Exodus 20,15

Exodus 20,15

 

Predigtreihe zum Dekalog, Februar 2002
Das siebte Gebot (Exodus 20,15) – Dorothea Zager
„Du sollst nicht stehlen.“ (Ex 20,15)

I. Wünsche

Das erste, was ein neugeborenes Kind laut und deutlich äußert,
sind seine Wünsche: Ich will ins Warme, ich will etwas trinken, ich
will meine Ruhe. Das ist sein erster Schrei. Und der erste Schrei des
Menschen also ist bereits ein Schrei seiner Unzufriedenheit und ein Schrei
seiner Wünsche.

Welch ein Glück für eine Mutter, wenn sie ihrem Kind geben
kann, wonach es so lautstark verlangt: Wärme und Geborgenheit, eine
schützende Hand über die geblendete Äuglein und der erste
Schluck Milch aus Mutters Brust. Frieden kehrt ein in das kleine Wesen.
Und beglückt schläft es zum ersten Mal ein.

Jenes erste menschliche Verlangen, liebe Gemeinde, ist der Beginn eines
Menschenlebens, wie es jeder kennt: ein Leben voller Wünsche, voller
Träume und voller Ziele. Zunächst werden es nur kleine Sachen
sein, die sich das Menschlein wünscht: eine Spieluhr, ein Lutscher,
eine elektrische Eisenbahn. Dann aber werden mit den Kindern auch die
Wünsche größer – und schwerer zu erfüllen. T-Shirts
und Jeans, die nicht nur „no name“ sind, eine vernünftige
Stereoanlage, einen Computer, ein Skateboard, das erste eigene Auto, die
erste kleine Wohnung … und es nimmt kein Ende.

Welch ein Glück für Eltern, wenn sie ihren Kindern geben können,
wonach ihr Herz sich so sehnt.

Welch ein Glück aber für Kinder, wenn die Eltern frühzeitig
lernen, Wünsche nicht zu erfüllen und nein zu sagen.

Das klingt vielleicht paradox – birgt aber eine große Weisheit.
Jeder von uns weiß: Wünsche nehmen unser Leben lang kein Ende!
Einer, der viele unserer menschlichen Eigenheiten und Schrullen, wohl
humorig aber auch zielgenau beschreiben könnte – nämlich Wilhelm
Busch, sagt das so:

„Wonach Du sehnlichst ausgeschaut,
es wurde dir beschieden.
Du triumphierst und jubelst laut:
Jetzt hab‘ ich endlich Frieden.
Ach Freundchen, rede nicht so wild,
bezähme Deine Zunge.
Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt,
kriegt augenblicklich Junge.“

Welch ein Glück also für uns, wenn wir uns oder uns gegenseitig
Wünsche erfüllen können. Denn jeder weiß, wie schön
es ist, wenn Wünsch sich erfüllen.

Welch ein Glück aber auch für uns, wenn Wünsche einmal
nicht in Erfüllung gehen! Denn auch das weiß jeder: auf ein
Ziel hin leben, sich auf die Erfüllung eines Wunsches freuen, ist
fast noch schöner als die Erfüllung selbst.

Schon im 18. Jahrhundert schrieb Claude-Adrien Helvétius ein Buch
mit dem Titel „Vom Menschen, von seinen geistigen Fähigkeiten
und von seiner Erziehung“. Und eine ganz zentrale Erkenntnis schreibt
er mit den einfachsten Worten der Welt: „Der Mensch braucht Wünsche.“
(CLAUDE-ADRIEN HELVÉTIUS, Vom Menschen, von seinen geistigen Fähigkeiten
und von seiner Erziehung, Nachdr. Berlin/Weimar 1976, S. 128.)

II. Eigentum

Der Mensch muss zum einen lernen, dass er nicht alles haben kann. Es
gibt Besitzverhältnisse und Eigentumsrechte, es gibt meine Sachen
und Deine Sachen, unsere gemeinsamen Sachen und eben die Sachen anderer
Leute, die uns nicht gehören. Wenn ich mich recht an die Zeit der
Erziehung unserer Kinder erinnere, was das eines der ersten Dinge, die
sie lernen mussten: Nicht alles gehört dir. Und Dinge, die anderen
gehören, darfst Du Dir nicht nehmen.

