Gott geht uns in die …

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Gott geht uns in die …

Gott geht uns in die unbekannte Zukunft voran – jeden Tag, jede Nacht. | Altjahrsabend, 31.12.2020 | Text: 2. Mose / Exodus 13,20-22 | verfasst von Rainer Stahl |

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

 

Liebe Leserin, lieber Leser! Liebe Schwestern und Brüder!

Unser Bibelwort für die Predigt steht in 2. Mose / Exodus 13,20-22:

  • 20a „Und sie brachen auf von Sukkot
  • 20b und schlugen die Zelte in Etam am Rand der Wüste auf.
  • 21aα Und der Herr war gehend vor ihnen, tagsüber in einer Wolkensäule, um sie den Weg zu leiten,
  • 21aβ und nächstens in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten –
  • 21b damit sie gehen können am Tag und in der Nacht.
  • 22aα Nicht wich die Wolkensäule tagsüber
  • 22aβ und die Feuersäule nächtens
  • 22b von dem Volk!“

Nun bin ich schon im fünften Jahr meines Ruhestands. Aber auf der Grundlage dieses Wortes habe ich – wenn ich mich recht erinnere – noch nie gepredigt. Ich vermute, weil ich nie einen extra Gottesdiensttermin zum „Altjahrsabend“, also zum Abend des 31. Dezember, wahrnehmen konnte. Die Herausforderung, einen Morgengottesdienst am 1. Januar zu leiten, die musste ich schon meistern – auch nach einer so langen fröhlichen Feier zum Jahreswechsel vorher, dass ich die Liturgie nicht mehr singen konnte… Aber am eigentlichen Silvester-Abend hatte ich nie Dienst. Trotzdem aber sind mir diese Bilder der Gegenwart Gottes bei der Auszugsgemeinschaft natürlich bekannt – „Wolkensäule tagsüber und Feuersäule nächtens“.

Die alttestamentliche Wissenschaft legt nahe – so verstehe ich die Einleitungswissenschaft zu dem schwierigen „2. Buch Mose“, zum Buch „Exodus“ –, dass es judäische Theologen im babylonischen Exil waren, die diese Bild-Rede für die helfende Gegenwart Gottes bei der Auszugsgemeinschaft entwickelt hatten. – Also vor etwa 2.570 Jahren, nach unserer Zeitrechnung um 550 vor Christus, für die eigene Generation und ihre Denker entwickelt hatten. Ihr Konzept aber hatten sie entworfen für eine Generation von Vorvätern und Vormütter in selbst für sie unvorstellbarer Vergangenheit.

Oder: Wer diese Herangehensweise ablehnt und den biblischen Text als korrekte Beschreibung eines Geschehens vor dem Auszug aus Ägypten versteht, muss ja meinen, dass mit Hilfe dieses Textes direkt in die Zeit dieses Auszugs aus Ägypten gesehen werde. In welche Zeit also? Ich gehöre zu denen, die der Meinung sind, dass wir nicht in der Lage sind, das Ereignis „Auszug“ historisch einzuordnen. Wenn wir der biblischen Zählweise im 1. Könige-Buch, Kapitel 6, Vers 1, glauben, nach der der Auszug 480 Jahre vor der Errichtung des Jerusalemer Tempels gewesen sei, würden wir vielleicht in die Zeit um das Jahr 1.430 vor Christus schauen, also von unserer Gegenwart aus auf eine Situation vor etwa 3.450 Jahren![i] Was mögen so lange Zeit zurückliegende Ereignisse mit uns heute zu tun zu haben? Ich denke auch beim Entwurf dieser Predigt: Gar nichts! Deshalb kann ich auch dem positiven historischen Zugriff gar nicht folgen!

Für mich war es eine richtige kleine Offenbarung, als ich vor Jahrzehnten zur Geltung der Zehn Gebote in einer Dokumentation der Schrift „Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mose schicken sollen“, von Martin Luther 1525 veröffentlicht, gelesen hatte: „Aus dem Text haben wir klar, dass uns auch die Zehn Gebote nichts angehen, denn er hat uns ja nicht aus Ägypten geführt, sondern allein die Juden.“[ii] Geht uns die vorgestellte Hoffnung am Vorabend des Auszugs aus Ägypten also – wie angedeutet – nichts an? Für mich ist entscheidend, welchen Weg Martin Luther in seinem kurzen Satz gegangen war: Er spricht nicht davon, dass die Israeliten oder eine Vorläufergemeinschaft der Israeliten aus Ägypten ausgezogen seien. Sondern er spricht davon, dass es „die Juden“ seien. Also die Zeitgenossen Luthers, die Luther persönlich nie in Wittenberg erlebt hatte, weil sie von dort längst vertrieben waren, bevor er 1508 zum ersten Mal dorthin gekommen war. Ein Gespräch mit Rabbinern war nur möglich geworden, weil diese 1525 oder 1526 eigens zu einem Besuch nach Wittenberg gereist waren… Aber die Aufnahme der jüdischen Art des Umgangs mit dieser alten Überlieferung – komme diese Überlieferung nun aus der Reflexion über die vorgestellte Auszugssituation im babylonischen Exil oder aus wirklicher zeitlicher Nähe zu der hier gemeinten Situation – weist uns den Weg, auf dem wir aus unserem Predigtwort auch für uns etwas gewinnen können. Dazu muss ich eine Schlüsselzuordnung aus der Bibel zitieren, auf die wir uns auch für die Herausforderung, die die Aussage in 2. Mose / Exodus 13 bedeutet, verlassen können:

