Fruchtbar

Fruchtbar

Joh.12,20-24 | Lätare, 14.3. 2021 | von Eberhard Busch |

In dem verlesenen Bibeltext heißt es nach einer neuen Übersetzung zuletzt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ Das macht uns den Eindruck, dass wir es hier mit einem Sprichwort zu tun haben: geboren aus einer Erfahrung, wie man sie im Naturleben macht. Etwa so, wie in dem Gedicht von Theodor Fontane über den Herrn Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, der für Kinder gern Birnen von seinem Baum pflückte. Nach seinem Tod behielt sein Nachfolger die Früchte hingegen lieber nur noch für sich. Die Kinder gingen leer aus bei ihm. Doch der Ribeck hatte sich ausbedungen, dass in sein Grab eine Birne hineinkam. Darauf wuchs an dieser Stelle ein Obstbaum, aus dem im Herbst die Kinder noch und noch flüstern hörten: „Kumm man röwer, ick hebb‘ dir ’ne Birn. Komm nur her, ich geb‘ dir ’ne Birne.“ Ist das nicht dem ähnlich, was Jesus sagt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“?

Allerdings, wenn zwei das gleiche sagen, ist es nicht stets das selbe, wie eine alte Lebensweisheit lautet. Achten wir auf die Situation, in der Jesus diesen Satz sagt! Er rüstet sich auf das nahe Ende seines irdischen Lebens, auf seinen Tod. Da melden ihm seine Jünger, dass Fremde ihn sehen möchten, warum auch immer. Was soll ihm jetzt solche Ablenkung? Er geht nicht stolz auf solche Anerkennung ein, komme sie auch von weither. Er versteckt sich geradezu davor. Soll er denn wie ein Weizenkorn sein, das nicht in die Erde fällt? Er zieht sich vor der Neugier jener Interessenten zurück. Was jetzt auf ihn zukommt, ist nichts für Schaulustige.

Zu sehen gibt es hier wohl etwas. Aber was und wie? Eine Antwort wird darauf gegeben am Anfang der Musik von Johann Sebastian Bach zur Passion Jesu nach dem Matthäusevangelium. Da singt der Chor: „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen, sehet! ...“, und was gibt es hier zu sehen? Das wird uns mitgeteilt durch den Choral, der nun angestimmt wird: „O Lamm Gottes unschuldig / am Stamm des Kreuzes geschlachtet …“ Eine abstoßende Leidensgestalt gibt es da zu sehen. Nichts für Schaulustige. In andrer Weise redet unser Predigttext von dem selben. Da sagt Jesus: „Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verklärt werde“, oder sagen wir: Die Zeit ist da, dass er ins rechte Licht gerückt wird. Der Menschensohn ist ja er selbst. Wohlgemerkt: Seine „Verklärung“ liegt hier ganz in seiner Bereitschaft, sich aufzuopfern. Das ist es, was da stattfindet: „wird niedrig und gering / der Schöpfer aller Ding“, wie es Nikolaus Hermann in einem Lied ausgedrückt hat. Das ist Jesu Herrlichkeit. Wollt ihr sie sehen, dann in der Gottserbärmlichkeit seiner Hingabe. Das setzt seiner Sendung unter die Menschen die Krone auf: sein völliger Selbsteinsatz.

Wozu denn das? Seine Hingabe ist nicht sinn- und zwecklos, so, wie es in der Regel die Schmerzen sind, die sich Menschen einander zu Leide tun. Jesus sagt: „Wahrlich, wahrlich“. Das heißt: Aufgepasst! Jetzt wird das Geheimnisvolle ans Licht kommen, dass Jesu Hingabe nicht vergeblich ist. Sie trägt Frucht. Sie hat ein Ziel und dieses Ziel wird erreicht. Auch das werdet ihr sehen. Jesus sagt: Ich muss mich einsetzen, mich verausgaben, mich hingeben, so gibt es viel Frucht. Und das ist die Frucht: Er „wird niedrig und gering“, damit wir hoch kommen. Er opfert sich auf, um uns zu glücklichen Erben zu machen. Als wären wir seine nächsten Angehörigen – und wir sind es. Dazu ist er gekommen. Dazu hat er sich hingegeben.

Würde das Weizenkorn etwa nicht in die Erde fallen und würde es darin nicht „sterben“, so bliebe es wohl intakt. Aber es bliebe intakt nur für sich allein und würde so zuletzt verrotten. Zumindest hier muss es heißen: Eigennutz ist nichtsnutz. Wollen wir etwa einen Jesus als Hüter des Egoismus? Der Dichter Friedrich Rückert schrieb den spöttischen Satz: „Aus Eigennutz entspringt die Dankbarkeit der meisten, für einen Dienst, den wir ihnen leisten.“  Ich sage also nur dann „danke“, wenn für mich etwas Lukratives herausspringt. Dabei wird der Sinnspruch auf den Kopf gestellt: „Der brave Mensch denkt an sich selbst zuerst“. So denkt eben der Egoist. Er liebt eigentlich nur sich selbst. Andern fügt er allenfalls Wunden zu. Mit Einsamkeit ist nicht zu spaßen. Nur für sich allein da sein wollen, macht einsam. Und im Einsam- und Verlassensein sieht man plötzlich Gespenster oder da überfällt einen der horror vacui: das Erschrecken vor dem Nichts. Einsamkeit ist ein Leiden, das aggressiv machen kann. „Einsamkeit macht krank und böse“, haben neuere Forscher notiert.

