„Erschrecken Sie nur in Fluchtrichtung!“

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„Erschrecken Sie nur in Fluchtrichtung!“

Predigt über Matthäus 10, 26-33 am Reformationstag 31.10.2020 | verfasst von Manfred Mielke |

Liebe Gemeinde,

„erschrecken Sie nur in Fluchtrichtung!“ Als ich diese Anweisung in einem Bericht hörte, stutzte ich. Denn sie befiehlt, beim Erschrecken einer anderen Person ihr nicht den Fluchtweg zu versperren. „Bitte erschrecken Sie unsere Besucher nur in Fluchtrichtung!“ ist auch keine Spielregel für unsern Gottesdienst zum Reformationsfest; sie stammt vielmehr von der Konkurrenzveranstaltung namens „Halloween“. Im „Movie Park Germany“ läuft seit 4 Wochen das „Halloween Horror Fest“. Dabei kann jeder zwischen den Kulissen ehemaliger Horrorfilme lustwandeln und wird dabei von maskierten Hilfskräften überfallartig erschrocken. Verkleidet und bekleckert als Hexen, Zombies oder Untote sollen sie so herumtollen, dass den Gästen „das Blut in den Adern gefriert“. Zu ihrer Ausbildung gehört der Befehl: „Erschrecken sie immer in Fluchtrichtung!“ Ob das jedem hilft?

Liebe Gemeinde,

der heutige Bibeltext enthält beängstigende Aussagen. Dazu gibt es jedoch Rettungswege, die wir beim ersten Zurückschrecken eventuell nicht erkennen. Der Evangelist Matthäus schreibt in seinem 10. Kapitel: Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge. Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater. (Matthäus 10, 26-33)

Liebe Gemeinde,

wie erlernen wir Furchtlosigkeit? Grundlegend dadurch, dass Gott auch im Dunkeln zu uns spricht. Anschließend sagt er: „Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht!“ Allein schon, dass Gott in der Finsternis spricht, verändert sie. „Gott will im Dunkel wohnen, und hat es doch erhellt.“ Er weckt uns des nachts das Ohr, damit wir des tags den Mund aufmachen. Gott lässt uns Bilder träumen, und wir schlagen die Augen auf und sehen Visionen.

Dazu ein kleines Beispiel: Zu uns kam ein arabischer Jugendlicher. Seine Familie, drangsalierte Christen aus Bethlehem, hatte ihn nach Europa geschickt. Er startete sein Traumstudium, um als Arzt in seiner Heimat helfen zu können. Als er vor 2 Monaten sein Physikum postete, ahnte ich, wie fremd ihm wohl lateinische Medizin-Begriffe waren. Jetzt hat sich auch sein jüngerer Bruder für einen ähnlichen Traum entschieden.

Liebe Gemeinde,

Gott entwirft Bilder in unsere Träume hinein, so steigert er unsere Sehnsucht nach realen Veränderungen. Er spricht in unsere Finsternisse hinein, so bereichert er unseren Wortschatz und unseren Bekennermut. Und er sagt: „Was euch von mir gesagt wird in euer Ohr, das predigt auf den Dächern.“ Was ist damit gemeint? Unsere Häuser haben ja meist Satteldächer, wer von einem solchen Dachfirst eine Rede beginnt, dem kommt schnell eine Rettungsleiter entgegen-gekurbelt. Aber zu Zeiten Jesu und seiner Jünger gabs meist Flachdächer. Sie wurden in der Abendkühle als weitere Wohnebene genutzt. Die Gassen dazwischen waren so eng, dass man von Dach zu Dach springen konnte. Noch schneller sprangen Neuigkeiten und Warnungen über. – Matthäus meint also, dass das Evangelium des Jesus zwar auch getuschelt werden kann, aber als Lauffeuer auf eine höhere, unverstellte Ebene gehört. Ein wenig davon versuchen wir in Video-Gottesdiensten, online-Seelsorge und open-air auf „ausgesetzten Kanzeln“ (W. Klaiber). Doch dabei ist noch viel Luft nach oben.

Wie geht nun christliche Furchtlosigkeit? Dazu weiß der Evangelist, dass jeder Christ genug Ohren- und Augenfutter auf Vorrat hat, um tapfer und öffentlich aufzutreten. Doch seine damalige Kirche war angsterfüllt; dagegen will er sie am ursprünglichen Auftrag stark machen. Im Einklang mit Gott ermutigt er: „redet ganzheitlich bei Tageslicht“ und „predigt bitte so, dass es überspringt“.