So ist das siebte Gebot „Du sollst nicht stehlen.“ – so selbstverständlich
und einfach es in unserer Ohren klingt, eines der grundlegendsten Regeln
für unser Zusammenleben.

Das Gebot „Du sollst nicht stehlen!“ ist der Ruf zum Respekt
vor dem Eigentum des anderen.

Gott hat uns vieles gegeben auf unserer Welt, was uns allen gehört:
Das Sonnenlicht und den Regen, den Wechsel der Jahreszeiten, Saat und
Ernte, das saubere Wasser und die klare Luft, den Wald und die Felder,
die Bodenschätze und den Reichtum an Tieren und Pflanzen.

Aber schon hier wird deutlich: Nicht alles gehört und allen. Die
einen bewirtschaften das Land, andere zahlen für das Korn. Die einen
ernten im Weinberg, die anderen bezahlen für den Wein. Die einen
halten sich Tiere, andere kaufen Fleisch und Fell, Leder, Milch und Käse.
Dass Gott uns beschenkt hat mit vielen verschiedenen Gaben und Dingen,
Aufgaben und Begabungen, das führt dazu, dass es Besitzverhältnisse
gibt, Austausch und Handel gibt, aber eben auch Diebstahl.

III. Gerechtigkeit

Genau in diesen Besitzverhältnissen, in diesem Austausch- und Handelsgeschehen
aber liegt für unsere menschliche Gemeinschaft eine große Gefahr:
Millionen von Menschen leiden Hunger, haben keine Ausbildung und keine
beruflichen Chancen. Millionen von Menschen müssen schwerste und
erniedrigendste Arbeiten tun, betteln und eben auch stehlen, nur um zu
überleben. Auf der anderen Seite aalen sich wenige Reiche in der
Sonne, verfügen über – ich sage einmal – unmoralisch viel Geld,
fast grenzenlose Macht und kleiden sich in Stoffe, deren Namen allein
unbezahlbar sind.

Darum sage ich – und jeder von uns weiß das, wenn er sich auch
manchmal dabei recht hilflos fühlt: Auch die ungerechte Verteilung
der guten Gaben Gottes in dieser Welt sind eine Form des Diebstahls. Anderen
Menschen das Notwendigste zum Überleben vorzuenthalten, sie ihrer
Würde und ihres Selbstbewusstseins zu berauben, wie es tausendfach
geschieht auf unserer Welt, ist Diebstahl. Und wir sind auch nicht frei
von diesem Vorwurf, durch unsere verschwenderische Lebensweise die Ausbeutung
Armer zu unterstützen.

So ist das siebte Gebot „Du sollst nicht stehlen!“ auch
und in ganz besonderer Weise eine Verpflichtung für Gerechtigkeit
einzutreten.

Dennoch möchte ich heute die Frage nach der weltweiten Gerechtigkeit
nicht in den Mittelpunkt meiner Predigt stellen, sondern noch etwas ganz
anderes.

IV. Verzicht

Natürlich ist es auf den ersten Blick ein Gebot zum Schutz des Eigentums.
Menschen, die miteinander und mit Gott in Frieden zusammenleben wollen
– und nicht anderes ist ja das Ziel des gesamten Dekaloges, der Sinn der
zehn Gebote! – wenn Menschen also friedlich zusammenleben wollen, dann
müssen sie lernen, das Recht des anderen zu respektieren. Das Recht
des anderen auf ungefährdetes Eheglück, das Recht des anderen
auf wahrhaftiges Reden, das Recht des anderen auf Leben, und eben auch
das Recht des anderen auf sein eigenes Eigentum.

Das ist aber noch nicht alles!

Das Gebot „Du sollst nicht stehlen!“ ist der Ruf zu einem
wohltuenden Verzicht.

