Exodus 20

Exodus 20

 

Predigten und Texte zum Dekalog, April 2002
Predigt zum achten Gebot – Stefan Knobloch

Das 8. Gebot – ein Gebot, dem wir nicht entkommen

 

Liebe Gemeinde!

„Mit der Wahrheit hat er es nicht recht“ sagen wir manchmal
von einem Menschen. Und wir sprechen ihm damit gewisse ethische Qualitäten
ab. Es ordnet ihn ein als einen Menschen, dem man nicht durch Dick und
Dünn vertrauen dürfe. Merkwürdig ist das schon: Wir konstatieren
so etwas leichter bei anderen als bei uns selbst, obwohl auch wir selbst
keineswegs die Wahrheit, oder besser die Wahrhaftigkeit, in jeder Situation
für uns gepachtet haben. „Omnis homo mendax“, die Menschen
lügen alle, heißt es im Psalm 116,11. Wenn wir schon dem Dunstkreis
der Unaufrichtigkeit und Lüge nicht entkommen, dann nehmen wir für
uns gerne unsere Zuflucht zur Notlüge. Es sei ja nur „Notlüge“
gewesen, auf keinen Fall arglistige Täuschung oder Irreführung,
was wir uns vorzuwerfen hätten.

Alles nur Notlüge – alles halb so wild?

In Abraham und Sara haben wir gewissermaßen willkommene Entlastungszeugen,
die uns vorgemacht haben, wie das mit der Notlüge funktioniert und
daß das also schlimm nicht so sein kann. Als er von einer Hungersnot
getrieben mit seiner Frau Sara nach Ägypten zieht, um sich dort mit
Essensvorräten zu versorgen, kommen ihm Bedenken wegen Saras Schönheit.
Am Ende könnten ihm die Leute im fremden Land Gewalt antun, um an
seine Frau zu kommen. „Sag doch, sollte es soweit kommen, du seiest
meine Schwester, dann wird uns nichts passieren“ (vgl. Gen 12,13).
Trotz dieser Notlüge scheut sich das Neue Testament nicht, Abraham
den Vater unseres Glaubens zu nennen (vgl. Gal 3,7)?

Eine Notlüge auf der Ebene der großen Politik wird ohne Wimpernzucken
und unkommentiert bei Jeremia berichtet. In der dramatischen Situation
der Belagerung Jerusalems durch die Truppen der Chaldäer – der Babylonier,
wie wir eher zu sagen gewohnt sind -, rät Jeremia dem König
Zidkija, vor die Stadt zu ziehen und sich den Heerführern des Königs
von Babel zu ergeben. So werde von ihm selbst und von der gesamten Stadt
Unheil abgewendet. Die Generäle und Berater Zidkijas aber hegten
gegenüber Jeremia schon lange den Verdacht, er torpediere die Moral
der Truppe, er untergrabe den Widerstands- und Kampfeswillen der Belagerten.
In den Schatten dieses Verdachts wollte der König Zidkija aufgrund
seiner Kontakte zu Jeremia nicht hineingezogen werden. „Niemand darf
von unserem Gespräch erfahren“, so schärft er Jeremia ein,
„und wenn dich die Beamten fragen, dann erzähle ihnen irgend
etwas Belangloses“ (vgl. Jer 24-28). Und so tat es Jeremia dann auch.

Von dieser Begebenheit ist der Sprung in die aktuelle Tagespolitik nicht
weit. Was da Mitte-Ende März im Bundesrat in Sachen Abstimmung über
das Zuwanderungsgesetz über die Bühne ging, war „Theater“,
sagten die einen; „ehrliche Empörung“, sagten die anderen.
Politische Wegelagerei auf beiden Seiten war es allemal, Getrickse, unwürdiges
Miteinanderumgehen, dem es an Wahrheit und Wahrhaftigkeit mangelte. Oder
man denke an den sogenannten Kölner Spendensumpf, an offensichtliche
Bestechungs- und Korruptionsvorgänge. „Köln sei überall“,
sagt und liest man in diesen Tagen. Nur muß man sich hüten,
das Problem der Wahrheitsbeugung und der mangelnden Wahrhaftigkeit großformatig
auf die Politiker und die politische Szene zu projizieren, um durch diese
Ablenkung gewissermaßen selbst mit weißer Weste dazustehen.
So weit dürfte es mit unserer weißen Weste nicht her sein.
Man versuche nur einmal, gedanklich seiner letzten Steuererklärung
etwas näherzutreten…