Liebe Gemeinde,

warum aber sind die Christen zu Zeiten des Matthäus so verzagt? Warum feiern sie das Abendmahl sicherheitshalber in den Katakomben der Friedhöfe? Nun, weil sie sich fürchten „vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können.“ Und weil der römische Staat zunehmend Folterungen und Kreuzigungen durchführte, überdehnte Matthäus Gottes Allmacht bis zur Warnung: „Fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle!“ Das ist eine erschreckende Aussage über Gott. Sie gesteht einem etwaigen Gegenspieler Gottes zwar keinen Spielraum zu, aber beraubt uns jeden Schutzes. Greta Thunberg sagte es in Ich-Form: “I want you to panic. I want you to feel the fear I do. Every day.” Aber laut Matthäus verfolgt Gott mich sogar bis in die Hölle, um dort meine Seele und meinen Leib auf ewig zu zerstören!? Das lässt uns nun wirklich das Blut in den Adern gefrieren!

Lässt uns Matthäus bei seiner Panikmache noch einen Fluchtweg in Richtung Furchtlosigkeit offen? Nun, er versucht es zumindest. Er nimmt den billigsten Speisevogel, das Festessen der Ärmsten, und wenn so ein Sperling in einen Kochtopf fällt, war es auch nach Gottes Plan. Und jedes Spliss-Haar, das irgendwo ein Mensch unbemerkt verliert, wird von Gott registriert und zurückverfolgt. Mit diesen kleinen Aufmerksamkeiten versucht Matthäus, uns Fluchtwege aus der Höllen-Panik aufzuzeigen. Zwar zielt er darauf, unsern Bekennermut wieder ursprünglich zu machen, aber seine Bilder mildern nicht die Panik vor einer Tötung durch Gott in der Hölle. Nicht wirklich.

Fragen wir die Reformatoren, wie sie ihre Furcht ablegten. Sie entschlackten immerhin die katholischen und mönchischen Angst-Rituale. Luther blieb dennoch befangen, Zwingli empfahl eine fröhliche Ehrfurcht, Calvin sah die Menschenmehrheit zur Hölle vorherbestimmt. Die Reformatoren fingen doch so grandios furchtlos an, aber sie selbst und ihre Theoretiker drangen nicht durch zu einem ansteckend-angstfreien Glauben. Suchen wir woanders – bei Christus. Er selbst ist der vermutlich beste Fluchthelfer aus der Furcht. Dazu möchte ich mir ein fiktives Gespräch mit ihm vorstellen.

Liebe Gemeinde,

wir könnten doch Jesus – als er noch im Grab war – fragen, was er in der Hölle erlebt hat. Er könnte sagen: „Da bin ich als Siegesheld mit flatternder Fahne durchgeritten.“ „Und hat dich Gott da nicht zu Tode erschrocken?“ „Nein, eher angefeuert in Richtung Notausgang.“ – Wir könnten Jesus fragen, woher er den Mut hatte, 3 Tage nach seiner Ermordung wieder einen Fuß vor die Türe zu setzen. Er könnte den 1. Johannesbrief zitieren: „Die völlige Liebe treibt die Furcht aus.“ Wir könnten zurückfragen: Wessen Liebe – Gottes oder deine? Und er könnte sagen: „Seine, denn Gott hat uns zuerst geliebt.“ – Unsre Frage folgt: „Wann hat das begonnen?“ Und er könnte Paulus zitieren: „Als wir noch tot waren in Sünden, hat er uns lebendig gemacht.“

Mit so einem Frage- und Antwortspiel hätten wir weiterhin keinen Gegenspieler Gottes zugelassen, aber den anderen biblischen Zeugen große Spielräume eingeräumt. Deren Mut leihen wir uns und sagen: „Weicht ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister Jesus tritt herein!“ Dabei fliehen wir letztlich von einem Gott zum andern. So geht Furchtlosigkeit eigentlich: Gott spricht in der Finsternis sein Wort. Wir werden verunsichert durch apokalyptische Angstprediger, aber wir fliehen von Gott zu Gott. Weil uns dabei Christus unvermutet begleitet, wächst unsere Furchtlosigkeit.

Die völlige Liebe, die die Furcht austreibt, steht uns nicht so einfach zur Verfügung, „denn die Furcht hat Pein!“ Uns ist peinlich, dass unsere Liebe Defekte hat. Die völlige Liebe aber muss einen sehr großen Anteil an Freiheit haben. Einer Freiheit, die dem Schöpfergott vertraut, dass er dem Tod den Stachel zog. Und nun liegt es an uns, diese Feinmotorik der Furchtlosigkeit auszuüben, und einander den Stachel der Angst zu ziehen.

