Sirach 35, 16-22a / Gebetsstau

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Sirach 35, 16-22a / Gebetsstau

Rogate | 09.05.21 | Jesus Sirach 35, 16-22a | verfasst von Friedrich Schmidt-Roscher |

„Ich weiß gar nicht, wie ich das alles schaffen soll!“

„O je!“

„Hilfe!“

Sind diese Stoßseufzer und Klagen schon ein Gebet, liebe Schwestern und Brüder?

Oder ist das nur ein Ventil, um Dampf abzulassen, bevor ich platze?

Rogate ist der Name des Sonntags: „Betet!“

Es ist eine Aufforderung zu sprechen und zu klagen. Meine Not oder mein Elend vor Gott zu bringen.

Aber muss das Beten nicht eine Form oder einen Rahmen haben? Kann ich mit meinen Wünschen und Sorgen mich einfach an Gott wenden?

Muss ich nicht vorher erst einmal Danke sagen. Das in den Blick nehmen oder zur Sprache bringen, was mir im Leben von Gott geschenkt worden ist?

Das wird ja manchmal beim Beten empfohlen. Zuerst Gott loben und ihm danken für das, was er mir „Gutes getan hat“.

Das ist ja kein schlechter Rat. Ich neige manchmal dazu, nur das zu sehen, was mich quält oder was mir Sorgen macht. So aber bin ich genötigt, meinen Blick zu weiten, auch die Blumen zu sehen, nicht nur das Unkraut. Diese Erweiterung des Blicks kann auch mein verzagtes Herz ermutigen.

Doch die Forderung vor der Bitte erst einmal Danke zu sagen, macht aus mir ein kleines Kind, das zur Höflichkeit erzogen wird.  Wenn mein Elend oder meine Not oder meine Verzweiflung schon so groß ist, wie kann ich dann noch danken? Es gibt Situationen, da bin ich nur noch Not und Elend, stecke so tief drin im Schlammassel, dass ich nur noch flehen und weinen kann. Leise die Not rausschreien. Zum Himmel oder zu Gott.

Im Buch Jesus Sirach ist von solchen Menschen die Rede. Das Waisenkind fleht. Es hat seine Eltern verloren ist mutterseelenallein und kann nur noch jammern. Eine Witwe klagt und trauert, weil sie ihren Mann verloren hat.

Da ist von Schreien und von Tränen die Rede. Wofür könnten Witwe und Waise noch danken?

Klagen und Flehen ist schon ein Gebet. Ich selbst bin Klage und Bitte. Ich selbst bin Gebet, wie es Martin Buber so treffend formuliert hat. Wenn mein Klagen, Flehen oder Weinen zum Beten wird, dann fließt es nicht nur aus mir heraus, sondern wendet sich an einen, der hört. Einen, der mich in meiner Not sieht. Einen, der mich ansieht. Ohne Ansehen der Person, aber eben gerade deshalb sieht er mich an. Sieht das Waisenkind an, die Witwe, die Menschen, die übersehen werden.

Wenn ich bete, dann vertraue ich darauf, dass einer ist, der meine Worte hört und meine Bedürftigkeit sieht. Der sieht, wer ich bin und was mir fehlt. Im Beten halte ich meine offenen Hände hin und hoffe darauf, dass sie gefüllt werden. Denn ich bin angewiesen auf die Hilfe Gottes.

Das entspricht nicht unserem Menschenbild. In unserer Welt soll ich doch selbst mutig sein und tüchtig oder fleißig. Ich soll jedenfalls einer sein, der sein Leben im Griff hat oder es bald wieder in den Griff kriegt. Beten scheint nicht zu unserem Welt- und einem Menschenbild zu passen. Überall finde ich Ratgeber/innen, die für alle Probleme Mittel oder Lösungen empfehlen. Das kriegt man alles wieder hin.

Aber stimmt das? Trotz allem Fortschritt, trotz Krankenkassen und Beratungsstellen, Rechtsstaat und Rente, kann ich krank werden oder einsam oder hilfsbedürftig. Ich bin eine Angewiesene, ein Bedürftiger. Ich bin ein Bettler, wie es Martin Luther ganz am Ende seines Lebens einmal sagte.

Drückt sich in meiner Bitte nicht genau das aus, was ich als Mensch vor Gott bin? Einer, der darauf hofft, dass seine Hände gefüllt werden, dass seine Bitten erhört werden.

Im Beten wird deutlich, dass ich eben nicht alles im Griff habe oder selbst machen kann, sondern eine oder einer bin, der andere braucht, der vor allem Gott braucht, wie die Luft zum Atmen. Das wird doch gerad in meiner Bitte deutlich. Wenn ich Gott um etwas bitte, wenn ich ihn in meiner Not anrufe, dann steckt darin ja auch ein verstecktes Lob. Meine Bitte lobt Gott, weil ich ihm vertraue und auf ihn hoffe.

Wer betet, der rechnet mit Gott oder – vorsichtiger gesagt – die hofft, dass Gott da ist. Nicht allgemein da ist, sondern für mich da ist. Für mich und die anderen Menschen, die bitten und flehen wie Witwe und Waise. Ich hoffe, dass Gott ohne Ansehen der Person mich sieht in meiner Not. Und auch die anderen sieht, die leiden.