Dagegen sagt Jesus genau das Umgekehrte: Das Weizenkorn fällt ja in die Erde und ist nicht bloß für sich da. Es stirbt ab – doch so, dass es nun zu keimen und zu sprossen beginnt. Und so: indem er, der von Gott Gesandte, sich in unser letztes Alleinsein hineinziehen lässt, ist das die große „helfende Hand“ unseres Gottes für uns Sterbliche. So phantastisch es klingt: In seiner Hingabe legt Gott Hand an zu unsrem Glück, die wir alle vom dunklen Nichts bedroht sind. „Das Wort vom Kreuz ist eine Gotteskraft“, hat der Apostel Paulus geschrieben (1Kor 1,18). Gut zu hören, für uns und für wen denn etwa nicht? Wir können uns darauf verlassen, dieses Wort ist stark und zieht uns heraus aus dem dunklen Nichts. Manche haben das noch nicht begriffen! Aber bei aller Verborgenheit ist das schon jetzt gültig, auch für sie: Seine Zuwendung heilt, was krank ist, und vertreibt, was böse ist.

Was ist also die Frucht, die seine Hingabe uns bringt? Sagen wir es mit einem alten Liedvers:

„Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn,
Ist uns die Freiheit kommen,
Dein Kerker ist der Gnadenthron,
Die Freistatt aller Frommen,
Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein,
Müsst’ unsre Knechtschaft ewig sein.“

Das ist die Freiheit, die Frucht seiner Hingabe: Befreiung aus dem Steckenbleiben in dem, was uns hinabzieht, was uns krank und böse macht. Und Befreiung zur „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21); in ihr spricht er uns mündig und stellt uns auf die eigenen Füße. Dafür opfert er sich auf. Und dafür sorgt er auch heute. Denn sein Ende ist zugleich Anfang. Neuanfang. Neuanfang mit uns. Als der, der sich für uns eingesetzt hat, ist er wieder und wieder hilfreich unter uns. Seine Hingabe ist ja kein Rücktritt. Er bleibt das Haupt derer, die nach ihm kommen. Er will mit ihnen sein und wünscht, dass wir mit ihm sind. Der heutige Sonntag trägt seit alters den lateinischen Namen „Lätare“, und damit ist uns das Schöne gesagt: „Freut euch!“ (Jes 66,10). So hat es auch der Engel an Weihnachten den Hirten mitgeteilt: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird“ (Lk 2,10). Für euch alle ist der große Helfer da und ist jeder Zeit anrufbar.

Vorhin hieß es: Wenn zwei das gleiche sagen, ist es nicht unbedingt das selbe. Wir dürfen es jetzt auch so formulieren: Selbst wenn zwei nicht dasselbe tun, so kann beides gleichwohl zusammenpassen: das, was er tut, und das, was daraufhin auch wir tun dürfen. Die er freigestellt hat, die lässt er nicht mehr los. Die Freiheit, die er uns verschafft, die bewährt sich darin, dass auch wir uns gern in seiner Reichweite aufhalten. Dann kann man im Blick auch auf uns singen (EG Nr. 98):

„Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt,

Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt.

Liebe lebt auf, die längst erstorben schien.

Liebe wächst wie Weizen, und der Halm ist grün.“

Ein Leben ohne Liebe ist wie ein Saatgut ohne Frucht. Aber dafür steht Christus ein: für ein Leben in Liebe, und darin werden auch wir Frucht bringen. Das sagt Jesus ein andres Mal sogar ausdrücklich (Joh 15,5): „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“

Wir bringen Frucht in unserer Einsatzbereitschaft zugunsten unserer jeweils Nächsten – zum Zeithaben für sie, zur Geduld, ihnen zuzuhören, zum Teilen mit ihnen, zum Beten für sie. Das mag ein kleiner, ein verborgener Beitrag sein, ein stiller Wink: „Komm her, ich geb dir ne Birn.“ Zuweilen sind die kleinen Dinge größer als die, die in der Zeitung groß herauskommen. Und manchmal sind die scheinbar unwichtigen Handgriffe wichtiger als rekordverdächtige Kraftakte. Wenn wir uns nur nicht zu schade sind, uns einzusetzen. Es gibt bei uns einen Pflege- und Betreuungsdienst unter dem Titel „Helfende Hand“. Wie fein, dass manche unter uns so oder so ihre helfende Hand rühren. Ihr Tun steht unter dem Segen jener Einen „Helfenden Hand“. Gut, wenn noch weitere dazu Lust bekommen! So sind sie ein nützliches Glied der Gesellschaft. Sie sind es, indem sie sich bei schrecklich Einsamen nützlich machen. Bei Friedrich Schiller heißt es: „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt, / vertrau‘ auf Gott und rette den Bedrängten.“ Wie vielen setzt Einsamkeit bedrängend zu! Gott schenke es, dass sie es zu spüren bekommen: „Nein, ganz allein seid ihr nicht.“ Auch ihnen ist es nahe zu bringen: Lätare! Freut euch!

Eberhard Busch

37133 Friedland

ebusch@gwdg.de

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