Liebe Gemeinde,

an welcher Stelle verzahnt sich nun unsere neue Furchtlosigkeit mit der Kühnheit Jesu und der Unerschrockenheit Gottes? Matthäus knüpfte an an der Gewissheit, dass Gott auch im Dunkeln spricht und Jesu Botschaft auf alle Dächer gehört. Dann entwarf er eine riesige Panikattacke, die aber Gott und sein Jesus völlig anders auflösten. Und nun empfiehlt er uns, die neue Furchtlosigkeit auszuprobieren im Bekennen.

Denn mutiges, anlassbezogenes Bekennen ist die tätige Seite der Furchtlosigkeit, die sogar auch Jesus tätig werden lässt: „Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater.“ Unsere Furchtlosigkeit hat somit zwei zusammenhänge Ziele. Auf unserer Bühne ist es unser anlassbezogenes Bekenntnis zur Hoffnung, die uns treibt. Auf der anderen Bühne ist es Jesu Christi personenbezogenes Bekennen zu uns vor seinem himmlischen Vater. Das ist – nach unserem Herumirren im Labyrinth der Ängste – doch ein angstlösendes Bild des Zusammenhalts. Amen.

 

Verwendete Literatur:
Matthäus – EKK-Kommentar; Ulrich Luz, Düsseldorf 2008

Das Matthäus-Evangelium; Walter Klaiber in BdNt, Neukirchen-Vluyn 2015

Das Christentum und die Angst; Oskar Pfister, Olten 1974 (1Zürich 1944)

Luthers Anleitung zum seligen Sterben; Berndt Hamm in JBTh 19

Fürchtet euch nicht; Christian Staffa in Predigtmeditationen Berlin 2019

 

Aufgerufene homepages:

“Movie Park Germany”, Casting-Ausschreibung für Halloween

„Fridays for future“ bzw “Greta Thunberg”

 

Vorschläge für Lieder:

In Ängsten die einen (tvd 303)

Aus tiefer Not schrei ich zu Dir (EG 299)

Und suchst du meine Sünde (EG 237)

Die ganze Welt hast Du uns überlassen (Eg 360)

Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut (Irmgard Spiecker; Lied ist geschützt, auffindbar in: Materialien zum Weltgebetstag)

 

Vorschlag für Fürbitten:

Gott,

wir sind müde geworden. Trotz aller Vorsicht bleibt die Angst.

Sprich zu uns, auch im Dunkeln. Nimm uns die Angst, auch in tiefen Tälern.

Lass uns mutig werden, weil Du dich zu uns bekennst.

Wir rufen zu Dir: „Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut“

Gott, heute bitten wir dich

für alle Ärztinnen, Pfleger und Sanitäter und ihre Überlastung.

für die Aufstocker, die durch Corona zusätzlich verarmen.

für die Familien, deren Alltag durch Quarantäne belastet wird.

Wir rufen zu Dir: „Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut“

Gott, wir bitten dich

für die mutigen Lehrerinnen und Lehrer, die Kindern den Weg ins Leben erleichtern.

für Journalistinnen und Journalisten, die Unrecht aufdecken.

für alle, die in der Asylhilfe praktisch helfen.

Wir rufen zu Dir: „Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut“

Gott, wir bitten dich

für jeden, der Religion als Bevormundung eingeimpft bekam und sich befreit.

für die Kirchen in den USA, die sich dem Mainstream entgegenstellen.

für alle, die mit Rückhalt im Evangelium furchtlos für Frieden eintreten.

Wir rufen zu Dir: „Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut“

Gott, wir bitten dich

für jeden Menschen, der heiter und unbefangen alle Vorurteile beiseiteschiebt.

für jeden, dem die Tier- und Menschenrechte wichtiger sind als Gier und Profit.

für die Gruppen und Initiativen, die Deine Liebe leben und ausstrahlen.

Wir rufen zu Dir: „Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut“

Sei den Müden nahe und schütze die Wachen.

Sei unsere Zuversicht und Stärke. Jetzt und allezeit.

Amen.

 

Mielke, Manfred, Pfarrer i.R.

Manfred.Mielke@ekir.de

Am Bosserhof 13 a

46519 Alpen

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn und Ruanda. Instrumentalist und Arrangeur.

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