Exodus 20

Exodus 20

 

Predigten und Texte zum Dekalog, März
2002
Reflexion zum fünften Gebot – Jochen Cornelius-Bundschuh

Das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten.

„Du sollst nicht töten!“ Dieses Gebot ist die Voraussetzung
für jedes Zusammenleben. Nur wenn wir uns daran halten, ist Leben
möglich. Die Fragen der Beziehung zu anderen Menschen, die Fragen
des Eigentums, all das hat zur Voraussetzung, dass mein Leben und das
der Menschen um mich herum bewahrt bleibt. Wird es nicht erfüllt,
ist gemeinsames Leben nicht möglich, wird nicht nur das Leben der
Opfer zerstört, sondern auch das des Täters oder der Täterin.

Aber ist das nicht eine Selbstverständlichkeit? Ich bin doch kein
Terrorist, kein Mörder! Muss Gott uns das überhaupt sagen; ist
dieses 5. Gebot nun nicht wirklich eines, was sich von selbst versteht,
was jeder Mensch aus sich selbst heraus wissen kann?

I.
„Du sollst nicht töten!“ Im Deutschen ist die Prägnanz
der hebräischen Formulierung des 5. Gebots kaum wieder zu geben.
Es sind nur zwei Worte; ohne Objekt, ohne Zusatz. Ohne Erklärung
oder Begründung. Ohne Erläuterung, was im Falle eines Fehlverhaltens
droht. Zwei Worte, nicht als Imperativ, als Befehl, sondern als feststellende
Verneinung: „Du tötest nicht!“

Die Formulierung erinnert daran, wie Eltern mit ihren Kindern reden:
du machst das jetzt nicht! Du hörst jetzt auf damit! Ein klarer Indikativ
– stärker als ein Befehl. Dem Kind bleibt gar nichts anderes als
diesen Weg zu gehen, der in diesem Satz beschrieben ist. In ein solches
Verhältnis zu Gott rückt uns das fünfte Gebot: da ist kein
Abwägen gefragt, kein Diskutieren.

Aber was dann? Du tötest nicht! Die traditionellen Friedenskirchen
haben es als unbedingte Anrede Gottes verstanden, als klare Orientierung
für den Weg durch das Leben, individuelle und politisch-sozial: Ich
nehme keine Waffe; ich töte nicht. Andere hören darin den Ruf
nach Gehorsam und erinnern daran, dass Menschen auch den Verstand von
Gott bekommen haben: ist es nicht manchmal nötig zu töten, um
Schlimmeres zu verhindern? Hätte das erfolgreiche Attentat gegen
Hitler vom 20. Juli nicht Leiden und Tod erspart? Aber auch: ist aktive
Sterbehilfe geboten, fragen die holländischen Kirchen, wenn die Alternative
ein Leiden ist, dass nicht mehr zu ertragen, das unmenschlich ist?

II.
„Du sollst nicht töten!“ Die Knappheit der Formulierung
erhöht die Allgemeingültigkeit des Gebots. Es sind nicht nur
die Nächsten gemeint, wie in den letzten Geboten. Wo sich sogleich
die Frage stellt: wer ist denn mein Nächster, wer ist denn meine
Nächste? „Du sollst nicht töten!“ gilt für alle
Menschen, für jeden und jede, ohne Einschränkung, ohne nach
Alter, Geschlecht, Nationalität, Stand, Religionszugehörigkeit
oder den physischen und psychischen Fähigkeiten zu fragen. Diese
Gebot erhebt einen universalen Anspruch.

Aber was ist gemeint mit ‚töten‘? Das an dieser Stelle in der
hebräischen Bibel verwendete Wort meint nicht das Töten von
Tieren. Es wird auch nie für das Töten durch Gott verwendet
Und ihm haftet immer etwas Gewaltsames an. Es bezeichnet ein ungesetzliches,
willkürliches Totschlagen. Ein Handeln gegen Unschuldige. Ist also
mit dem fünften Gebot nur das vorsätzliche und böswillige
Töten anderer durch einzelne gemeint. Heißt es eigentlich nur:
„Du sollst nicht morden?“ Oder wird damit auch etwas über
Euthanasie und Todesstrafe, Terroranschläge und Kriegsdienst, Abtreibung,
Rüstung und Tyrannenmord, über das Handeln in politischen, ethischen
oder sozialen Konfliktlagen gesagt?

Wer die biblische Überlieferung anschaut, sieht, dass das Begriff
‚töten‘ genauso weit ist wie im Deutschen. Mit ihm kann sowohl
die gewaltsame Tötung eines Menschen beschrieben werden als auch
die daraus folgende Gegenreaktion: wer tötet, muss damit rechnen,
zu Tode gebracht zu werden. Wer ungewollt getötet hat, also einen
Totschlag begangen hat, ist genauso im Blick, wie der der vorsätzlich
gehandelt hat. Für König Ahab, der Naboth, dessen Weinberg er
unbedingt besitzen will, nach Recht und Gesetz durch andere töten
lässt und sich weder an der Verurteilung noch am Töten selbst
beteiligt, gilt: er hat ihn getötet. Und die Witwen und Waisen, die
an den Folgen sozialer Ungerechtigkeit sterben, denen ihre Lebensmöglichkeit
geraubt werden, werden im Sinne des fünften Gebots getötet,
auch wenn der- oder diejenige nicht als Person zu identifizieren ist,
die das getan hat.

