Gott schenkt Frieden …

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Gott schenkt Frieden …

Gott schenkt Frieden – eine über 2.600 Jahre alte Glaubensüberzeugung | Predigt zu Numeri / 4. Mose 6,22-27 | verfasst von Dr. Rainer Stahl |

 

 

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,

die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit Euch allen!“

 

Liebe Leserin, lieber Leser!

Liebe Schwestern und Brüder!

 

Gerade um seiner Bekanntheit willen sei uns das Predigtwort zuerst in der Fassung der Lutherübersetzung in Erinnerung gerufen:

„Und der Herr redete mit Mose und sprach:

Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich:

So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet:

»Der Herr segne dich und behüte dich;

der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;

der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.«

So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen,

dass ich sie segne.“

 

Vor Jahren habe ich bei einem Besuch Jerusalems auch das Israel-Museum besucht. Nie vergesse ich, dass ich in einem Raum vor eine Vitrine treten konnte, in der die beiden Silberbleche, ursprünglich zu Rollen gedreht, ausgestellt sind – die Bleche, auf denen man bei einem dreijährigen Prozess des Aufrollens jeweils folgendes Segenswort fast gleich entdeckt hat:

»Es segne dich Jahwe / der Herr und bewahre dich.

Es scheine Jahwe / der Herr sein Angesicht über dir, und er gebe dir Frieden.«[i]

 

Als ich vor der Vitrine stand, kamen auch zwei Nonnen und schauten, was es dort zu sehen gebe. Da sagte ich zu Ihnen: “Even today we’re blessing with these sentences.“ / „Sogar heute segnen wir mit diesen Sätzen.” – Denn ich hatte bis dahin bei Gottesdiensten unserer römisch-katholischen Schwesterkirche immer als Segen erlebt: „Es segne dich der allmächtige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.“ Aber die Segensformulierung aus Numeri / 4. Mose 6 kannte ich nur von meiner evangelischen Kirche. Die beiden Schwestern schauten ganz beeindruckt und staunend.

 

Die Entdeckung dieser Silberrollen müssen wir uns etwas deutlicher machen, denn sie stellt diese berühmte Segensformulierung in einen lebendigen Zusammenhang: Von 1975 bis 1983 hat der Ausgräber Gabriel Barkay das Gräberfeld von Ketef Hinnom, südwestlich der Davidstadt von Jerusalem, in der Nähe der Kirche St. Andrews, untersucht.[ii] Dort gab es in alten Zeiten in eine Felsformation eingeschnittene Grabhöhlen. Weil aber später obere Teile der Felsen abgearbeitet worden waren, liegen diese Felsengräber teilweise offen und leer. Unter einem dieser Gräber wurde nun eine weitere künstliche Höhle für die Aufbewahrung der Knochen der Toten und von Grabbeigaben entdeckt – ungestört! Es wurden die Reste von etwa 100 Personen gefunden und viele Gegenstände: Tongefäße, Schmuckstücke. Eine hochinteressante Wahrheit wurde bewusst: Hier hat eine reiche Jerusalemer Familie ihre Verstorbenen vom 7. Jahrhundert v.Chr. bis zum 5. Jahrhundert v.Chr. und wieder im 1. Jahrhundert v.Chr. beerdigt – also auch über die Eroberung Jerusalems durch die Babylonier 597 v.Chr. und 587/86 v.Chr. und über die Zeit des Exils hinweg![iii] Diese Familie oder auch andere Wohlhabende haben während dieser ganzen Zeit in Jerusalem existiert! Unter den entdeckten Schmuckstücken waren auch die beiden schon genannten Silberrollen aus dem Ende des 7. Jahrhunderts v.Chr., vielleicht aus dem Jahr 610 v.Chr.[iv]

 

Wie stelle ich mir das vor? Zwei Verstorbene, vielleicht ein Mann und seine Frau, haben diese Silberamulette in ihrer Lebenszeit um den Hals getragen und immer mit dieser Bitte zu Gott gelebt:

»Es segne dich Jahwe / der Herr und bewahre dich.

Es scheine Jahwe / der Herr sein Angesicht über dir, und er gebe dir Frieden.«

Als sie gestorben waren, wurden ihnen diese Amulette um ihr Hälse gelassen – Silber ist doch wertvoll, warum hat man diese Stücke nicht behalten? Und als ihre Knochen ein gutes Jahr später in die darunter liegende Knochenhöhle umgeräumt wurden, wurden es diese Amulette auch! Denn auch gerade dann, im Tod, im Versammeltsein bei den Müttern und Väter, galt es doch, dass Gott sein Angesicht über sie und über ihn scheinen lassen muss: »Es scheine Jahwe / der Herr sein Angesicht über dir, und er gebe dir Frieden.« Ist das nicht eine Friedenshoffnung, die uns auch heute, also etwa 2630 Jahre später (!), aufrichten und stärken kann?!

