Ein Blick in Gottes Herz

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Ein Blick in Gottes Herz

Predigt zu Jesaja 5,1-9 | Reminiszere, 28.2.2021 | verfasst von Rudolf Rengstorf |

Lachen und Singen ist zu hören. Das Klingen von Gläsern. Sie feiern ein Fest. Die Ernte war gut. Mitten im fröhlichen Trubel steht einer auf. Ein Lied will er singen. Einige kennen den Mann. Jesaja ist es, Amoz‘ Sohn. Und er fängt an.

Wohlan, ich will von meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg.

Schon bei den ersten Worten beginnen einige zu schmunzeln. Denn was Jesaja ankündigt, ist zweideutig, doppelbödig: Vom Weinberg will er singen, und das ist seit alters zugleich ein Bild für das Mädchen, das man liebt. Die Kenner wissen’s und sind gespannt. Alle hören:

Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter

Ja, das wissen die Hörer zu schätzen, wie umsichtig und gewissenhaft hier alles getan wird, damit der Weinberg gedeiht, wie liebevoll und verschwenderisch sich der Liebhaber um sein Mädchen bemüht, um ihr Herz zu gewinnen. Und auch den Lohn der Arbeit – reiche Ernte – haben sie erlebt und Liebe, die erwidert wurde. Doch anders als erwartet, singt Jesaja weiter:

Mein Freund wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte. Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte?

Na, an dem Winzer jedenfalls liegts nicht, denken die Hörer. Was für ein Jammer, dass bei all seiner Arbeit nichts herausgekommen ist. Und wie soll man das Mädchen begreifen, das ihm trotz all seines Werbens die kalte Schulter zeigt! Leid kann er einem tun, der Winzer ohne Ernte, der verschmähte Liebhaber. Das Lied geht weiter:

Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er kahl gefressen werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen.

Jawohl, so ist es richtig: den Weinberg liegen lassen, der Frau den Laufpass geben, wenn alle Arbeit umsonst, alle Liebesmüh vergeblich ist.

Ein trauriges Ende für ein Lied, das so vielversprechend begann, mochten die Leute denken. Doch sie irren sich. Das Ende des Liedes kommt erst noch:

 Des Herrn Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.

Wie sie es aufgenommen haben. wissen wir nicht. Von Rechtsbruch und Schlechtigkeit im Land hörten sie hier sicher nicht zum ersten Mal. Dass die Großbauern das Land der Kleinen aufkauften und diese in die Armut trieben, dass die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnete, dass Witwen und Waisen nicht zu ihrem Recht kamen und Richter sich bestechen ließen, das war ja kein Geheimnis. Und das wurde auch von anderen Propheten angeprangert.

Doch was sollten solche Klagen unter den Besuchern des Erntefestes, die doch sowieso daran nichts ändern konnten. Das konnten doch nur die da oben. Hier aber ging ein solches Lied nur auf Kosten der Stimmung. Und wie! Es waren ja nicht nur die sattsam bekannten Missstände. Aber dass es in diesem Lied vor allem darum ging, was diese Auswüchse mit Israels Gott machten, das ging noch mehr aufs Gemüt. Der Sänger ließ die Hörer ja ihrem Gott ins Herz blicken, Einem Gott, der wie ein Weinbergbesitzer und Liebhaber alles Erdenkliche getan hatte, um sein Volk zur Blüte und zu vollem Liebreiz zu bringen. Und der nun hinnehmen musste, dass der Weinberg nur Abfall statt Früchten hervorbrachte, die Liebste sich entzog, sein Volk seine Wohltaten verderben ließ und sich hinwegsetzte über seine dem Wohl des Volkes dienenden Ordnungen. Damit zerstörte es sich selbst. Der unfruchtbare Weinberg verkommt vollends, weil sein Besitzer ihn enttäuscht liegen lässt und alle Schutzvorkehrungen beseitigt. Gottes Volk aber geht von selbst zugrunde, weil es seine heilsamen Ordnungen kaputtmacht. Diesem Volk braucht Gott nicht zu drohen, denn es bestraft sich selbst. Und Gott bleibt zurück – tief enttäuscht, sich hilf- und ratlos quälend mit der Frage Warum?

Wie gut wir sie kennen, diese Frage. Wenn wir mit unserer Liebe, mit mühevoller Arbeit, mit unserem Denken und Begreifen am Ende sind und alles nichts gebracht hat: Warum? Wenn Eltern alles getan haben, um einem Kind auf seinem Weg ins Leben behilflich zu sein und sie am Ende nichts als Abkehr und Verachtung erleben: Warum? Wenn alles nur Mögliche getan wird, um einem depressiven Menschen Farbe und Freude ins Leben zu bringen, für diesen aber alles heillos grau und bleischwer bleibt. Warum? Was macht das mit meinem Glauben? Warum lässt Gott das alles geschehen?

