Exodus 32,7–14

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Exodus 32,7–14

Mit Gott verhandeln? | Rogate | 5. Mai 2024 | Ex 32,7–14 | Gert-Axel Reuß |

Liebe Gemeinde,

„Jetzt hilft nur noch beten!“ sagte ein Freund am Telefon, nachdem er im Krankenhaus eine niederschmetternde Diagnose erhalten hatte. Ich war am anderen Ende der Leitung zunächst sprachlos. Ich wusste nicht so recht, wohin mit meinen Gefühlen. Ohnmacht, Wut, Resignation, Verzweiflung – als ob ich selbst diese Diagnose erhalten hätte. Beten – so dachte ich in diesem Moment – Beten hilft jetzt auch nicht mehr. Welch ein Irrtum!

Liebe Gemeinde,

„Jetzt hilft nur noch beten!“

Bestimmt erinnern Sie sich an das Foto, das So-yeon Schröder-Kim (die Ehefrau des früheren Bundeskanzlers) in einem Hotelzimmer von sich aufgenommen hat, die Hände zum Gebet gefaltet, im Hintergrund die Basilius-Kathedrale in Moskau. Das Posting löste im März 2022 in Deutschland eine Welle der Kritik aus. Zu missverständlich, zu doppeldeutig war die Botschaft: War das Selbstinszenierung oder ernst gemeint?

Drei Wochen zuvor hatte der russische Präsident den Befehl gegeben, die Ukraine militärisch zu überfallen. Darf man mit einem Gewaltherrscher über Frieden verhandeln, wie es Gerhard Schröder aus privater Initiative offenbar getan hat? Und was bedeuten in diesem Zusammenhang die vielen Friedensgebete, die in jenen Wochen in vielen unserer Kirchen stattgefunden haben? Haben sie geholfen? Welchen Sinn hatten sie? Hatten Sie einen Sinn? Natürlich haben sie Sinn!

Liebe Gemeinde,

ich habe Ihnen völlig verschiedene Situationen geschildert, in denen das Gebet augenscheinlich eine Rolle spielt. Denn dieser Sonntag will zum Beten ermutigen – egal, wie jemandem ums Herz ist, egal wie ihr/ihm der Schnabel gewachsen ist. Das Gespräch mit Gott braucht keine Konventionen. Hauptsache es geschieht – nicht um Gottes willen sondern um unseretwillen! Weil das Beten Menschen verändert, herausführt aus Sprachlosigkeit und Ohnmacht. Weil das Beten die Welt verändert – vielleicht nicht heute oder morgen, aber man stelle sich nur für einen Moment vor, wie eine Welt aussähe, in der das Gespräch mit Gott zum Erliegen gekommen wäre. Wie gut, dass das nicht so ist!

Liebe Gemeinde,

der biblische Text für diese Predigt beleuchtet einen Aspekt, der uns bei oberflächlicher Betrachtung lächerlich erscheinen muss. Mose verhandelt mit Gott – als ob man mit Gott verhandeln könnte.[1] Mein Freund, den ich zu Beginn erwähnte, ist an seiner Krankheit verstorben. Der russische Despot hat seine Soldaten immer noch nicht zurückgerufen. Und man kann fragen, ob man den Ukrainerinnen und Ukrainer nicht lieber Waffen senden sollte, als seine Betroffenheit vor Gott zu bringen.

Mose verhandelt mit Gott – als ob man mit Gott verhandeln könnte![2]

Beim zweiten Lesen bzw. Hören der biblischen Geschichte öffnen sich Horizonte, die m.E. bis zu uns reichen. Aber hören Sie selbst:

7 Der HERR sprach aber zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. 8 Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben’s angebetet und ihm geopfert und gesagt: Dies sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägyptenland geführt haben. 

9 Und der HERR sprach zu Mose: Ich habe dies Volk gesehen. Und siehe, es ist ein halsstarriges Volk. 10 Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie verzehre; dafür will ich dich zum großen Volk machen. 

11 Mose wollte den HERRN, seinen Gott, besänftigen und sprach: Ach, HERR, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? 12 Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem glühenden Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. 13 Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig. 

14 Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk angedroht hatte.  

Liebe Gemeinde,

auf das erste Hören: Es klingt absurd, als ob man mit Gott verhandeln könnte.

Als ob ein goldenes Kalb Gott irgendetwas anhaben könnte. Eifersucht und Zorn sind doch eher menschliche Schwächen. Mose selbst ist derjenige, der voller Zorn die Tafeln mit den 10 Geboten zerbricht und das Götzenbild zerstört (2. Mose 32,19+20). Mose selbst ist derjenige, dem der Sinn nach Bestrafung steht (und der ein Blutbad unter den Israeliten anrichtet, vgl. 2. Mose 32,27+28).

Ich verstehe die Geschichte als einen inneren Dialog miteinander streitender Stimmen, wie sie in Mose – und im Grunde in jedem Menschen – vorhanden sind. Mose ist angesichts dessen, was er sieht, hin- und hergerissen. ‚Die 10 Gebote? Halten die Leute sowieso nicht.‘ ‚Noch einmal von vorn anfangen können, nur mit den eigenen Nachkommen, mit der eigenen Familie? Wäre das nicht eine Chance?‘

Was also könnte der Sinn sein, dass die Bibel an dieser Stelle Gott ins Spiel bringt? Obwohl Mose im Fortgang der Geschichte in die hier imaginierte Rolle Gottes schlüpft und ein Strafgericht an den Abtrünnigen tatsächlich vollzieht – sich also nicht umstimmen lässt wie Gott.