„Wenn dein Sohn morgen fragen wird folgendermaßen:

‚Was sind das für Verordnungen, Gesetze und Rechtssätze,

die der Herr, unser Gott, euch befohlen hat?‘

Da sage deinem Sohn:

‚Sklaven waren wir vor dem Pharao in Ägypten,

und der Herr hat uns herausgeführt aus Ägypten mit starker Hand‘“

(5. Mose / Deuteronomium 6,20-21).

Diese großartige Aussage gilt für jede neue Generation, die bei der eigenen Vater- und Muttergeneration lernt. Auch heute beim Wechsel vom Jahr 2020 zum Jahr 2021. Was für unsere jüdischen Freunde gilt, das erschließt auch uns dieses ferne Wort von der „Wolkensäule“ und von der „Feuersäule“. Beim Wechsel vom einen Jahr zum anderen lehrt uns dieses Wort, dass in die neue Zeit Gott vor uns hineingeht – wie eine „Wolkensäule“ und wie eine „Feuersäule“.

Darf ich das sagen? Deute ich damit nicht ein Stück weit an, dass ich das vergehende Jahr 2020 wie ein „Ägypten“ deute und das kommende Jahr 2021 wie eine „Wüstenwanderung“ oder vielleicht wie ein „gelobtes Land“? Lassen Sie sich einmal darauf ein! Denn diese beiden Bilder von der „Wolkensäule“ und von der „Feuersäule“ sind doch ganz starke Bilder dafür, dass Gott uns in die unbekannte Zukunft vorausgeht – jeden Tag und jede Nacht.

Jede wird jetzt ganz selbstverständlich an die eigenen Etappen und Wechsel im vergehenden Jahr denken und sich diejenigen vorstellen, die im neuen Jahr auf sie zukommen können. Jeder wird in gleicher Weise zurückschauen und sich vorantasten. Ich möchte die grundlegende Verunsicherung ansprechen, die uns im Jahr 2020 so stark beeinflusst hat und uns auch im Jahr 2021 noch bestimmen wird: die Grippe-Pandemie mit Covid-19 und jetzt auch in der Form ihrer Virus-Mutation B1.1.7:

Neben der Sorge, selber zu erkranken, beschäftigen uns die Einschränkungen, die wir auf uns nehmen müssen: Die Vorsicht bei allen Begegnungen mit anderen Menschen. Dann aber vor allem die Sorge beim Blick in die Zukunft dahingehend, wie unsere Kinder und Enkel das viele Geld aufbringen sollen, das jetzt eingesetzt wird – und vieles mehr!

Daneben verunsichern uns diejenigen,

die noch heute diese Pandemie in Abrede stellen, die meinen, belegen zu können, dass die vielen Verstorbenen vor allem auf Grund anderer Beschwerden umgekommen seien,

die die als Schutzmaßnahmen für unsere Gesundheit gemeinten Restriktionen als nicht zu tolerierende Eingriffe in unsere Rechte als Bürgerinnen und Bürger darstellen,

die behaupten, dass unter der Fahne dieser Pandemie eine uns alle zu beherrschen versuchende Macht im Vormarsch sei, die in unsere persönlichen Entscheidungen eingreifen will.

Eine Psychologin, die ich schon vor längerer Zeit im Radio gehört hatte, wies darauf hin, dass Vertreterinnen und Vertreter solcher Positionen häufig nicht mehr zu einem echten Austausch mit anderen Positionen fähig seien. Da werde also lang bestandene selbstverständliche Gemeinschaft aufgekündigt!