 

Vielleicht 60 Jahre später, im Exil in Babylonien, haben judäische Theologen Texte für die Identität ihres Volkes niedergeschrieben. Dabei haben sie dieses Segenswort in nun erweiterter Form ausdrücklich festgehalten:

»Es segne dich Jahwe / der Herr und bewahre dich.

Es leuchte Jahwe / der Herr sein Angesicht über dir und sei dir gnädig / günstig.

Es erhebe Jahwe / der Herr sein Angesicht über dich und gebe / setze dir Frieden!«

(Numeri / 4. Mose 6,24-26).

 

Durch diese Amulette aus der Grablege südwestlich von Jerusalem ist uns schon bewusst, dass dieses Wort wirklich jede einzelne Person anspricht. Ich ganz persönlich darf mich angesprochen fühlen: „Es segne dich…“, „Es lasse leuchten über dir…“, „Es erhebe über dich…“. So wie aber jetzt im Numeri-Buch / im 4. Buch Mose dieser Segenswunsch eingebaut ist – als Segen über allen Söhnen Israels –, wird erkennbar, dass die ganze Gemeinschaft der Glaubenden gemeint ist. Deshalb spenden viele Pfarrerinnen und Pfarrer diesen Segen oft in der Mehrzahl:

»Der Herr segne euch und behüte euch;

der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch  und sei euch gnädig;

der Herr hebe sein Angesicht über euch und gebe euch Frieden.«

Ich muss aber bekennen, dass mir die dem Hebräischen direkt entsprechende Einzahlform besser gefällt: Denn wenn sich alle Einzelpersonen angesprochen fühlen, dann ist auch die Gemeinschaft dieser Einzelpersonen, die Gemeinschaft aller wirklich gesegnet.

 

Diese Zitation des alten Segenswunsches im Numeri-Buch / im 4. Buch Mose legt uns aber auch – wenn ich so sagen darf – eine spezielle Herausforderung vor die Füße: Die Spendung des Segens wird gebunden an „Aaron und seine Söhne“, an die Priester. Dürfen also nur Priester segnen? Vielleicht haben Sie schon einmal auf einem jüdischen Friedhof bewusst einen Grabstein für einen Verstorbenen einer Familie Kohn oder einer Familie Katz gesehen und auf ihm die zum Segnen erhobenen beiden Hände. Da zeigt sich diese besondere Verpflichtung bis heute. Soviel ich weiß, wird zum Ende des synagogalen Gottesdienstes aus dem Kreis der anwesenden Gottesdienstgemeinde der Nachfahre, der Angehörige einer Priesterfamilie gebeten, den Segen zu spenden – wie hier benannt. Das kann ich nur mit großer Hochachtung und Verehrung zur Kenntnis nehmen.

 

Aber für uns Christen gilt, dass wir eine andere Entscheidung getroffen haben: Martin Luther hatte 1520 geschrieben: „Was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, schon zum Priester […] geweiht zu sein […].“[v] Jede Christin, jeder Christ darf also bereit sein, Bekannte, Freunde, Familienangehörige, die eigenen Großeltern und Eltern, die eigenen Kinder zu segnen! Dieses Predigtwort macht uns auf diese besonders gesegnete Möglichkeit aufmerksam: Richtig segnen mit der Auflegung beider Hände auf den Kopf der anderen Person. Als ich 1985 in meiner Gemeinde in Altenburg den Dienst begann, hatte ich im Herbst den Schulanfängergottesdienst übernommen. Und im Rahmen dieses Gottesdienstes habe ich alle Kinder, die in einem Halbkreis vor mir standen, mit erhobenen Händen gesegnet, also: als Gruppe gesegnet. Nach dem Gottesdienst stellte mir mein Kollege an der Kirche eine Frage, die ich nie vergesse: „Was war denn das für ein Sparsegen, den Sie gespendet haben?“ Auf jedes Mädchen, auf jeden Jungen hätte ich zugehen und ihr und ihm meine Hände auflegen und ihr und ihm den Segen zusprechen sollen. Wenn also solche besonderen Gruppen zu segnen sind, mache ich das nie mehr in einer Sparvariante!

 

Dieses Jahr wird uns aufgetragen, dieses Bibelwort zum Sonntag Trinitatis, zum Fest der Dreieinigkeit Gottes zu bedenken und zu predigen. Ich vermute, weil die Dreigliedrigkeit des alten Segenswortes Verbindungen zu dieser besonderen christlichen Glaubensüberzeugung nahelegt. Ich will das einmal folgendermaßen versuchen:

»Der Herr segne dich und behüte dich;                                                                                  – Gott, der Vater

der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir  und sei dir gnädig;                               – Gott, der Sohn

der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.«                                       – Gott, der Heilige Geist.

