Predigt zu Epheser 1,15-23

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Predigt zu Epheser 1,15-23

„Der uns der intimst Nächste und der uns der absolut Gegenüberbefindliche“ | Himmelfahrt, 13. Mai 2021 | Predigt zu Epheser 1,15-23 | verfasst von Dr. Rainer Stahl |

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen!“

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

Wir haben mit dem Lied von Michael Praetorius aus dem Jahr 1607 begonnen: „Wir danken dir, Herr Jesu Christ, daß du gen Himmel g’fahren bist. […] o starker Gott Immanuel, stärk uns an Leib, stärk uns an Seel“ (EG 121,1-2). Mit dieser Bitte hören wir auf die Worte aus dem ersten Kapitel des Epheserbriefes:

15 / 16 Deshalb höre ich nicht auf – der ich gehört habe von Eurem Glauben in dem Herrn Jesus

und von [Eurer] Liebe zu allen Heiligen – Euch zu danken,

[indem ich] (Euer) in meinen Gebeten gedenke,

17        damit der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Herrlichkeit,

Euch den Geist der Weisheit und der Offenbarung seiner Erkenntnis von sich gebe

18        und erleuchtete Augen des Herzens,

dass Ihr erkennt:

+  was die Hoffnung [darstellt], zu der Ihr berufen seid,

+  (und) was den Reichtum der vererbten Herrlichkeit in seinen Heiligen [ausmacht]

19        +  und was die überschwängliche Größe seiner Kraft in uns (in Euch) Glaubenden

entsprechend der Wirksamkeit der Kraft seiner Stärke [bewirkt].

20        Das hatte er gewirkt in Christus,

den er von den Toten auferweckte

und ihn platzierte zu seiner Rechten in den Himmeln

21        über jeder Regierung und jeder Macht und jeder Gewalt und jeder Herrschaft

und [über] jedem Namen, der nicht nur in dieser Weltzeit sondern auch

in der kommenden Weltzeit genannt wird.

22        „Und alles hat er unter seine Füße getan“ [Psalm 8,7]

und ihn gesetzt zum Haupt über alles der Gemeinde / der Kirche,

23        die seinen Leib darstellt,

[nämlich] die Fülle dessen, der das All in allem erfüllt.[i]

Liebe Schwestern und Brüder!

Es gibt einen Tag, den ich nie vergessen habe – natürlich musste ich mir das konkrete Datum mit Hilfe des Internets wieder sorgfältig erarbeiten –: den 18. Oktober 1963. Da war ich mit der gesamten Schule zu einer Straße oberhalb von Meiningen gegangen. Wir stellten uns dort am Straßenrand auf und warteten: Dann kam von Rohr her die Wagenkolonne mit einer Polizei-Eskorte davor. Das Dach des großen sowjetischen Wagens war sogar aufgeklappt, der Mann, auf den wir warteten, stand schon, so dass wir ihn alle gut sehen konnten und er uns beim Vorbeifahren herzlich gegrüßt hat! So sehe ich ihn noch heute vor mir: Jurij Gagarin, den ersten menschlichen Kosmonauten (amerikanisch gesagt: Astronauten), der am 12. April 1961 im Raumschiff „Wostok 1“, zu Deutsch: „Osten 1“, die Erde einmal umrundet hatte!

Am 10. April 2019 gelang es erstmals acht koordinierten Radioteleskopen, die sich um die gesamte Erde herum befinden, ein Schwarzes Loch in der 55 Millionen Lichtjahre entfernten Galaxis Messier 87 im Virgo-Galaxien-Haufen zu fotografieren! Uns allen ist ja die sogenannte „Milchstraße“ am Nachthimmel bekannt. Wenn wir uns nachts an diesem Band von Sternen erfreuen, schauen wir in Wahrheit in eine Galaxis – nämlich in die unsere. Sie ist eine zweiarmige Galaxis, bei der sich unsere Sonne gegen Ende des einen Armes befindet. In solchen Nächten sehen wir also auf die vielen Sonnen dieser Arme und des Zentrums unserer Galaxis.

Am 30. Juli 2020 startete die NASA-Sonde „Perseverance“ / „Beharrlichkeit“ von der Startbahn auf Florida. Und wirklich: Am 18. Februar dieses Jahres landete sie auf dem Mars. Überraschend schnell kamen schon erste Fotos von dieser geglückten Aktion bei uns an. Wenn alles gut geht, wird sie mit Bodenfunden von der Marsoberfläche wieder zur Erde zurückfliegen. Jetzt soll aber auch der mit zum Mars transportierte Hubschrauber „Ingenuity“ / „Geschicklichkeit“ zum Einsatz kommen. Manchmal scheiterte es, manchmal gelang es. Erleben wir da den Erfolg menschlichen Könnens oder sein Scheitern?