Und immer wieder muss auch auf die Gefahr verwiesen werden, die die Unterbindung von Kontakten und von Gemeinschaft überall in unserer Gesellschaft bedeutet – in unseren Gemeinden, für alte und behinderte Menschen, für die Kinder, für die Schülerinnen und Schüler… „Neben den medizinischen Risiken kann Einsamkeit auch zu einem Problem für den gesellschaftlichen Zusammenhalt […] werden. […] Wenn Menschen nicht mehr oder nur ganz selten persönlich zusammenkommen können, und sich stattdessen via Telefon- oder Videokonferenz austauschen, dann droht ein Kahlschlag gesellschaftlicher Bindungen.“[iii] Ob da die beginnende Impfkampagne ein „Licht am Ende des Tunnels“ sein kann? Aber auch dagegen opponieren ja wiederum viele – oft dieselben, die bisher alles in Frage gestellt haben!

Aber einen Austausch per Skype habe ich jetzt auch als sehr positiv erlebt. Da wird schon deutlich, dass wir zusammengehören! – Wenngleich das Gespräch für mich immer mit einer kleinen Enttäuschung endet: War das Gespräch wirklich genutzt worden? Wurde nicht die bestehende Trennung gerade durch diesen Austausch noch deutlicher?

Aber unser großartiges Glaubensbekenntnis judäischer Theologen von vor 2.570 Jahren gibt eine uns umwerfende Antwort – uns als Gemeinschaft und uns als je einzelne Person –:

Auch 2021, auch unter diesen besonderen Bedingungen geht Gott uns voran – uns als Gesellschaft, uns als Gemeinschaften, uns als Kirchengemeinden, uns als Familien, uns als Einzelpersonen. Ich nutze die beiden Bilder einmal folgendermaßen:

Die „Feuersäule“ gibt Licht und Orientierung angesichts der Kräfte der Verunsicherung und der Zweifel, angesichts der sich so überzeugt gebenden Kritiker der doch nötigen Schutzmaßnahmen. Auch angesichts der Zweifel über eigene Entscheidungen – hatte ich doch mitgetragen, den geplanten Gottesdienst in meiner Wohngemeinschaft zum 25. Dezember nicht live durchzuführen, sondern allen die Predigt in die Hände zu geben…

Die „Wolkensäule“ führt uns sicher durch die Möglichkeiten und Einschränkungen unseres Alltags und unserer Arbeit, die wir doch alltägliches meistern müssen. Auch durch unsere Entspannung, durch die Spaziergänge, durch das Joggen (die Fitness-Studios sind ja geschlossen), auch durch die wenigen Begegnungen, die wir verwirklichen können.

Im letzten Herbst schrieb mir ein Bekannter aus der Gemeinde in Brašov / Kronstadt / Brassó in Siebenbürgen in Rumänien eine wunderbare Überzeugung: „Mit dem Evangelium im Herzen bleibt man, was die Auflagen betrifft, streng, und was das Herz angeht, heiter.“ Öffnen wir uns diesem Evangelium: Wir können voll Mut in das Jahr 2021 wechseln! In jedem Fall werden wir in dieses Jahr wechseln – keine Frage –, aber wie wir das tun, das ist die Frage. Ich lade mit diesem Bibelwort dazu ein, es voller Zuversicht und Mut zu tun!

Amen.

 

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“

Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de

1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, seit 1998 Dienst für den Martin-Luther-Bund (das lutherische Diasporawerk) in Erlangen, seit 2016 im Ruhestand.

[i]   Einen guten ersten Zugang zu den Problemen der Historie liefert Wolfgang Zwickel: Calwer Bibelatlas, Stuttgart 2000, S. 14, zur Karte 3: „Der Exodus“: „Der genaue Weg der Israeliten bei ihrer Wüstenwanderung ist noch immer nicht geklärt, zumal die heutige biblische Überlieferung offenbar verschiedene literarische Schichtungen mit je eigenen Wegführungen kombiniert. So lokalisiert eine Überlieferung den Durchzug durchs Schilfmeer bei den Bitterseen, eine andere beim Sirbonischen See. Wiederum in anderen biblischen Überlieferungen sind mit dem Namen »Schilfmeer« der Golf von Suez und der Golf von Aqaba gemeint.“ – Gerade die letztere Sichtweise hatte ich im August 1989 in Südjordanien beim Blick auf die vielen vulkanischen Berge im Nordwesten Arabiens gelernt!

[ii]   Hermann Kunst: Martin Luther. Ein Hausbuch, Stuttgart, Berlin 1982, S. 205. Ein Buch, das ich mir während meines Einsatzes in den Jahren bis 1985 beim Lutherischen Weltbund in Genf gekauft und erfolgreich in die DDR mitgenommen und nie weggegeben hatte.

[iii]   Andreas Rödder und Christoph Ploß: Die unterschätzte Gefahr der Pandemie, FOCUS 39/2020, S. 60.

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