Der ursprüngliche Topos – vor Gericht

Dabei hat das 8. Gebot sein Zentrum genau genommen nicht in der Ehrlichkeit,
sondern in seiner Ausrichtung am anderen, am Nächsten. „Du sollst“,
so lautet das Gebot nach Ex 20,16 bzw. Dtn 5,20, „nicht falsch gegen
deinen Nächsten aussagen.“ Man sieht es der Formulierung an,
wo das Gebot ursprünglich seinen Sitz hat, nämlich in der Aussage
vor Gericht, ob in der Rolle des Klägers oder des Zeugen, macht da
keinen großen Unterschied. Überall lauert die Gefahr der Falschaussage,
der Beugung der Wahrheit. Meineid vor Gericht wird noch heute mit Strafe
belegt, und vereidigt wird gegebenenfalls der Zeuge, da dessen Aussage
auf ein Urteil entscheidend einwirken kann. Nicht erst hier, in der qualifizierten
Situation der Zeugenschaft vor Gericht, sondern ganz generell verletzt
die bewußte schädigende Falschaussage das Fundament des sozialen
Zusammenlebens. Auch wenn heute viele beim Gebrauch der Eidesformel –
die gelegentlich zur Meineidsformel gerät – auf den direkten Bezug
auf Gott verzichten, ändert das nichts an der zerstörerischen
Dramatik eines solchen Vorgangs. Im Alten Testament ist mehrfach bezeugt,
daß ein falscher Zeuge Gott ein Greuel sei (Spr 6,19), daß
Fluch in das Haus dessen einziehe, „der bei meinem Namen einen Meineid
schwört“ (Sach 5,4).

Jesu Haltung war hier von einer noch kompromißloseren Radikalität.
„Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist:
Du sollst keinen Meineid schwören… Ich aber sage euch: Schwört
überhaupt nicht… Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles
andere stammt vom Bösen“ (Mt 5,33.34.37). Gleichwohl kannte
auch Jesus Sprachformen, die das einfache Ja zu einer qualifizierten Aussage
umfigurierten, beispielsweise wenn er seinen Worten ein „Amen, ich
sage euch“ oder ein „Amen, ich sage dir“ (vgl. Mk 14,9.25.30)
voranstellte.

Wenn also das 8. Gebot seinen qualifizierten Ort auch im Bereich der
Rechtsprechung hat, so reicht es gleichwohl weit darüber hinaus in
alle Lebensbereiche hinein. So fällt unter das Gebot auch schon die
üble Nachrede, jener Sachverhalt also, wo einer über einen anderen
Dinge verbreitet, die dessen Leben tatsächlich betreffen oder betroffen
haben, also nicht aus der Luft gegriffen und frei erfunden sind. Sie zu
streuen und unter die Leute zu bringen, erfüllt streng genommen nicht
den Tatbestand der Lüge, fällt aber gleichwohl unter das 8.
Gebot, da hier Dinge aus unlauteren Motiven und mit schädigender
Absicht gestreut werden. Hieran wird erneut deutlich, daß das 8.
Gebot sein Zentrum im Nächsten hat. Das ist gewiß zweischneidig
und darf nicht dahingehend mißdeutet werden, als dürfe man
dann ja wohl auch einen Meineid vor Gericht schwören, wenn damit
nur die „gute Absicht“ verfolgt werde, Schaden von jemand abzuhalten.
Hier die Dinge richtig zu gewichten, dürfte nicht schwerfallen. Im
Fall der Gerichtsverhandlung geht es um die Wahrheitsfindung ohne Ansehen
der Person, im anderen Fall aber haben immer der Persönlichkeitsschutz
und die Achtung der Personenwürde den Vorrang, die es verbieten,
Gift zu spritzen und den guten Namen eines Menschen in den Dreck zu ziehen.
Wie sagt ein lateinisches Sprichwort? „Semper aliquid adhaeret“;
etwas bleibt immer hängen – an ausgestreuten Gerüchten, mögen
sie nun zutreffen oder nicht.

