Genesis 22,1–14

Genesis 22,1–14

Unterbrochen | Judika | 17.03.2024 | Gen 22,1–14 | Christoph Kock |

  1. Eine Geschichte vom verhinderten Opfer

Passionszeit 2024. Erinnerung an einen Leidensweg. Der Blick richtet sich auf Jesus Christus und geht über ihn hinaus. Im Januar hat eine Studie offengelegt, wie die evangelische Kirche sexualisierte Gewalt ermöglicht und verdrängt hat.[1] Es hat lange gedauert, bis betroffene Personen wahrgenommen worden sind und Gehör gefunden haben. Leidenswege sind öffentlich geworden. Erlittene Gewalt. Erschreckend, was in der evangelischen Kirche geschehen ist. Verstörend, wie die folgende Erzählung aus dem 1. Buch Mose, Kapitel 22:

Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm:

Abraham!

Und er antwortete:

Hier bin ich.

Und er sprach:

Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.

Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte.

Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne.

Und Abraham sprach zu seinen Knechten:

Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen.

Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander.

Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham:

Mein Vater!

Abraham antwortete:

Hier bin ich, mein Sohn.

Und er sprach:

Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?

Abraham antwortete:

Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer.

Und gingen die beiden miteinander.

Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete.

Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach:

Abraham! Abraham!

Er antwortete:

Hier bin ich.

Er sprach:

Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.

Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich im Gestrüpp mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt.

Und Abraham nannte die Stätte „Der HERR sieht“. Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sich sehen lässt.

Liebe Gemeinde,

Abraham soll seinen eigenen Sohn opfern. Den langersehnten Sohn, den Gott ihm und seiner Frau Sara verheißen und dann in hohem Alter geschenkt hat. Diesen Sohn will Gott als Opfer? Oder geht es um den Gehorsam Abrahams? Ob Abraham um Gottes willen auch vor dem Äußersten nicht Halt macht und zu töten bereit ist. Was ist das für eine Prüfung?! Eine höchst fragwürdige Geschichte.

Menschen haben sie immer wieder erzählt und dabei sind unterschiedliche Bedeutungen zu Tage getreten. Sie ist erzählt worden als die Geschichte vom unerschütterlichen Gehorsam, von der völligen Hingabe oder vom verborgenen Gott. Ich will sie heute erzählen als die Geschichte vom verhinderten Opfer. Weil Gott den Kreislauf der Gewalt unterbricht.

  1. Abrahams Trauma

Die Geschichte vom verhinderten Opfer nimmt ihren Anfang in der Kindheit Abrahams. Darüber schweigt die Bibel. Aber nach jüdischer Überlieferung[2] wuchs Abraham in einem kleinen Laden auf, in dem sein Vater Terach Götterfiguren herstellte und verkaufte. Statuen jener Göttern, die öffentlich angebetet und verehrt wurden. Abraham schien nicht viel von diesem Geschäft mit den Götzen zu halten. Er nahm er einen Stock und zerschlug fast alle Götterfiguren. Dann steckte er den Stock der größten Figur in die Hand. Als ihn sein Vater später zur Rede stellte, sagte der: „Der größte Götze hat einen Stock genommen und alle anderen zerschlagen.“

„Warum willst du mich auf den Arm nehmen?“, widersprach ihm sein Vater erregt, „die Götter haben doch weder Sinn noch Verstand.“ Abraham antwortete: „Vater, warum hören deine Ohren nicht, was dein Mund redet?“

Da schnappte sich Terach seinen widerspenstigen Sohn und lieferte ihn dem König aus. Der war über Abraham so erzürnt, dass er ihn in einen Feuerofen werfen ließ. Jedoch, so heißt es am Ende dieser Legende, stieg Abraham auf wundersame Weise unversehrt aus dem Ofen, ohne dass auch nur eines seiner Haare angesengt war.

Abraham gerettet, äußerlich unversehrt. Aber welche Wunden hat er davongetragen? Welche Verletzungen sind geblieben? Aus heutiger Sicht erzählt diese jüdische Legende von einer traumatischen Kindheit, in der Abraham Gewalt erlitten hat, ausgeliefert durch den eigenen Vater.

