Galater 4,4–7

Galater 4,4–7

Beziehungswende | Christvesper | 24.12.2023 | Predigt zu Gal 4,4–7 | Christoph Kock |

  1. Krisenmodus, keine Zeitenwende[1]

„Krisenmodus“. Das Wort des Jahres 2023, ausgewählt vor zwei Wochen von der „Gesellschaft für deutsche Sprache“.[2] Krise als Dauerzustand. Erinnern Sie sich noch, wie das Wort des Jahres vor einem Jahr hieß? Die Entscheidung fiel 2022 auf das Wort „Zeitenwende“. Der Beginn einer neuen Ära. Geprägt von Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung zum Ukrainekrieg, wenige Tage nach dem Beginn der Invasion Russlands am 24. Februar 2022. Der Kanzler sagte im Bundestag: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie davor.“[3]

Vergleichbares ließe sich im Rückblick auf den Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober in diesem Jahr und den darauffolgenden Krieg in Gaza sagen; beides ist als „Beginn eines Zivilisationsbruchs“[4] bezeichnet worden.

Ich frage mich, ob der Einsatz von Waffen geeignet ist, das Vorzeichen einer neuen Ära zu markieren. Was ist daran neu? Dass Menschen zu Opfern werden, wahllos und brutal, ist es leider nicht. Was sind die Kennzeichen, mit denen Geschichte beurteilt wird? Das Ausmaß an Gewalt und Hass – das wäre fürchterlich. Und vor allem, wer hätte dann die Macht, Zeiten zu wenden? Ein Diktator mit Atomwaffen, eine Terrororganisation, die perfide mordet, oder eine Armee, die sie deshalb um jeden Preis vernichten will. Also keine Zeitenwende, sondern alles im Krisenmodus?!

2. Die Fülle der Zeit

Ein anderer Orientierungspunkt in der Zeit: Ein Mönch im 6. Jahrhundert fand ihn in der Geburt Christi. Seither rechnet man mit Jahren „vor Christi“ und „nach Christi“. Die vergangene und die künftige Geschichte wird auf ein Geschehen bezogen. Auf die Geburt eines Kindes, das weder Machthaber noch Armeeführer geworden ist. In der Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium erscheint der Kaiser als Randfigur, dessen Befehl am Anfang einer Geschichte steht, die eine ungeahnte Wendung nimmt. „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.“ Aber dann verlagert sich das Interesse vom Kaiser zu einem Kind, von einem Befehl zu einer himmlischen Botschaft. Ein in Windeln gewickeltes Kind in einem zum Reisebett umfunktionierten Futtertrog wird zum Zeichen: „Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“

Der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinden in Galatien:

Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, auf dass er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Kindschaft empfingen.

3. Gottes Sohn auf Sendung

Als Paulus an diesen Zeilen sitzt, ist Weihnachten noch nicht erfunden. Jesu Geburt noch kein Fest. In den christlichen Gemeinden des 1. Jahrhunderts wird Ostern gefeiert: Jesus ist von den Toten auferstanden. Paulus entfaltet, was in Ostern alles steckt. So kommt er im Galaterbrief auch auf Jesu Geburt zu sprechen: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau …“

Mit diesem Ereignis verändert sich die Zeit. Denn ein jüdischer Junge wird geboren, der in Gottes Namen reden und handeln wird. Der am Kreuz sterben und den Gott von den Toten auferwecken wird. Mit dem sich im Rückblick alles verändert hat: Grenzen sind durchlässig geworden. Zwischen Tod und Leben. Zwischen dem Menschenmöglichen und Gottgewollten. Zwischen denen, die dazu gehören, und denen, die außen vor sind. Mit Jesu Geburt zieht Gottes Liebe weite Kreise. Ein Kind Israels als Hoffnungsträger für die Völkerwelt.

In diesem Kind zeigt sich kein künftiger Despot, der eine neue Ära der Gewaltherrschaft heraufführt. Vielmehr wird jemand geboren, der Gottes Geist vermittelt und anschaulich macht, was es heißt, Gottes Kind zu sein. Mit einem Kind unterbricht Gott den Lauf der Zeit, verändert und erhellt ihn. Widerspruch gegen den Krisenmodus. Alles andere als Kinderkram, sondern der Beginn einer Welt, die sich verändern kann.

Paulus drückt das so aus: Gottes Sohn sorgt dafür, dass Menschen zu Gottes Kinder werden und entdecken, wie viele Geschwister sie haben. Weihnachten bedeutet also: Das Kind wird geboren, dass uns zu Gottes Kindern macht. Paulus schreibt weiter:

Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.

4. Das Kind, das uns zu Kindern macht

Menschen unterscheiden sich. Herkunft, Geschlecht, sozialer Status, Religion. Die Liste ist lang, Abhängigkeiten und Trennlinien gehen mit ihr einher. Paulus hat etwa Menschen vor Augen, die als Besitz gelten und einem anderen Menschen gehören. Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob du Sklave bist oder frei. Ob du als Sache giltst oder Bürgerrechte genießt. Was bedeutet das für eine christliche Gemeinde, die in einer Gesellschaft der Getrennten zu Hause ist? Paulus beschäftigt diese Frage, ein paar Zeilen zuvor hat er geschrieben: „Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus“ (Gal 3,26). Mit der Taufe haben alle Unterscheidungen ihren trennenden Charakter verloren: „Ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Wenn das nur wahr wäre. Alle eins in Christus. Das wäre eine Zeitenwende. Wenn Sklavinnen und Sklaven befreit leben könnten. So soll es in der Gemeinde sein. Aber doch nicht nur dort. Was Paulus hier denkt, wird politische Folgen haben. So ein Glaube wird in der Welt Kreise ziehen.