„Wo suchen die Menschen das Glück?“, fragt Janusz Korczak,
„Dort, wo es niemals ist. Nämlich im Reichtum, in der Befriedigung
des eigenen Ehrgeizes, darin, dass sie bei Nachbarn und Bekannten Bewunderung
erwecken. Sie meinen, Reichtum könnte ihnen alles geben, was Glück
schafft. Also tritt ihnen der Schweiß auf die Stirn, Dornen zerkratzen
ihnen die Füße, und dennoch, ohne auf ihre zerrüttete
Gesundheit zu achten, auf die vielen nervenaufreibenden Anstrengungen,
die bitteren Enttäuschungen, immer weiter jagen sie blindlings dem
Gold hinterher!“ (Zit. aus: AXEL KÜHNER, Zuversicht für
jeden Tag, Neukirchen-Vluyn 2001, S. 95 f.)

Schon zu Beginn der Predigt hatte ich angedeutet: Welch ein Glück
für Eltern, wenn sie ihren Kindern geben können, wonach ihr
Herz sich so sehnt.

Welch ein Glück aber für Kinder, wenn die Eltern frühzeitig
lernen, Wünsche nicht zu erfüllen und nein zu sagen.

Liegt denn in unerfüllten Wünschen das Glück? Ich denke
ja. Auch das ist der tiefere Sinn des siebten Gebotes, der tiefere Sinn
des Wortes Jesu: „Jesus sprach zu ihnen seht zu und hütet euch
vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.“
(Lukas 12,15)

„Ich will alles. Und zwar sofort!“ – ich erinnere mich noch
an mein Entsetzen, als ich vor eins zwei Jahren diesen Schlager aus dem
Radio hörte. „Ich will alles. Und zwar sofort“!

Weiß diese junge Sängerin – ich kenn noch nicht einmal ihren
Namen – nichts mehr von dem Glück, sich auf Weihnachten zu freuen?
Dieses sehnsuchtsvolle Warten und Hoffen, dass Wünsche in Erfüllung
gehen – am 24. Dezember wohlgemerkt und keinen Tag früher?

Weiß sie nichts davon, wie schön es ist, wenn ein Paar sich
erst mehrere Male trifft und sieht, bis es den ersten scheuen Kuss austauscht.
Und wie kostbar solch ein Kuss ist, auf den man gewartet und gehofft hat.
Und wie schön es ist, zu warten, geduldig zu warten, bis eine Beziehung
sich langsam aber behutsam und glücklich entwickelt? Wie viel Glück
verpassen all diejenigen, die sich alle Wünsche an den Partner an
einem einzigen Abend erfüllen, und am nächsten Morgen bereits
neben ihm erwachen?

„Ich will alles. Und zwar sofort!“ – weiß der Mensch,
der diesen Schlagertext geschrieben hat, nichts davon, dass die Musik
aus einer Stereoanlage tausendmal schöner klingt, wenn ein junger
Mensch sich die Anlage fleißig und langsam zusammengespart hat,
als wenn sie einfach eines Tages im Zimmer steht – bezahlt von Eltern
oder Großeltern?

Wir haben uns daran gewöhnt, liebe Gemeinde, unsere Wünsche
zu erfüllen. Alle. Und bitte sofort. Wissen wir eigentlich, was wir
uns damit nehmen? Den Reichtum und das Glück der Vorfreude, des Träumens,
das Glück, ein Ziel vor Augen zu haben?

Wir haben uns daran gewöhnt, liebe Gemeinde, auch unseren Kindern
und Jugendlichen ihre Wünsche zu erfüllen. Alle. Und bitte sofort.
Wissen wir eigentlich, was wir ihnen damit nehmen? Nicht nur den Reichtum
und das Glück der Vorfreude! Wir nehmen ihnen auch die Fähigkeit
zum Verzicht. Eine Untersuchung der Deutschen Forschungsgemeinschaft vor
wenigen Jahren hat ergeben, dass viele Ladendiebstähle jugendlicher
Menschen darauf zurückzuführen sind, dass sie es nicht ertragen
können, etwas nicht zu bekommen, was sie jetzt in diesem Augenblick
haben wollen. Ja selbst die Gefährdung, von Drogen abhängig
zu werden, hat darin seine Wurzeln: Viele Jugendliche ertragen es nicht,
zu verzichten. Weil sie es nicht gewöhnt sind. Und so greifen sie
zu. Warum? Weil wir ihnen nicht gezeigt haben, dass auch im Verzicht,
im Wartenkönnen, im Sich-Auf-Etwas-freuen ein großer Reichtum
liegt.