III. Kreislauf der Gewalt

Wer als Kind solche Erfahrungen machen muss, bleibt davon oft als Erwachsener gezeichnet. Selbst wenn auf den ersten Blick alles in Ordnung scheint. Man längst vergessen hat, was damals passiert ist. Wer als Kind Gewalt erlitten hat, steht in der Gefahr, als Erwachsener gewalttätig zu werden. Unbewusst das zu wiederholen, was damals passiert ist – nur in vertauschten Rollen. Erlittene Ohnmacht andere erleiden zu lassen. Die eigenen Kinder zu schlagen, weil man selbst geschlagen worden ist. Weil man nicht gelernt hat, anders mit Konflikten umzugehen. Es nicht schafft, Widerspruch anders auszuhalten. Weil Ohnmacht keine Option mehr ist, nie wieder, und deshalb Gewalt zum Einsatz kommt. So setzt sich Gewalt fort. Opfer werden zu Tätern, die wiederum andere zu Opfern machen. Ein unheilvoller Kreislauf. Gewalt führt zu Gewalt.

Abraham lässt die Götzenbilder hinter sich, verlässt seine Heimat. Hört auf Gottes Ruf. Auf den einen Gott, den wir später als Gott Israels kennenlernen. Abraham vertraut auf Gott. Darauf, zum Vater eines großen Volkes zu werden und zum Segen für alle Völker der Erde – so hat es Gott ihm versprochen. Doch dann hört Abraham, wie Gott ihm befiehlt, mit seinem Sohn dasselbe zu tun, was er als Kind erlitten hat. Die Schmerzen weiterzugeben, die er in sich trägt. Kann das sein, dass Gott dieses Opfer von ihm verlangt?

Abraham schweigt, stellt keine Fragen. Das verstehe ich nicht. Als Gott ihm mitteilt, die Städte Sodom und Gomorrha zu vernichten, weil Menschen dort so viel Böses tun, fängt Abraham an, mit Gott zu verhandeln: Wie viele gute Menschen braucht es dort, damit alle gerettet werden (Gen 18,16–33). Aber als es um seinen Sohn geht: kein einziges Wort. Wie ein Zombie bereitet Abraham das Opfer vor, nimmt alles mit, was er dafür braucht, Isaak eingeschlossen. Lässt ihn auf dem letzten Wegstück selbst das Holz tragen, mit dem er seinen Leichnam verbrennen will.

Wie es Isaak wohl erging. Was er geahnt, gefühlt hat. Auch darüber kein Wort. Drei Tage lang. Was für ein fürchterliches Schweigen zwischen Vater und Sohn. Erst kurz vor dem Ziel erhebt Isaak seine Stimme. Er wundert sich über das Verhalten seines Vaters und fragt, was es bedeutet. Abraham redet über Gott und lügt seinen Sohn an. Macht weiter, wie ferngesteuert. Selbst als sein Sohn auf dem Altar liegt, stellt er Gottes Auftrag nicht in Frage. Es scheint, als setze sich das Vermächtnis der Gewalt fort, die die Welt beherrscht und die sich tief in die Seelen der Menschen eingefressen hat.

  1. Erst Gott verhindert das Opfer

Es ist Gott selbst, der Abraham Einhalt gebieten lässt. Erst Gott verhindert das Opfer. Erst Gott sorgt dafür, dass Abraham seinem Sohn die Wahrheit gesagt hat. Isaak wird gerettet. Aber viel ist zerbrochen. Ob jetzt auch Isaak traumatisiert ist? Das Gespräch vor dem versuchten Opfer ist das letzte Gespräch zwischen den beiden, das in der Bibel erzählt wird. Die letzte Begegnung zwischen Vater und Sohn, bevor Isaak sich später um die Beerdigung des Vaters kümmert. Im Anschluss wird von Saras Tod erzählt. Die jüdische Tradition stellt sich vor, dass Sara von der versuchten Opferung ihres Sohnes Isaak hörte, als Abraham nach Hause kam. Und als sie das hörte, starb sie vor Schreck. Abraham weint und beklagt Saras Tod. Ein Happyend hört sich anders an.

Eine zutiefst verstörende Erzählung. Darüber, wie sich Menschen Gott vorstellen und wie Gott durch diese Gottesbilder hindurch zu Tage tritt. Welchen Reim ich mir darauf mache: Die Größe Abrahams besteht nicht darin, dass er seinen Sohn auf den Opferaltar gebunden hat. Nein! Abrahams Größe liegt darin, dass er das Opfer nicht vollendet hat. Dass er sich von Gott im letzten Moment hat unterbrechen lassen. Dass er sich von Gott sagen lässt: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts.“ Das ist Gottes Botschaft. „Stopp. Tu es nicht.“ Gott verlangt kein Opfer. Gott verhindert es. Gott unterbricht den Kreislauf der Gewalt. Auf diesen Gott will ich hören. Mit diesem Gott weiterreden.