In kluger Weise Wahrheit verschleiern?

Dieses oberste Gesetz der Rücksichtnahme, besser der Orientierung
am Nächsten, scheint als Prinzip auch einem Satz des Thomas‘ von
Aquin zugrunde zu liegen, der in seiner Summa theologica begegnet: „Es
ist erlaubt, in kluger Weise die Wahrheit zu verschleiern.“ Im ersten
Moment möchte man spontan aufbegehren gegen das Hintertürchen,
das hier der Wahrheitsbeugung geöffnet zu werden scheint. Aber der
Satz führt offensichtlich etwas anderes im Schilde. Die Wahrheit
in kluger Weise zu verschleiern, will bedeuten, in einer Situation, in
der einer kein Anrecht auf die objektiv „volle“ Wahrheit hat,
diese Wahrheit mit Rücksicht auf einen Dritten nicht frank und frei
auf den Tisch zu legen. „In kluger Weise“ meint keine Tricks,
sondern meint den verantwortungsvollen Bezug auf den Nächsten, über
ihn nicht „falsch“ bzw. schädigend zu reden.

Wenn es so um das 8. Gebot steht, dann scheint es allerdings schwierig
zu werden mit der sogenannten „Gemeinderegel“, der wir in Mt
18,15-20 begegnen. Dort ist zwar nicht von der Lüge die Rede, aber
der dort empfohlene modus procedendi, der dort empfohlene Verfahrensmodus,
wenn ein Bruder gesündigt habe, scheint letztlich ohne die Verletzung
seiner Personenwürde nicht auszukommen. Wenn ein Bruder sündigt,
„dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht.“ Schon
hier drängt sich die Frage auf, wann wir das zum letzten Mal versucht
hätten? Und mit welchem Erfolg? Wurden wir mit offenen Armen aufgenommen
oder sind wir nicht eher abgeblitzt, womöglich unter Hinweis auf
ein anderes Jesuswort, das hier einschlägig wäre: „Warum
siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem
Auge bemerkst du nicht“ (Mt 7.3)? Die Gemeinderegel sieht weiter
vor, wenn der „Vier-Augen-Versuch“ gescheitert sei, dann zwei
weitere Personen hinzuzuziehen. Wenn auch das keinen Erfolg habe, müsse
die Angelegenheit vor die Gemeinde gebracht werden.

Anstrengende Sätze sind das, die nach ihrer inneren Logik gewiß
nichts mit dem 8. Gebot zu tun haben, aber für unser Empfinden eben
wohl doch, insofern sich das 8. Gebot schützend vor den Nächsten
stellt. Gewiß geht es in der Gemeinderegel im Ansatz genau nicht
um Persönlichkeitsschädigung, sondern um das genaue Gegenteil,
aber verstricken sich hier nicht die Fäden rasch so, daß man
der Gemeinderegel kaum nachkommen kann, ohne den Inhalt des 8. Gebotes
zu tangieren? Vielleicht hat sich eben deshalb diese Gemeinderegel in
der Praxis kaum durchgesetzt.

Unglaube als „Lüge“

All diese bisherigen Überlegungen scheinen, wie mehrfach betont,
das 8. Gebot ausschließlich einem bloß ethischen Horizont
zuzuordnen, als sei mit diesem Referenzrahmen sein Inhalt bereits vollgültig
getroffen. Ohne seiner Orientierung am Nächsten auch nur das Geringste
wegzunehmen, muß man allerdings auch sehen, daß die Heilige
Schrift nicht nur den Tatbestand der Falschaussage gegenüber dem
Mitmenschen mit Lüge bezeichnet, sondern auch den ganz anders gearteten
Tatbestand des Unglaubens gegenüber Gott als Lüge identifiziert.
Vom Joh-Evangelium her legt sich das zwingend nahe. Nach Joh 8,30-47 findet
Jesus, der Offenbarer des Vaters, bei den Juden, den Kindern Abrahams,
kein Gehör, keinen Glauben, weil sie, wie Jesus sagt, nicht Abraham,
sondern den Teufel zum Vater hätten. Deshalb seien sie nicht imstande,
seine, Jesu, Worte zu hören (vgl. Joh 8,43b). Sie seien dem „Vater
der Lüge“ (Joh 8,44) verfallen und kämen so nicht zum Glauben.
Unglaube also als Lüge, gewissermaßen – um es im Wortlaut des
8. Gebotes zu spiegeln – als Falschaussage gegen Gott, daß an Gott
nichts sei, an seiner Nähe und an seinem Interesse am Menschen, vor
allem aber, daß an Jesus als Offenbarer Gottes nichts sei.

