Die Flügel der Hoffnung in …

Home / Bibel / Neues Testament / 03) Lukas / Luke / Die Flügel der Hoffnung in …
Die Flügel der Hoffnung in …

Die Flügel der Hoffnung in unseren Herzen | Neujahrstag | Lukas 2,21 (dänische Perikopenordnung) | von Marianne Frank Larsen |

Die Zahlen sind unbegreiflich. 77.297 Juden aus Prag kamen zwischen 1941 und 1945 um. Die Schwächsten unter ihnen starben schon während des Transports. Die meisten wurden in den Vernichtungslagern vergast oder erschossen, viele verhungerten oder erfroren oder rackerten sich zu Tode oder starben an Krankheit in den Arbeitslagern, und die letzten gingen auf den Todesmärschen nach Deutschland in den letzten Wintermonaten des Krieges zugrunde. 77.297. Die Zahl ist genauso abstrakt wie die 6 Millionen, die wir kennen. Das sind schwindelerregende Zahlen, so hoch, dass man sich dazu schwer anders verhalten kann als zu Zahlen. Sie machen Eindruck, aber die Zahl 77.297 vergessen wir wieder.

Heda heißt ein junges Mädchen, das in Prag aufwächst. Zusammen mit ihren Eltern wird sie nach Auschwitz deportiert. Beide Eltern sterben im Lager. Aber im Februar 1945 gelingt es Heda, aus der Kolonne zu fliehen, die auf dem Wege nach Deutschland ist, und nach Hause zurückzukehren. Das Frühjahr ist so schön, und Heda verbringt ganze Tage damit, in Prag zu wandern, das bezaubernd schön aussieht mit all seinen prächtigen Gärten, wie sie schreibt. An dem Tag, als sie erfährt, dass der Mann, den sie liebt, aus Dachau entkommen ist, pflückt sie alle Tulpen in einem Blumenbeet im nächsten Park aus Freude darüber, dass der Friede begonnen hat. Sie hätte einer der 77.000 Juden aus Prag sein können, die während des Zweiten Weltkrieges starben. Aber sie überlebte. Heda Margolius Kovaly. Es kann gut sein, dass man die 77.297 vergisst, aber sie vergisst man nicht. Sobald ein Name im Spiel ist, ist der Völkermord nicht mehr abstrakt. Denn mit dem Namen folgt eine Person, ein Gesicht, eine Stimme, eine Familie, eine ganz bestimmte Geschichte, die allzu früh abgebrochen wurde – oder dennoch weitergehen durfte, für immer gezeichnet durch bestimmte Ereignisse.

Genauso ist es mit dem Namen, dem wir im Evangelium am Neujahrstag begegnen. Oder besser: dem Namen, den Gott erhält. Wir können sehr wohl sagen, dass wir an etwas Größeres glauben, oder an mehr zwischen Himmel und Erde, oder geradezu an Gott, denn Gott findet man in allen möglichen Religionen, und das ist alles sehr unverbindlich, aber auch sehr abstrakt, denn wer oder was ist Gott? Und was will er uns? Ist er es, der hinter Dürre, Überschwemmungen, Erbeben, Pandemien steht?  Oder ist er es, der hinter Christrosen, Sternbildern, der tiefen Wintersonne, die durch durch die Fenster scheint, steht? Ist er es, der bewirkt, dass wir uns verlieben, dass Kinder zur Welt kommen, Feste gefeiert werden, Umarmungen stattfinden? Oder ist er es, der das Virus schickt, Diagnosen, Scheidungen, lauter Verluste? Das bleibt eine offene Frage.

Bis Gott einen Namen erhält. Acht Tage nach der Geburt erhält er den Namen Jesus. Und wie der Name Heda die Geschichte von den Juden in Prag aufschließt, so dass sie konkret und bewegend wird, so schließt der Name Jesus die Geschichte von Gott auf, so dass sie konkret und bewegend wird in einer ganz anderen Weise als damals, als er nur Gott hieß. Da war er nur einer von vielen Göttern. Jetzt, wo er den Namen Jesus erhält, ist er nicht mehr mit einem anderen Gott zu verwechseln. Mit Jesus sagt Gott alles, was er uns sagen will. Mit Jesus zeigt er uns alles, was wir von ihm wissen müssen. So wie Heda den Juden in Prag ein Gesicht gibt und eine Stimme, gibt Jesus Gott im Himmel ein Gesicht und eine Stimme. Wenn wir wissen wollen, wer er ist und was er von uns will, können wir ihn dort sehen und hören: in dem neugeborenen Jungen in den Armen von Maria, der der Namen Jesus erhält.