Ein Kind hat das Licht der Welt erblickt, das Menschen zu Gottes Kindern macht. Sie zueinander auf Augenhöhe bringt. Die Welt erscheint in einem neuen Licht. Zukunftsmusik ist zu hören. Leise zwar, aber wer sie hört, behält sie im Kopf. An Weihnachten steht im Mittelpunkt, was Menschen verbindet. Menschen schauen auf das Kind in der Krippe und sehen das Kind in jedem Menschen. Alle sind von einer Frau geboren, bedürftig und verletzbar auf diese Welt gekommen, angewiesen auf andere. Nation, Religion, Herkunft – das spielt in diesem Moment keine Rolle. Wenn der Mensch im anderen den Mitmenschen entdeckt. Jesus wird davon erzählen.

Es ist kein Zufall, dass zu Weihnachten die Bereitschaft zu spenden groß ist. Weil Menschen ihre Mitmenschen wahrnehmen und ihnen Gutes tun. Keiner hat es verdient, Opfer von Gewalt zu werden. Niemand soll hungern. Gerechtigkeit und Frieden geben die Richtung vor. Die Sehnsucht ist groß nach dem, was Gott fordert und zugleich in Aussicht stellt.

Du bist Gottes Kind. Dafür hat Jesus Christus gesorgt. Was du erben wirst, steckt nicht in Grundbüchern, Bankschließfächern oder Aktienpakten. Vielmehr verbirgt sich dieses Erbe in einer Sehnsucht, die umso größer wird, je öfter Menschen sie teilen.

5. Kind bleiben

Der Schriftsteller Erich Kästner soll gesagt haben: „Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.“

Wie kann das gehen, erwachsen werden und ein Kind bleiben? Vielleicht lässt sich das lernen. Ein Vater fragt seine Tochter, die gerade in die erste Klasse gekommen ist. „Sag mal, auf deiner Schule, gibt es da eigentlich Christen, Muslime und Juden?“ Die Tochter überlegt kurz und antwortet dann: „Nö, bei uns gibt es nur Kinder.“ Eine wahrhaft weihnachtliche Einsicht.

Amen.

Lied: Jesus ist geboren in Bethlehem und überall
(Text: Friedrich Karl Barth, Peter Horst; Musik: Fritz Baltruweit)

Impuls für die Begrüßung

Weihnachten:

Ein Kind wird geboren.

In der Stadt Davids, in Bethlehem.

Weihnachten:

Der Retter wird geboren.

Eine gute Nachricht

bestimmt diesen Tag.

Ob sich dadurch der Lauf der Zeit geändert hat?

Schön wäre es.

Weihnachten:

Ein Kind wird geboren.

Es macht uns zu Gottes Kindern.

Eine Beziehungswende.

Die werden wir heute Abend feiern.

Gebet

Gott, groß bist du, Grund der Welt, übersteigst den Horizont, den wir überblicken.

Und doch verbirgst du dich in einem Kind.

Teilst das Leben mit uns.

Die Freude, den Schmerz.

Bist in Jesus mit vielen verbunden und zugleich mutterseelenallein.

Verheißungen hast du wunderbar bekräftigt.

Alte Worte, die wir neu hören.

Und entdecken:

Auch uns sind sie gesagt.

Darin liegt das Geheimnis, das mit dieser Nacht beginnt.

Ein Anfang nur, aber was für einer.

Was daraus noch werden wird.

Gott,

du kommst zu uns auf Augenhöhe und bleibst dir dennoch treu.

Erstaunlich, kaum zu glauben.

Was für ein Gott du bist.

Dir sei Ehre und Herrlichkeit.

In Ewigkeit. Amen.


Christoph Kock

 

Ein Nachwort:

Achtung, diese Predigt beschränkt sich auf ein Motiv, das Paulus aufgreift. Ein entscheidender Aspekt des Predigttextes kommt nicht vor: Die Bedeutung der Tora, die Paulus hier und an anderen Stellen seiner Briefe auf Jesus Christus bezieht. Eine – nicht nur für eine Heiligabendgemeinde – komplizierte Beziehung mit einer schwierigen, antijudaistischen Auslegungsgeschichte.

Zur Auseinandersetzung mit Gal 4,4–7 vor diesem Hintergrund vgl. Peter von der Osten-Sacken, Das paulinische Verständnis des Gesetzes im Spannungsfeld von Eschatologie und Geschichte, in: ders., Evangelium und Tora. Aufsätze zu Paulus, München 1987, 159–196.

[1] Die Vorlage für diesen Einstieg verdanke ich Christfried Böttrich, Zeitenwende, GPM 78 (2023), 30–36.

[2] Vgl. https://gfds.de/wort-des-jahres-2023/.

[3] Zitat: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/992814/2131062/78d39dda6647d7f835bbe76713d30c31/bundeskanzler-olaf-scholz-reden-zur-zeitenwende-download-bpa-data.pdf; S. 8.

[4] Vgl. https://www.fr.de/kultur/literatur/schriftstellerin-deborah-feldman-wir-stehen-am-beginn-eines-zivilisationsbruchs-92656041.html (Interview vom 06.11.2023)

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