Wird nicht gerade in meinem Beten deutlich, wer Gott für mich ist? Nicht nur letzte Instanz, sondern Retter und Tröster. Auch Richter, wie es bei Jesus Sirach heißt.  Richter meint, einer der Dinge zu recht bringt, auch das wieder gut macht, was bei mir oder in der Welt gerade nicht gut ist.

Der Beter und die Beterin bei Jesus Sirach richten ihre Klagen an den Himmel zu den Wolken. Sie schicken ihre Gebete durch die Wolken zu Gott. Eine merkwürdige, in unseren Augen vielleicht kindliche Vorstellung. Aber ohne dieses Vertrauen der Kinder kann ich nicht beten.

Manchmal dauert es lang mit dem Trost. Die Beter sollen jedoch nicht nachlassen.

Stapeln sich zwischen den Wolken unsere Gebete? Gibt es so etwas wie eine himmlische Bürokratie, mit hohen Gebetsstapeln, die ihrer Bearbeitung oder Erhörung noch harren? Müsste es uns wundern, wenn es so etwas wie einen Gebetsstau gibt, bei all den Milliarden Menschen, die täglich zu Gott beten, bitten oder betteln?

Es ist ein merkwürdiges Bild, dass die Gebete erst einmal dort in den Wolken hängen bis sie zu Gott kommen. Es entspricht meiner Lebenserfahrung, dass ich immer wieder mein Anliegen vorbringe bis ich damit zu Gott vordringe. Sollte es im Himmel anders sein als auf Erden? Oder denke ich zu menschlich von Gott?

Wenn Gott Gebete der Leidenden erhört, dann kann es dazu führen, dass er ihre Unterdrücker zu Recht bringt. Das ist dann keine „Friede-Freude-Eierkuchen-Vorstellung“ von „Alle-haben-sich lieb“.  Es kann dazu führen, dass die Leidverursacher zur Rechenschaft gezogen werden, die Erbschleicher bestraft werden, die Gewalttäter selbst unter Gewalt leiden. Wenn wir für die Opfer beten, dürfen wir die Täter nicht vergessen. Um bei der Wahrheit zu bleiben, sind eben nicht nur die anderen die Untäter. Auch mein Tun und Lassen kann zur Untat werden gegen andere Menschen. Auch mein Handeln und Nichthandeln kann unbarmherzige Folgen haben. Das gehört zur Wahrheit dazu, die ich manchmal nicht so gerne höre.

Aber bei Jesus Sirach kommt es zur Sprache – ohne Ansehen der Person. Beten ist dann nicht nur eine Sache zwischen mir und meinem Gott, sondern hat auch eine praktische Seite, die Leben verändert. Mein Leben und das Leben der anderen Menschen.

Dann ist das Beten auch kein Untätig-sein. Mein Bitten und Flehen, die Klagen und Gebete der Menschen sind schon Handeln. Deshalb gehört dann auch das Beten und das Tun des Gerechten – wie Dietrich Bonhoeffer es so schön ausgesprochen hat- zusammen. Es sind die zwei Seiten einer Münze.

Mit meinem Beten bin ich in Verbindung mit Gott. Mit meinen Klagen und Seufzen, mit kleinen und großen Bitten bleibe ich verbunden mit Gott. Es ist mein Bundesgott an den ich mich wende. Ein Gott, der mit mir im Bunde steht. Deshalb werde ich durch meine Worte selbst zum Gebet. Gott hört. Ohne Ansehen der Person. Er sieht mich und hört mich. Meine Seufzer und meine stummen Gebete. Amen.

Dr. Friedrich Schmidt-Roscher, JG 1962, seit 2007 Pfarrer in Haßloch/ Ev. Kirche Pfalz
fr.schmidt-roscher@gmx.de

Anregend fand ich Jutta Noetzel, Eine Cloud gibt zu denken, GPM 75/2021, S. 304-312

Liedvorschläge: EG 501| EG 133| Lege deine Sorgen nieder in: Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder plus, 175

Fürbitten

Gott, unser Vater im Himmel,

du hörst und siehst mich.

Höre mein Seufzen und Klagen.

Höre auch meine stummen Gebete.

Ermutige mich, dass ich mit dir im Gespräch bleibe.

Vor dich bringe ich in der Stille, was mich belastet:

Gemeinsam rufen wir: Gott, erbarme dich!

Gott, du tröstest mich wie eine Mutter tröstet.

Lass mich im Beten deine Nähe erfahren.

Hilf mir auch dein Schweigen zu ertragen.

Ich bitte für Eltern und Großeltern,
dass sie ihren Kindern die Sprache des Gebets weitergeben.

Ich bringe die Menschen vor dich, die überlastet sind, die sich große Sorgen machen.
Sorge du für sie.

Vor dich bringen ich in der Stille meine Bitten:

Gemeinsam rufen wir: Gott, erbarme dich!

Gott, du Liebender,

Erneuere deine Schöpfung und auch mich.

Lass Menschen aufatmen,

dass Frieden werde und Gerechtigkeit wachse,

dass wir einander vergeben können.

Vor dich bringe ich meine Freude und meinen Dank:

Gemeinsam rufen wir: Gott, erbarme dich!

Vaterunser…

de_DEDeutsch