„Jesus ist der Name über allen“ heißt es in einem dänisch en Lied, und das ist er, weil die Geschichte, die sich hinter diesem Namen verbirgt, eine ganz neue und einzigartige Geschichte ist.  Das Gesicht, das Gott uns zeigt, wenn wir auf Jesus blicken, ist sein mildes Antlitz. Das leuchtet über uns, wie wenn ein Vater freudig auf seine Kinder blickt. Die Stimme, die Gott braucht, wenn wir auf Jesus hören, ist die warme Stimme, die uns geliebte Kinder ruft trotz all unserer Fehler und Versagen. Und die Geschichte, die Gott erzählt, wenn wir uns um Jesus versammeln, ist weit größer als unsere eigene. Sie enthält Geburt und Namensgebung, Wachstum und Reife, Arbeit, die Frucht trägt, Freundschaft und Liebe, aber auch Niederlagen, Verlust, Versagen, Tod und Zerstörung.  Ganz wie unsere Geschichte. Es besteht kein Zweifel daran, dass das Kind in den Armen Marias einer von uns ist. Und doch ist es eine einzigartige Geschichte, weil sie nicht mit dem Untergang endet. Sie ist größer. Sie endet mit einem neuen Anfang – im Sonnenaufgang am Ostermorgen.

Die Geschichte, die sich hinter dem Namen Jesus verbirgt, ist nicht allein seine Geschichte. Sie ist auch unsere Geschichte. Er wurde geboren als einer von uns und wurde Teil von unserer allgemeinen Geschichte, um uns in seine eigene einzigartige Geschichte einzubeziehen. Das geschah vor allem, als wir getauft wurden, in Christus gekleidet wurden, wie Paulus das ausdrückt, so als Christentum eine Tracht wäre, die wir über allem anderen tragen, was wir auch sind. Oder darunter im Innersten. Im Namen Jesu, wenn wir Christus angezogen haben, können wir Gott in die Augen schauen als vertrauensvolle Kinder, die ihren Vater kennen – auch zur Nachtzeit. Und wir können auf das Jahr zurückblicken, das vergangen ist, und das kommende Jahr, im Lichte seines milden Antlitzes – als Teil der einzigartigen Geschichte, die nicht mit Untergang endet, sondern aufs Neue beginnt im Sonnenaufgang der Ewigkeit.

Heda Margolius Kovaly sollte kein glückliches Leben in Prag haben bis zum Ende ihrer Tage. Im Gegenteil, schon seit 1948 waren da Menschen, die von der Polizei gefoltert wurden und vom Regime n Gefangenlager gebracht und hingerichtet wurden. Unter ihnen Hedas Mann, der 1952 während des sogenannten Slansky-Prozess wegen Landesverrats verurteilt und hingerichtet wurde. In der Einleitung zu ihrem Buch „Unter einem bösen Stern“ schreibt sie: „Drei Kräfte haben die Landschaft meines Lebens geformt. Zwei davon kannte die halbe Welt. Die erste Kraft war Adolf Hitler, die zweite Josef Stalin“. Aber dann fährt sie fort: „Die dritte war sehr still und schwach, ja in der Tat unsichtbar. Das war ein scheuer kleiner Vogel in meiner Brust, ein oder zwei Zoll über meinem Bauch. Zu ganz unerwarteten Zeitpunkten konnte der Vogel erwachen, sein Haupt erheben und entzückt mit den Flügeln schlagen. Dann erhob auch ich mein Haupt, denn in diesen kurzen Augenblicken wusste ich mit Sicherheit, dass Liebe und Hoffnung unendlich viel größere Macht haben als Hass und Wut und dass es irgendwo jenseits meines Horizonts ein unvergängliches Leben gibt, das stets siegen wird.“

Wir kennen das Bild aus unseren schönsten Liedern: „.. schenkt, wenn Osterlieder klingen, unsrer Seele Vogelschwingen“. Das Bild von der Hoffnung und der Freude als einem scheuen kleinen Vogel, der zu den am wenigsten erwarteten Zweitpunkten in unseren Herzen erwacht. „Lasst den Lerchenschlag unseres Herzens grüßen den klaren Tag des Herrn, der aufstand von den Toten“. Aber jemand muss diesen Vogel in das Herz eines Kindes legen. Und jemand muss ihn wecken im Erwachsenen. Das tun die Menschen, die uns lieben. Und das tut das Kind, das den Namen Jesus erhält. Auch in der Landschaft unseres Lebens gibt es Kräfte, die zerstören. Das wissen wir am Ende dieses Jahres 2020. Aber Jesus ruft noch immer zum Vogel in unseren Herzen und gibt uns die Gewissheit, dass Liebe und Hoffnung unendlich größere Macht haben als Krankheit und Tod, und dass irgendwo jenseits unseres Horizonts ein unvergängliches Leben gibt, das immer siegen wird. Amen.

Pastorin Marianne Frank Larsen

DK 8000 Aarhus C

mfl(at)km.dk

de_DEDeutsch