Die letzten Worte

Home / Bibel / Neues Testament / 03) Lukas / Luke / Die letzten Worte
Die letzten Worte

Lukas 24,46-53 (dänische Perikopenordnung) | von Marianne Frank Larsen|

Der isländische Schriftsteller Jon Kalman Stefansson schreibt in seinem Roman: ”Himmel und Hölle“ von einem Jungen, der keine Familie hat. Sein Vater ist von einem Fischkutter auf dem Meer vor Island ertrunken, seine Mutter und seine kleine Schwester sind an Krankheit gestorben, sein Bruder ist verschwunden. Er ist schrecklich allein in der Welt, und er besitzt nichts anderes als ein Paar Hosen, einen Wollpullover, drei kleine Bücher und ein Paar schlechte Schuhe. Und dann wohlgemerkt die Briefe! Nach dem Tod des Vaters zerstreute sich die Familie nämlich in alle Winde, aber die Mutter schrieb noch immer an ihren Jungen. Sie erzählte vom Vater und ihrem Leben und ihren Träumen, so dass der Junge ein Licht erhielt, an dem er sich durch ihre Worte wärmen konnte. Kurz bevor sie starb, schrieb sie ihren letzten Brief. „Nächsten Sommer haben wir uns ganz sicher gedacht, dass wir dich besuchen“, schrieb sie, „deine Schwester fragt jeden einzigen Morgen: Wann fahren wir los?“ Und dann die letzte Zeile: „Lebe! Deine Mutter, die dich liebt“.

Das sind die letzten Worte, die der Junge von seiner Mutter hat. Eine Aufgabe: „Lebe!“. Du darfst nicht aufgeben, du darfst nicht den Mut verlieren, du sollst leben! Das bedeutet: Das Leben ist es wert, gelebt zu werden! Und dann eine Liebeserklärung: „Deine Mutter, die dich liebt“. Das sind phantastisch gute Worte, die man mitnehmen kann, wenn man seine Mutter nicht mehr bei sich hat. Dass man geliebt ist und dass man leben soll. Vor einigen Jahren erschien ein kleines Buch, das davon handelte, dem Tode nahe zu sein. Darin erzählen Menschen, die einen Verlust erlitten haben, von der letzten Zeit mit ihren Lieben. Mehrere von ihnen erwähnen, wie sie warteten und darauf hofften, dass der, der im Sterben lag, die Mutter, der Vater oder der Geliebte, zuletzt etwas Gutes zu ihnen sagte. Einige waren tief enttäuscht, weil die guten Dinge nie zur Sprache kamen. Andere empfingen kräftige und dankbare Worte, die sie in dem Leben weitertrugen, das sie miteinander leben sollten. Offenbar tragen wir bis zuletzt Verantwortung für die Menschen, die wir verlassen müssen, und wir haben Einfluss auf ihr Leben.

Die letzten Worte, die die Jünger und wir anderen erhalten, ehe Jesus uns verlässt und zum Himmel emporgehoben wird am Tag der Himmelfahrt Christi, sind gute Worte. Wie die Mutter in dem isländischen Buch, die ihrem Jungen eine Aufgabe und eine Liebeserklärung mitgab, so gibt Jesus auch den Jüngern und uns anderen eine Aufgabe und eine Liebeserklärung. Ihr sollt Zeugen sein, sagt er, und das ist die Aufgabe. Zeugen – das sind Leute, die erzählen, was sie gesehen und gehört haben. Und das, was die Jünger und wir anderen gesehen und gehört haben, ist dies, dass da einer war, der gelitten hat, wie wir leiden werden, so dass wir nie allein sind im Leiden. Aber er besiegte den Tod und stand auf vom Grabe am dritten Tag. Und nun ist er bei uns mit seinem strahlenden neuen Leben überall, wo wir hinkommen. So wahrhaftig, wie der Himmel überall ist, wo wir hinkommen. Das ist die tolle und hoffnungsvolle Geschichte, die wir bezeugen sollen. Dann können wir in mehrerer Weise tun. Indem wir erzählen, was diese Geschichte für uns bedeutet, wenn sich dazu die Gelegenheit bietet. Und indem wir so handeln, wie uns diese Geschichte inspiriert. Uns abwenden von Streit und Groll und Rache, umkehren zu Vergebung und Versöhnung, so dass auch das Leben zwischen uns aus dem Grabe aufstehen kann. Das ist unsere Aufgabe.

Aber wie der isländische Junge bekommen wir nicht allein eine Aufgabe. Wir erhalten auch eine Liebeserklärung. Denn in dem Augenblick, wo sich Jesus von seinen Jüngern und von uns anderen verabschiedet, segnet er uns. Und der Segen ist die mächtigste Liebeserklärung, die man erhalten kann, denn Jesus vertraut darauf, dass Gott selbst das schenkt, was die Worte sagen, während sie gesagt werden. Darauf vertrauen auch wir. Dass die Worte wirken. Dass Gott wirklich unseren Ausgang und Eingang behütet, wie wir das bei der Taufe hören. Dass Gott wirklich seinen Kindern Glaube, Hoffnung und Liebe schenkt, wie wir das bei der Konfirmation hören. Dass Gott wirklich den Liebenden seine Gnade schenkt, wie wir das bei einer Trauung hören. Dass Gott wirklich sein Antlitz erhebt und es leuchten lässt und uns Frieden gibt, wie wir das in jedem Gottesdienst hören. Das sind die Worte, die wir mit uns nehmen, wenn wir uns trennen und aus der Kirche gehen. Ihr sollt Zeugen sein – von der Liebe, die stets aus dem Grabe aufersteht. Und wenn ihr hinausgeht unter den Himmel, geht ihr als geliebte und gesegnete Menschen im Lichte vom milden Angesicht Gottes. Amen.

 

Pastorin Marianne Frank Larsen

DK 8000 Aarhus C

mfl(at)km.dk

 

 

 

 

 

 

 

 

de_DEDeutsch