 

Das vertieft doch unseren Glauben an den Einen Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist: Gott, der Vater segnet und behütet. Gott, der Sohn lässt sein Angesicht über uns leuchten und schenkt uns Gnade. Gott, der Heilige Geist erhebt sein Angesicht über uns und gibt uns Frieden. Das ist wie eine besondere Offenbarung zu dieser schwierigen und oft unklaren Vorstellung „Dreieinigkeit“. Zu unserem heutigen Fest wird uns dieses besondere Angebot vorgelegt. Greifen wir doch zu!

 

Sodann bin ich auf ein Lied in unserem Gesangbuch aufmerksam geworden, das in ganz besonderer Weise alle gewonnenen Einsichten aufnimmt. Im Jahr 1978 wurde in der Kommunität Gnadenthal ein Lied zu Numeri / 4. Mose 6 verfasst, das uns in die Lage versetzt, dieses Segenswort gemeinsam zu singen:

„Segne uns, o Herr! Laß leuchten dein Angesicht über uns und sei uns gnädig ewiglich.

Segne uns, o Herr! Deine Engel stell um uns! Bewahre uns in deinem Frieden ewiglich!“[vi]

 

Das wird überhaupt erst ein dreigliedriges Lied, wenn man – wie vorgeschlagen wird – die erste Strophe nach der zweiten noch einmal singt. Und das strahlt eine besondere meditative Kraft aus. Aber: Wenn man nur diese beiden Strophen 1 und 2 singt – oder liest –, dann ist man in eine überraschende Nähe zu dem Gebetswunsch der beiden Silberrollen von Ketef Hinnom gerückt – obwohl die Verfasser in Gnadenthal nichts von diesem Fund wissen konnten. Ich darf einmal beide Texte nebeneinander stellen:

 

Vor 2630 Jahren:                                                                 Vor 42 Jahren:

»Es segne dich der Herr                                                   „Segne uns, o Herr!

und bewahre dich.

Es scheine der Herr sein Angesicht über dir                Laß leuchten dein Angesicht über uns

                                                                                     und sei uns gnädig ewiglich.

                                                                                     Segne uns, o Herr!

                                                                                     Deine Engel stell um uns!

und er gebe dir Frieden.«                                                 Bewahre uns in deinem Frieden ewiglich!“

 

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Leserin und lieber Leser: Haben Sie jemals so unmittelbar die gleiche Glaubensüberzeugung, die gleiche Glaubenshoffnung bezeugt, belegt gefunden – über mehr als 2.600 Jahre hinweg? Können wir uns da nicht mit innerer Bestärkung auf diese Glaubenshoffnung, auf diese Glaubensüberzeugung einlassen?! Das ist das immense Angebot des heutigen Sonntags. Nehmen wir alle es doch an!

Amen.

 

„Und der Friede Gottes,

der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“

 

Dr. Rainer Stahl

Erlangen

rainer.stahl.1@gmx.de

 

[1951 geboren, Studium der Theologie in Jena, Assistent im Alten Testament, 1981 ordiniert, Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Thüringen, zwei Jahre lang Einsatz beim Lutherischen Weltbund in Genf, dann Pfarrer in Altenburg, Alttestamentler an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, Referent des Thüringer Landesbischofs in Eisenach, seit 1998 Dienst für den Martin-Luther-Bund (das lutherische Diasporawerk) in Erlangen, seit 2016 im Ruhestand.]

[i]   Vgl. Emmanuel Tov: Textual Criticism of the Hebrew Bible, Minneapolis, Assen/Maastricht 1992, S. 379. Dort wird die Rekonstruktion des Textes natürlich nur in Hebräisch gegeben.

[ii]   Vgl. Dan Bahat: The illustrated Atlas of Jerusalem, New York und Jerusalem 1990, S. 18-19. Und: Amihai Mazar: Archaeology of the Land of the Bible. 10,000 – 586 B.C.E., New York, London usw. 1992, S. 522.

[iii]   Vgl. Amihai Mazar, a.a.O., S. 516-517.521-526. Und: Hershel Shanks: Jerusalem. An Archaeological Biography, New York 1995, S. 115-119.

[iv]   Vgl. Emmanuel Tov, a.a.O., S. 118; vgl. auch https://de.wikipedia.org/wiki/Silberrollen_von_Ketef_Hinnom

[v]   Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, 1520.

[vi]   Vgl. Evangelisches Gesangbuch, Nr. 573.

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