Diese zutiefst menschliche Frage begegnet uns im Weinberglied Jesajas als zutiefst göttliche Frage wieder: Was ist mit meinem Volk, was ist mit meinen Menschen überall in der Welt, dass ihr zerstört, womit ich euch in fürsorglicher Liebe ausgestattet habe: Warum? Ich habe euch ausgestattet mit allem, was ihr zum Leben braucht: Dieser Planet hat Nahrung genug für alle und Rohstoffe, die allen ein Auskommen sichern können. Dazu habe ich euch einen Verstand gegeben, mit dem allen vernünftig umzugehen, und ein Herz, das Liebe und Geborgenheit zu geben vermag.

Ihr aber habt es so weit gebracht, dass meine Gaben den Norden der Erde überschwemmen, während einem Großteil meiner Menschenkinder im Süden das Nötigste fehlt: Warum? Und jetzt, wo ihr alle von einer lebensgefährlichen Pandemie bedroht seid, haben die Menschen im Norden zehnmal so viel Impfstoff wie die im Süden: Warum? Und was ist mit einer Kirche, die meine Barmherzigkeit weltweit bezeugen will, die aber trotz regelmäßiger Gottesdienste in allen Kontinenten und Landen nicht in der Lage ist, sich weltweit unüberhörbar mit einer Stimme zum Anwalt der durch Hunger und Gewalt Vertriebenen zu machen: Warum?

Im Weinberglied erschließt sich ein Gott, der wie an seinem Volk so an seiner Menschheit im ganzen leidet und hilflos zusehen muss, wie sie sich selber zugrunde richten. Von wegen Allmacht! Seine Macht, alles zum Guten zu wenden, wird begrenzt durch eine Menschheit, die sich nicht richtet nach dem, was heilsam wäre für sie. Ein Gott, der nicht kann, was wir so gerne von ihm erbitten, nämlich wieder in Ordnung zu bringen, was Menschen zerstören. Er kann es nicht, solange Menschen sich nicht richten nach dem, was er ihnen nicht nur in ihre religiösen Bücher, sondern auch ins Herz und ins Gewissen geschrieben hat.

Dies ist der Gott, mit dem Jesus sich verbunden und dem er sich verpflichtet wusste. Er hat gelebt und gewirkt, um seinen Mitmenschen die Welt vor Augen zu führen, wie Gott sie gemeint hat und wie er sie haben will: eine Welt, in der die Menschen miteinander teilen, womit Gott sie ausstattet. Wo sie darauf achten, dass alle haben, was sie zum Leben brauchen. Wo die Starken den Schwachen aufhelfen. Wo die durch Schicksal, Krankheit, Behinderung Benachteiligten sich in der Solidarität der Kinder Gottes aufgehoben erleben. Wohin sein Leben und Wirken führte, wird uns in der Passionszeit regelmäßig vor Augen geführt. Mit seinem Leiden und Sterben verkörpert er den Gott, der an seiner Menschheit leidet.

Doch bei dem Bild dessen, der am Kreuz leidet und stirbt, bei dem Bild, das an jedem Altar unserer Kirchen zu sehen ist, bleibt es nicht. Denn Gott belässt es nicht bei der Aussichtslosigkeit, mit der der Winzer bei Jesaja sich von seinem Weinberg, der Liebhaber sich von seiner Geliebten abwendet und beide dem Verderben anheimfallen. Er bringt es nicht übers Herz, den Gekreuzigten im Tode und seine Welt zum Teufel gehen zu lassen. Er bringt ihn zurück ins Leben und zwar so, dass er mit seinen Worten und Werken Menschen anstiftet, so zu leben, als sei die Welt, wie Gott sie haben will.

Sie geben niemanden verloren, kämpfen um jedes Leben und sei es noch so armselig, weil es ein unschätzbare Würde hat. Und sie bleiben dabei, auch wenn sie die Not nur lindern, aber nicht beseitigen können. Überall begegne ich ihnen, in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in der Lebenshilfe und unter denen, die Angehörige zu Hause pflegen. Und ich sehe sie, wenn im Fernsehen aus Flüchtlingslagern und Katastrophengebieten berichtet wird. Sie alle sind oft, ohne es zu wissen, mit dem Gott im Bunde, um dessen Erbarmen, um dessen offenes Herz wir jeden Sonntag bitten mit unserem „Kyrie eleison“.

Dasselbe sagt der Name dieses Sonntags Reminiszere: Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit. Mit dieser Bitte wird uns klar, dass Gott nicht weit weg ist mit seinem heiligen Willen und unbegreiflicher Macht. Nein, er ist uns nahe mit dem Herzen, das für seine Menschenkinder schlägt, darunter leidet, dass sie so vieles kaputtmachen und das darauf aus ist, auch bei uns ein Herz zu finden, dass sich von ihm anrühren lässt und die Regie übernimmt in unserem Denken, Reden und Tun. Amen.

(Mit der Ins-Bild-Setzung des Textes habe ich mich anregen lassen von Jürgen Dembek in Predigtstudien IV 1 (1987/88).S. 162f)

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Rudolf Rengstorf

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