„Du sollst nicht töten!“ das umschließt alle Verhaltensweisen,
die direkt oder indirekt den Tod anderer Menschen veranlassen. Sicherlich
zunächst das, was einzelne zu verantworten haben, was ich tue oder
lasse. Aber dann doch eben auch alles, was darüber hinaus geht. Es
ist nicht gesagt: Du sollst keinen Krieg führen! Aber es ist auch
nicht gesagt, dieses Gebot gilt nicht fürs Kriegführen.

III.
Wie ist das heute zu hören: Du tötest nicht!? In den schwierigen
Fragen von Krieg und Frieden, in Zeiten, in denen Menschen am Anfang und
am Ende des Lebens in ganz neuer Weise unterscheiden können, welches
Leben ist lebenswert und welches nicht.

Zwei Dinge halte ich für zentral:

Die zehn Gebote richten sich an das typische und alltägliche Tun
des einzelnen. Niemand von uns ist diesen Fragen entnommen. Niemand soll
so tun, als ginge ihn das nichts an: Gentechnik und Sterbehilfe, der angebliche
Kampf gegen den Terrorismus. Dafür sind nicht die Politiker verantwortlich.
Das halten die 10 Gebote fest: es ist meine Verantwortung; jeder und jede
von uns ist gefragt: was trägst du dazu bei, dass das Leben gedeiht
und Menschen nicht dem Tod ausgeliert werden? Das ist und bleibt eine
Gewissenfrage an mich, auf die ich eine Antwort schuldig bin.

Das zweite: „Du sollst nicht töten!“ ist keine Handlungsanweisung,
die nur das Ergebnis vernünftigen Abwägens ist. Das sicher auch;
aber sie ist mehr und anderes. Sie stellt uns in die Verantwortung vor
Gott. Nein, es gibt keinen Grund, einen Menschen zu töten. Wer immer
anderes tut, wird schuldig, schuldig vor Gott. Das gilt für den Krieg.
Wer immer das Schwert, die Bombe, die Mine, das Gewehr nimmt, wird sich
vor Gott verantworten müssen: habe ich damit verhindert, dass noch
mehr Menschen sterben? Habe ich dem Leben gedient oder eigenen Interessen,
Feindbildern?
Oder am Beispiel des Lebensendes: Es gibt keinen Grund, einen Menschen
zu töten. Nicht, um anderen Menschen die Mühen der Pflege zu
sparen, nicht um den Betreffenden von Leiden zu befreien, schon gar nicht
um der Gesellschaft Geld zu sparen. Wer immer anderes tut, wird schuldig,
schuldig vor Gott. Denn es ist Gottes Wille, dass das Leben erhalten wird.
Das Leben in seiner ganzen Vielfalt und Fülle, aber eben auch in
seiner ganzen Armseligkeit und angeblichen Sinnlosigkeit. Gott ist parteiisch
für das Leben.

IV.
„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: „Du sollst
nicht töten“. Wer aber tötet, der ist des Gerichts schuldig.
Ich aber sage euch: wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts
schuldig. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Hohlkopf! der ist des Hohen
Rates schuldig. Wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers
schuldig.“ Jesus hat das fünfte Gebot zugespitzt, radikalisiert.
Er hat die Wurzeln benannt, die mich gegen das Tötungsverbot verstoßen
lassen: Missachtung, Geringschätzung, Neid. Sie stecken in mir, sie
stecken in jedem von uns. Sie verstecken sich in vielen der guten, unschuldigen
Gründe, die ich finde oder die eine Gesellschaft erfindet, um gegen
das 5. Gebot zu verstoßen. Jesus hat deutlich gemacht: Wer einen
anderen tötet, der tötet seinen Bruder, seine Schwester, der
tötet – Gott. Also sorgt dafür, dass alle leben können.
Und macht es euch nicht leicht, wenn ihr dagegen verstoßt, als einzelne
oder als Gemeinschaft. Die Messlatte für Gründe gegen das 5.
Gebot zu verstoßen, liegt sehr hoch: schaut auf das Leben von Jesus,
schaut auf seinen Tod, schaut auf seine Auferweckung; nichts davon war
es wert, dass Menschen sterben. Habt ihr wichtigere Gründe? Ist er
diesen Weg umsonst gegangen und gestorben?

Jochen Cornelius-Bundschuh
E-Mail: cornelius-bundschuh@ekkw.de

 

de_DEDeutsch