Beim zweiten Hören bzw. Lesen ist mir klar geworden: Mose braucht Gott, damit sein Zorn verraucht. Mose braucht Gott, damit sein Mitgefühl zum Vorschein kommt. Mose braucht Gott, um seine Aggressionen zu zähmen. Um seinen Furor einzuhegen und sein ursprüngliches Ziel – den Weg in die Freiheit – weiter zu verfolgen. Sein Zorn, vielleicht auch die Eifersucht auf seinen Bruder Aaron (der hatte während der Abwesenheit des Mose das „Regierungsamt“ inne. Aaron hatte das Stierbild aus Gold aus dem Schmuck der Leute angefertigt – und bleibt eigenartigerweise vom Strafgericht seines Bruders (s.o.) verschont) – Zorn und Eifersucht haben Mose blind gemacht. Alleine kann er sich aus dem Kreislauf seiner negativen Gedanken nicht lösen. Dafür braucht er Gott – als Projektionsfläche, als Stellvertreter, als Sündenbock, als Befreier!

Dafür brauchen wir Gott als den, der uns hilft, unsere Gedanken zu sammeln. Dafür brauchen wir Gott, der uns aushält mit all unseren Stimmungen und Gefühlen. Dafür brauchen wir Gott als Befreier, damit wir fähig werden und bleiben, Menschlichkeit zu leben.

Nun könnte man sagen: Genau das ist doch die Mission Jesu, sein Erlösungswerk!

Ja! Deshalb gibt es Menschen, die zu Jesus beten. Gebete, durch die wir mit Jesus in einen Dialog treten. Die nicht nur gedachte, sondern auch die ausgesprochene Frage: „Was würde Jesus dazu sagen?“ (Martin Niemöller)

Eine Antwort auf diese Frage ist das ‚Vater Unser‘. Ist die Bitte, dass wir unseren Willen durch Gott formen lassen: „Dein Wille geschehe!“ Ist das Erkennen, dass wir der Vergebung bedürfen, weil es Worte und Taten gibt, die wir nicht ungeschehen machen können. Ist die Bereitschaft, anderen zu vergeben – allen anderen (!) zu vergeben; mitunter ist dies eine nahezu lebenslange Aufgabe, bevor wir zur Vergebung bereit sind. Ist die Sehnsucht nach einer Welt, in der das Böse keine Macht mehr hat: „Dein Reich komme!“

Liebe Gemeinde,

das Gebet des Mose erscheint dagegen archaischer – genauso wie sein Gottesbild. Das bedeutet aber nicht, dass dieser Glaube falsch wäre. Er ist auch nicht weniger wert – vielmehr spiegeln sich in dem biblischen Text von der Fürbitte des Mose starke Gefühlskräfte, die auch an uns zerren können. Gerade dann, wenn uns großes Leid geschieht, wenn uns ein schlimmes Schicksal getroffen hat brauchen wir Mose als einen ‚Fürsprecher‘, der in Worte bringt, was auch wir fühlen. Gerade dann brauchen wir Mose, der uns gezeigt hat, dass wir das, was uns unter den Nägeln brennt, nicht nur vor Gott bringen dürfen. Wir dürfen es Gott auch mitfühlen lassen!

Haben unsere Gebete um Frieden in der Welt einen Sinn?

Ja! Sie haben vielleicht nicht nur einen Sinn. Aber ein Sinn ist: Das Gebet für die Menschen in der Ukraine, für die Menschen im Gazastreifen in den verwüsteten Siedlungen und gefangen in den Tunneln, ja – sogar das Gebet um den Frieden, das die Despoten und Gewalttäter miteinschließt, hilft uns mitfühlende Menschen zu bleiben und die Hilfe zu mobilisieren, die wir leisten können (das ist mitunter mehr, als wir tun, und mehr, als wir denken). Lasst uns die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Macht des Bösen endlich ist und gebrochen werden wird – auch wenn wir heute nicht wissen, wann und wie.

Was ändert das Beten, wenn ein Freund im Sterben liegt?

Das Beten hilft, Sprachlosigkeit zu überwinden. Das Beten führt uns heraus aus der Lähmung, die uns befällt, wenn uns die Hände gebunden sind, wenn wir ein Schicksal nicht wenden können. Ja, uns allen ist der Tod bestimmt, und mitunter ist es traurig und schwer, wenn jemand viel zu früh gehen muss. An manchen Gräbern stehen wir weinend und ratlos und brauchen Menschen, die für beten und die mit uns beten und hoffen. Weil wir es alleine nicht schaffen. Aber das brauchen wir auch nicht, denn wir sind nicht allein! Gott steht uns bei und gibt uns die Kraft, einander beizustehen.

Amen.

Gert-Axel Reuß

Domprobst

Domhof 35

23909 Ratzeburg

Mail: reuss@ratzeburgerdom.de

Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor der Nordkirche, seit 2001 Domprobst zu Ratzeburg

[1] An dieser Stelle ist die Aussageabsicht meines Satzes: Man kann mit Gott nicht verhandeln. – Im nächsten Absatz taucht dieser Satz ein zweites Mal auf (s.u.).

[2] Mose verhandelt mit Gott, als ob man mit Gott verhandeln könnte. An dieser Stelle ist die Aussageabsicht meines Satzes: Man kann mit Gott verhandeln – auch wenn es sich bei näherer Betrachtung um ein inneres Gespräch handelt. Aber damit dieses innere Gespräch gelingt, braucht es eine Projektionsfläche, die außerhalb unserer selbst liegt.

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