  1. Kein Opfer, nirgends

Christinnen und Christen lesen die Erzählung von der Bindung Isaaks[3] in der Passionszeit. Der Blick richtet sich auf Jesus Christus und geht über ihn hinaus. Dass Menschen leiden, ist ein Thema. Die Erzählung von Abraham, der bereit war, seinen Sohn zu opfern, hält ihnen den Spiegel vor. Angesichts von Gewalt und Leid verstummen Menschen, wo geredet werden muss. Mit Gott und miteinander. Gewalt setzt sich fort. Höchste Zeit, dass jemand den Kreislauf unterbricht.

Die Studie zur sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche in der Diakonie zeigt: Menschen ist hier Unrecht widerfahren. Täter, allermeist waren es Männer, haben ihnen Gewalt angetan. Das ist schmerzhaft und erschütternd. Jeder Fall ist einer zu viel. Zur Aufarbeitung gehört Prävention durch Schutzkonzepte: Wie können wir verhindern, dass Menschen in unserem Verantwortungsbereich sexualisierte Gewalt erleben? Zugleich stellt sich die Frage, wie von dem Unrecht zu reden ist, das in Kirche und Diakonie geschehen ist. In Begegnungen mit betroffenen Personen ist deutlich geworden, dass viele den Begriff ‚Opfer‘ ablehnen. Weil er sie auf die erlittene Gewalt reduziert. Wer ‚Opfer‘ sagt, macht die Ohnmacht groß und den Menschen klein. Ob es ohne diesen Begriff geht. Wo doch der Glaube von der Erfahrung lebt, die Abraham gemacht hat: Gott unterbricht den Kreislauf der Gewalt. Um Gottes Willen kein Opfer, nirgends.

Eingangsbegebet:

Ja, Gott, bei dir sind wir zuhause.

Wie oft oder selten wir auch kommen.

Ob wir lieber hinten sitzen oder mittendrin.

Der Blick geht auf die Bibel.

Dein Wort für uns:

Du liebst, wo Ohnmacht um sich greift.

Du schaffst Recht,

wo Menschen einander gleichgültig werden.

Du machst lebendig,

wo sich Menschen dem Tod ausliefern.

Doch manchmal ist dein Wort verstörend.

Dein Reden und unser Hören fallen auseinander und ein Abgrund tut sich auf.

So schenke uns offene Augen, Ohren und Herzen für deine Spuren, die unsere Wege kreuzen.

Darum bitten wir dich durch Jesus Christus,

dessen Leid und Tod du überwunden hast.

Amen.

Fürbitten:

Gott, schaffe Recht –

so betet einer im Psalm, so rufen wir.

Gott schaffe Recht –

wo Gier zu Leid führt,

wo Gewalt das Leben beschädigt,

wo das, was ein Mensch einem anderen antut,

grausam und zutiefst verletzend ist.

Gott, schaffe Recht –

denen, die verstummt sind,

denen, die nichts mehr hoffen,

denen, für die du verborgen bist.

Gott, schaffe Recht –

zwischen denen, die Gewalt erlitten und denen,

die sie ausgeübt haben und zu Tätern geworden sind.

Gott, schaffe Recht –

Dass dein Licht unter uns aufleuchtet

und deine Wahrheit uns leitet.

Mit Jesu Worten beten wir:

Lieder:

Suchen und fragen (WortLaute 86)

Bewahre uns, Gott (EG 171)

Korn, das in die Erde (EG 98)

Dr. Christoph Kock, geb. 1967, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit 2007 Pfarrer an der Friedenskirche in der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel.

christoph.kock@ekir.de

[1]          Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland (25.01.2024): https://www.forum-studie.de/

[2]          Die Aggada überliefert zehn Prüfungen Abrahams, die erste ist die im Folgenden genannte, vgl.https://www.ordonline.de/religion-aktuelles/dwar-thora/die-akeda-die-bindung-nichtopferung-isaaks-die-10-pruefungen-abrahams/

[3]          Leider überschreibt die Lutherbibel Genesis 22 immer noch mit „Das Opfer Abrahams“, die BasisBibel lässt mit der Überschrift „Gott prüft Abraham“ die jüdische Überlieferung in der Aggada anklingen.

de_DEDeutsch