Von allen diesen Zusammenhängen und Dimensionen hatten die Menschen zur Zeit Jesu keinerlei Ahnung. Die Gebildeten unter ihnen wussten schon lange, dass die Erde kugelförmig ist. Der bedeutende Philosoph und Naturbeobachter Eratosthenes hatte sogar schon vor 200 vor Christus in Ägypten auf dem Wege interessanter Beobachtungen den Umfang der Erde annähernd richtig mit – modern gesagt – etwa 40.000 Kilometern berechnet. Aber ganz lange gab es sehr unterschiedliche Auffassungen von der Erde und ihrem Platz im Weltraum. Ich gehöre zu den optimistischen Menschen, die die modernen Auffassungen für nicht falsch ansehen können, denn auf ihrer Grundlage gelang es, die Erde zu umrunden – durch Laika, Jurij Gagarin und andere –, zum Mond zu fliegen und jetzt zum Mars.

Mit all‘ dem hat das Fest der „Himmelfahrt Christi“ nichts zu tun! Seine „Himmelfahrt“ war keine Reise in diesen Dimensionen. Denn wenn sie das gewesen wäre, müssten wir auch angeben können, wo Christus jetzt ist. Bei einer Flugdauer von 1.991 Jahren, seit 30 nach Christus, für die es als höchste Geschwindigkeit die Lichtgeschwindigkeit gibt, müsste man eine kugelförmige Grenze angeben können, an der sich dieser „himmelfahrende Christus“ irgendwo befinden müsste. Einmal abgesehen davon, dass ich das nicht berechnen kann, merken wir, wie unsinnig ein solches Verstehen wäre!

Aber natürlich muss ich ehrlicherweise eine Einschränkung einfügen: Die Denker im Einfluss der Wirkungen Jesu – so der Briefschreiber des Epheserbriefes, so die Verfasser unserer Evangelien – meinten wirklich, dass Jesus nach seiner Auferweckung in einen Bereich Gottes „aufgefahren wäre“, den sie oberhalb des von ihnen vorgestellten Kosmos lokalisierten. Also: oberhalb des von uns zu sehenden Himmels, den sie sich als mehrschichtige Konstruktion vorstellten – deshalb wird auch in unserem Bibeltext von „den Himmeln“ gesprochen (V. 20) –.

Deshalb ist unsere Erkenntnis so wichtig: Wenn wir von „Himmelfahrt Christi“ reden, dann meinen wir etwas völlig anderes als Flugbewegungen in unserem Kosmos unter Nutzung natürlicher Energien, unter Nutzung materieller Möglichkeiten der von Gott geschaffenen Welt. Der „himmelfahrende Christus“ bewegt sich vielmehr in einer ganz anderen Dimension – quer zu allen Dimensionen, die wir erfahren und erkennen können. Ja, ich wage zu sagen: Weil der „in den Himmel aufgefahrene Christus“ Gott nahe ist, ja: Gott ist, ist er uns näher als er je während seinem irdischen Leben seinen Jüngern sein konnte. Ist er – wie ich gern sage – uns näher als wir selbst uns sind. Mir selber bin doch ich selbst die nächste Person. Und ihr ist dieser „zum Himmel aufgefahrene Christus“ noch näher, noch intimer! Deshalb brauchen wir uns um die Begleitung, um die Nähe durch Christus nicht mehr zu sorgen. Deshalb hat auch der „Himmel“, in den Christus „aufgefahren ist“, nichts mit dem Himmel zu tun, den wir täglich und nächtlich sehen können!

Der Briefschreiber des Briefes an die Gemeinde in Ephesus hat das großartig ausgesagt:

„dass Ihr erkennt:

+  was die Hoffnung [darstellt], zu der Ihr berufen seid,

+  (und) was den Reichtum der vererbten Herrlichkeit in seinen Heiligen [ausmacht]

+  und was die überschwängliche Größe seiner Kraft in uns Glaubenden entsprechend

der Wirksamkeit der Kraft seiner Stärke [bewirkt]“ (V. 18b-19).

Für alle Bereiche unseres Lebens – unsere Planungen, unsere Leistungen, unsere Zuversicht, unsere Ängste – können wir Christus uns nahe wissen –: „was die überschwängliche Größe seiner Kraft in uns Glaubenden entsprechend der Wirksamkeit der Kraft seiner Stärke [bewirkt]“.

Zugleich gilt noch eine weitere Einsicht: Dieser „in den Himmel aufgefahrene Christus“ bleibt uns auch gegenüber, bleibt von uns Menschen, von seiner gesamten Schöpfung, dem Kosmos, den wir nur zu Teilen erkennen können, geschieden! Ich darf dieses vielleicht altertümlich wirkende Wort „geschieden“ verwenden. Es sagt: Christus, Gott, ist in einer ganz eigenständigen Wirklichkeit, in die wir nicht vordringen können. Deshalb ist die andere Aussage unseres Briefschreibers merkwürdig unangemessen. Denn unser Briefschreiber verwendet Begriffe für die damaligen Herrschaftsstrukturen:

„[…] und Gott platzierte ihn dexia autou – zu seiner Rechten in den Himmeln

über jeder archä – über jede Regierung

und jeder exousia – Macht

und jeder dynamis – Gewalt

und jeder kyriotäs – Herrschaft“ (Verse 20b-21a).