Und die „Gotteskrise“ heute?

Vor diesem Hintergrund stellen manche die bange Frage, ob diese Art der
„Falschaussage“ gegen Gott heute nicht flächendeckend um
sich greife, wo so viele von einer Gottvergessenheit bzw. einer Gotteskrise
sprechen, die den eigentlichen und tiefsten Hintergrund der gegenwärtigen
Kirchenkrise ausmache. Ich denke, hier muß man in der Beurteilung
Vorsicht walten lassen. Es dürfte nicht alles „Gotteskrise“
sein, wo Gotteskrise bzw. Kirchenkrise draufsteht. Was soll Gotteskrise
eigentlich heißen? Es kann sich nämlich in der scheinbar so
besorgten Rede von der Gotteskrise ihrerseits so etwas wie eine Krise
des Glaubens an den nahen Gott verbergen. Das Zweite Vatikanische Konzil
hat mit Recht in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“
darauf bestanden, daß „es in Wahrheit nur eine letzte Berufung
des Menschen gibt, die göttliche“, und hat darauf verwiesen,
„daß der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet,
dem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise (modo
Deo cognito) verbunden zu sein“ (GS Art.22). Auch nach der anderen
Seite, also gewissermaßen vom Menschen her, dürfte es so sein,
daß der Mensch – auch und gerade heute – einen Gottesbedarf hat,
der ihn freilich auf ganz verschiedenen Wegen nach Gott suchen und fragen
läßt; nicht zuletzt in der Gestalt der Frage nach dem Sinn
des eigenen Lebens. Dann also handelte es sich heute bei vielen Menschen
nicht um die dezidierte „Falschaussage“ gegen Gott, daß
es Gott nicht gebe, sondern um ein offenes Suchen und Fragen, welches
dieselbe Pastoralkonstitution so beurteilte: „Jeder Mensch bleibt…
sich selbst eine ungelöste Frage, die er dunkel spürt. Denn
niemand kann in gewissen Augenblicken, besonders in den bedeutenderen
Ereignissen des Lebens, diese Frage gänzlich verdrängen. Auf
diese Frage kann nur Gott die volle und ganz sichere Antwort geben; Gott,
der den Menschen zu tieferem Nachdenken und demütigerem Suchen aufruft“
(GS 21).

Wir sind ein uns aufgegebenes Rätsel. Nicht nur im Bereich unseres
individuellen Lebens. Rätselhaft, ja erschreckend rätselhaft,
erschreckend von Lüge und Verblendung durchsetzt gestalten sich in
unseren Tagen wieder einmal die Auseinandersetzungen zwischen Staaten
und Völkern, wie aktuell die Eskalation der Gewalt zwischen Israel
und den Palästinensern deutlich macht. Und wieder ist dabei die Lüge
in einer qualifizierten Weise im Spiel, indem sie Selbstmordattentäter
zu Märtyrern hochstilisiert, die in Wahrheit verführte und verblendete
Mörder sind.

„Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.“
Das 8. Gebot lastet schwer auf uns. Und würden wir in großer
Nonchalance behaupten, wir hätten mit ihm keine Probleme, befänden
wir uns erneut im Bann der Lüge, ganz so wie 1 Joh 1,6 die Zusammenhänge
sieht: „Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm (mit Gott)
haben, und doch in der Finsternis leben, lügen wir und tun nicht
die Wahrheit.“

Amen

 

Prof. Dr. Stefan Knobloch
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich Katholische Theologie
Saarstraße 21 D-55099 Mainz
Tel./Fax: 0 61 31 / 39 22 743
pastoralunimz@hotmail.com

 

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