiftende und lebenssichernde Gestalt. Daß beides miteinander
übereinstimmt, daß das fromme Herz und die äußere
Frömmigkeitsgestalt harmonisch zusammenspielen, das ist das Grundgesetz
der echten, der authentischen Frömmigkeit. Aber der Gleichtakt von innerer
und äußerer Frömmigkeit entsteht nicht von alleine. Immer
wieder entdecken wir Brüche und Verwerfungen in der eigenen
Frömmigkeitshaltung; und wir leiden darunter. An den anderen fallen uns
die Dissonanzen ihrer Frömmigkeitspraxis sofort auf. Im Blick auf einen
selbst fällt das viel schwerer. Die Verwerfungen in der eigenen
Frömmigkeitshaltung aufzuspüren und die Innenseite und die
Außenseite der Frömmigkeit miteinander in Einklang zu bringen,
stellt eine Aufgabe dar, an der wir immer wieder scheitern. Wenn die
Frömmigkeit ihren Schwung verliert und zur leeren Form erstarrt oder wenn
sich die Frömmigkeit in der Dunkelheit des Herzens verbirgt, dann tun wir
gut daran, Jesu Wehe-Rufe nicht zu überhören. Aber wir tun auch gut
daran, uns die letzten Worte seiner Scheltrede zu Herzen zu nehmen.

Ihr Verblendeten, sagt Jesus, ihr überseht das Wichtigste:
die Barmherzigkeit, die Tugend der Herzensfrömmigkeit. Die Barmherzigkeit
ist der Prüfstein, mit dem sich am leichtesten zwischen der verblendeten
und der klarsichtigen Frömmigkeit unterscheiden läßt. Die
zwanghaften Frommen gehen nicht nur mit den anderen, sondern auch mit sich
selbst unbarmherzig um. Wenn sich Frömmigkeit und Barmherzigkeit aber
nicht voneinander trennen lassen, dann müßten die wirklichen Frommen
nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit den vermeintlich so Scheinheiligen
barmherziger umgehen. Sie müßten von ihren Feindbildern, von den
leeren Worthülsen, den Karikaturen und Klischees, Abschied nehmen und die
anderen mit dem barmherzigen Blick betrachten. Sie müßten ihre
feindselige Haltung aufgeben und ihnen mit dem Weitblick des frommen Herzens
begegnen. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich
besitzen. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Prof. Dr. Wolfgang Steck


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