Das sind alles Begriffe, die in den Staatslehren des Römischen Reiches verwendet wurden für den Kaiser, für die Konsuln und für die Legaten, für die Gouverneure. Ist mit ihnen die Macht Gottes, die Macht des „in den Himmel aufgefahrenen Auferweckten“ zutreffend benannt?

Bei einer Friedenskonferenz der Russischen Orthodoxen Kirche in der damaligen Sowjetunion muss eine Übersetzerin für den Begriff «Святой Дух» – „Heiliger Geist“ hilflos «Генеральный Секретарь Политбюро» – „Generalsekretär des Politbüros“ gesagt haben. Danach gab es wohl Probleme. Aber: Ihr faux pas, ihr Fehlgriff, zeigte doch, wie eigentlich unangemessen Begriffe unserer Erfahrungswelt für Gott sind. Deshalb bleibe ich bei den beiden erkannten Dimensionen:

Gott ist

+ derjenige, der uns der intimst Nächste ist,

+ derjenige, der uns der absolut Gegenüberbefindliche ist.

Diese beiden Dimensionen werden nun in unserem Bibelwort miteinander verbunden:

„[…] und Gott hat ihn gesetzt zum Haupt über alles der Gemeinde / der Kirche,

die seinen Leib darstellt,

[nämlich] die Fülle dessen, der das All in allem erfüllt“ (Verse 22b-23).

In den verschiedenen Übersetzungen wird entweder der Begriff „Gemeinde“ eingesetzt oder der Begriff „Kirche“. In jedem Fall ist wirklich die Gemeinschaft der Kirche Christi durch alle Generationen hindurch und auf der gesamten Erde gemeint. Das meint also sicher zuerst die für unsere Erfahrung grundlegende örtliche Gemeinde innerhalb der eigenen konfessionellen Kirche. Aber darüber hinaus natürlich die Gemeinschaft der gesamten allgemeinen Kirche, für die auch unsere Tradition den Begriff „katholische Kirche“ verwendet. Erst wer sich auf diesen Begriff „katholisch“ für sich selbst einlassen kann, begreift, dass unsere römisch-katholische Schwesterkirche auch nur eine andere spezifisch konfessionelle Kirche ist. In unserem Bibelwort geht es aber um die unsere kleine Erfahrungswirklichkeit übersteigende große, wirklich „katholische“ Erfahrungswirklichkeit des einen „Leibes Christi“, des Leibes des „auferstandenen und in den Himmel aufgefahrenen Christus“. Zu dieser Wirklichkeit dürfen wir uns gehörig wissen, dürfen wir uns berufen glauben!

Hier wird uns eine entscheidende Wahrheit erinnert: So wichtig unsere persönliche Beziehung zu Gott, zu Christus, ist, so wichtig unsere persönliche Glaubenstreue ist – so müssen doch beide bewahrt bleiben in der Gemeinschaft dieser umfassenden Kirche. Denn durch sie wird uns diese Fülle vermittelt, die „das All in allem erfüllt“. Die ein All erfüllt, zu dem nun auch unsere kosmonautischen, unsere astronautischen Erfolge gehören, zu dem sie als ganz kleine Ereignisse gehören. Gehen wir mit diesem großartigen Bewusstsein heute nach Hause!

Amen.

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“

Und jetzt beschließen wir mit dem nächsten Teil des Liedes von Michael Praetorius: „Gen Himmel aufgefahren hoch, ist er doch allzeit bei uns noch […]. Durch ihn der Himmel unser ist.“ (EG 121,3-4).

Predigt verfasst zugleich für: Johannesgemeinde, Erlangen

Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de

1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, seit 1998 Dienst für den Martin-Luther-Bund (das lutherische Diasporawerk) in Erlangen, seit 2016 im Ruhestand.

[i]   Begriffe in ( ) geben Varianten an, die in antiken Abschriften vorliegen. Begriffe in [ ] geben Klärungen des Satzbaus. Der Begriff nach / gibt eine Variante des Verstehens.

Diesmal muss ich zugeben: Dieser Bibeltext ist im Griechischen gar nicht einfach. Wie kann man Vers 20 in zwei Teile aufteilen und den Predigttext mit einem Vers 20b beginnen? Letztlich biete ich eine Übersetzung, bei der ich besonders vier Vorlagen befragt habe: Das griechische Original (NT-Graece, 28. Auflage), eine Übersetzung ins Hebräische (London, wohl aus dem 19. Jahrhundert), die englische Übersetzung der Revised Standard Version von 1971 und schließlich unsere Lutherübersetzung in den Revisionen von 1903 und von 2017.

de_DEDeutsch