Liebe Gemeinde, das siebte Gebot, reiht sich ganz unspektakulär
und unauffällig ein in die Reihe der großen Gebote vom Töten
und Ehebrechen und vom Lästern des Namens Gottes. Unspektakulär
scheint es zu sein, den Menschen dazu aufzurufen, das Eigentum des anderen
zu schützen.

Gott aber will uns damit selbst schützen. Vor einem Leben ohne Wünsche,
vor einem Leben ohne Ziele, vor einem Leben ohne Perspektiven.

Mit dem siebten Gebot lädt Gott uns ein zu einem erfüllten
Leben trotz und gerade wegen unerfüllter Wünsche. Denn Wachsen,
Reifen, Träumen und sich Ziele setzen, das macht ja erst ein Leben
aus. Und nur der Mensch erlebt sein Leben als wirklich glücklich
und erfüllt, dem nicht alles in den Schoß fällt, sondern
der Fantasie, Kraft und Geduld braucht, bis Wünsche sich ihm erfüllen.
Es braucht also Geduld. Und manchmal Verzicht.

Geduld braucht ein Senfkorn bis er zum Baum wird.
Geduld braucht die Traube bis sie zum Wein wird.
Geduld braucht die Ähre bis sie zum Brot wird.
Geduld braucht ein Kind bis es erwachsen wird.
Geduld braucht der Glaube bis er zur Gewissheit wird.
Geduld braucht der Mensch, um glücklich zu sein.
Kein anderer weiß das besser, als unser Schöpfergott.
Und darum gab er uns das siebte Gebot.
Amen.

Dorothea Zager, Wachenheim
E-Mail: DWZager@t-online.de

Texte zum Nach- und Weiterdenken:

Jesus sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor
aller Habgier;
denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat. (Lukas 12,15)

Das Glück mit dem kleinen Stich
Hast du Geld, dann hast du nicht Käthen;
hast du die Frau, dann fehln die Moneten.
Hast du die Geisha, denn stört dich der Fächer.
Etwas ist immer. Tröste dich.
Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und Gelten.
Dass einer alles hat: das ist selten!
(Kurt Tucholsky)
(Zit. aus: AXEL KÜHNER, Zuversicht für jeden Tag, Neukirchen-Vluyn
2001, S. 103

Ein kleines Stück vom großen Leben
Es ist dem Menschen beigegeben
ein kleines Stück von einem großen Leben
das sich vollzieht ohn‘ Unterschied
Ob Bettler oder hohes Tier
von einer Hand voll Erde sind wir alle hier
Bis Gras wächst über dieses Lied
Wollt darum freundlich sein und euch mit
Heiterkeit versehen
Es hat der Mensch zu kommen und zu gehen
Dieses ist ausgemacht von Anfang an
mit Hochmut ist nicht viel getan
Es ist dem Menschen aufgegeben
mit Güte Gutes zu erstreben
ohn Unterlass
Auch soll er das, was nötig ist zum Leben
mit allen teilen
und aller Kreatur zu Hilfe eilen
bis Blumen wachsen aus dem Gras
Wollt darum gnädig sein und nicht mit Hohn verachten
die nichts auf dieser Welt zustande brachten
Wenn es bestimmt dass wir gen Himmel reisen
dann ist mit Reichtum nichts mehr zu beweisen
Es wird dem Menschen nachgegeben
wenn er bereit und ändert sein bisherig‘ Leben.
Der Tanz ist tot
der Mensch kehrt heim zu Tisch und Brot
der Rausch verfliegt die Demut siegt
die Masken sind gefallen
Doch größer wär des Menschen Not
wär nicht ein Gott der milde mit uns allen.
(Hanns Dieter Hüsch)
(Zit. aus: AXEL KÜHNER, Zuversicht für jeden Tag, Neukirchen-Vluyn
2001, S. 97)

 

 

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