Gott…

Gott, sei mir gnädig. | Aschermittwoch, 17.02.2021 | Predigt zu Psalm 51, 3–6. 11-14 | von Matthias Wolfes |

 „Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. Wasche mich wohl von meiner Missetat und reinige mich von meiner Sünde. Denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir. An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan, auf daß du recht behaltest in deinen Worten und rein bleibest, wenn du gerichtet wirst. […] Verbirg dein Antlitz vor meinen Sünden und tilge alle meine Missetaten. Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. Tröste mich wieder mit deiner Hilfe, und mit einem freudigen Geist rüste mich aus.“  (Jubiläumsbibel, Stuttgart 1912)

Liebe Gemeinde, 

„Gott, sei mir gnädig“ – „Miserere mei, Deus.

Die Worte dieses Bußpsalmes schlagen ins Gesicht. “Übel vor Gott“ habe er getan, bezeugt der Beter von sich. „Meine Sünde ist immer vor mir.“ Gott wird gebeten, „meine Sünden“ zu tilgen und ihn von „Missetat“ und „Sünde“ zu reinigen.

Worauf richtet sich diese Selbstbeschuldigung? Können wir, fragen wir, uns selbst an die Stelle dessen setzen, der hier so spricht?

Nicht die alltäglichen Verfehlungen sind im Blick, nicht die Vielzahl von Handlungen, Gedanken und Empfindungen, die uns von Gott entfernen. Nicht die ganze Kleinheit unseres Tuns und Lassens. Und auch nicht einmal alles das, was man unter den Titel „Selbstbehauptung“ stellen könnte, wodurch das Leben jedes Einzelnen doch so oft in schier unüberwindbare Konfrontationen mit dem Leben anderer gerät.

Es geht vielmehr um unsere Einstellung Gott gegenüber. „An dir, Gott“, und zwar „an dir allein“, habe ich gesündigt, erklärt der Psalmbeter. Dies ist die Erkenntnis seiner Missetat: An Gott hat er gesündigt und „übel vor ihm getan“. Deshalb ist Gott auch der rechte Adressat für die Bitte um Vergebung. Da alle Sünde sich auf ihn richtet, ist er es auch, und zwar wiederum er „allein“, der sie „tilgen“ kann.

Worin besteht diese Tilgung? Sie besteht jedenfalls nicht in Wiederherstellung, nicht in Aufhebung oder Nichtachtung. Kein früherer Zustand soll erneut eingesetzt werden. Es geht um etwas Neues, Anderes, grundlegend Verändertes: Um die Schaffung eines reinen Herzens und eines neuen, gewissen Geistes wird gebeten: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist.“ Doch auch, nachdem diese Bitte ausgesprochen ist, kehrt der Psalm zur vorherigen Selbstanklage zurück. Erneut wird Gott gebeten, „sein Angesicht“ nicht zu verbergen. „Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.“ Die letzten Worte nehmen dann noch einmal die Bitte um Neuschaffung auf. Mit einem „freudigen Geist“ möge Gott den Beter ausrüsten und ihn darin „wieder“ trösten.

I.

Das alles sind Worte von geradezu verzweifelter Dringlichkeit. Wir können sie hören und im Gottesdienst wohl auch nachsprechen. Sie sind gut geeignet, den Text für das Sündenbekenntnis abzugeben, das hier und da im Eingangsteil unserer sonntäglichen Feiern gesprochen wird. Und besonders für unsere Zusammenkunft am heutigen Aschermittwoch scheinen sie genau zu passen.

Aber können wir sie uns auch zu eigen machen? Entsprechen sie unserem religiösen Gefühl oder auch nur unserer Selbstwahrnehmung? Das fragen wir, und wir fragen es, ohne uns zu überschätzen, ja, auch nur, ohne überhaupt zu leugnen, dass die Realität unseres Lebens durchaus Anlass gibt, Gott um die Schaffung eines „reinen Herzens“ und eines „neuen, gewissen Geistes“ zu bitten.

Was uns – jedenfalls mich – irritiert, ist die Unbedingtheit, mit der der Psalmbeter sich selbst verwirft. Es herrscht hier ein abgründiger Ton, eine Schlechthinnigkeit des Negativen im Blick auf sich selbst, mit der ich mich nicht identifizieren kann. Mein Lebensgefühl ist anders. Ich weiß mich doch als Geschöpf Gottes, und insofern kann ich mein Verhältnis zu ihm nicht so stark in das Bild der Kluft fassen. Ich fühle mich nicht vollkommen von ihm geschieden, und ich bin auch nicht von der Angst gepeinigt, er könne „sein Antlitz“ vor mir verbergen und mich verwerfen.

Mir ist klar, dass diese Angst in der Welt der Religion, in der Welt des christlichen Glaubens eine große Rolle gespielt hat und auch nach wie vor spielt. Diese Angst scheint zum Gefühlsrepertoire vieler gläubiger Menschen hinzuzugehören, wie überhaupt Angst, Daseinsbesorgnis und eine zweifelnde Grundstimmung sich erschreckend häufig bemerkbar machen, wenn vom Glauben die Rede ist. Das ist um so erstaunlicher, als doch gerade im Gegenteil Zuversicht und Lebensmut dem Vertrauen auf Gottes Beistand entsprechen.

Statt dessen wird Gott zu einem verwerfungswilligen Richter, vor dessen gerechtem Urteil nichts und niemand bestehen kann. Und dazu gehört dann auch jene Selbsterniedrigung, die es nicht ertragen kann, wenn dieser Gott dem Nichtswürdigen sein „Antlitz“ zuwendet. Ja, man kann sich in derartigen Vorstellungen verlieren. Man kann sogar in einem Akt paradoxer Identitätsstiftung gerade darin seinen Wert und seine Würde finden, dass man sich vor einem solchen Gott in den Staub wirft.

II.

Doch der Gott, der sich mir nahe zeigt, ist so nicht. Gott ist mein Heil und meine Stütze. Ich beziehe auf mich, was in einem anderen Psalmgebet gesagt wird:

„Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt

Und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,

der spricht zu dem HERRN:

Meine Zuversicht und meine Burg,

mein Gott, auf den ich hoffe.“ (Psalm 91, 1. 2)

Nun kann man einwenden, es ginge nicht an, eine biblische Aussage einfach einer anderen gegenüberzustellen und dann zu sagen: Ich entscheide mich für diese und gegen jene. Das ist richtig. Beide zusammen – all ihrer Verschiedenheit entgegen – bilden erst ein Ganzes.

Das kann auch nicht anders sein, denn Gott selbst ist ja Einer. Es sprechen aus den unterschiedlichen Gebeten zwei verschiedene Gemüter; sie bringen Stimmungen und Gedanken des Beters zum Ausdruck, vielleicht sogar eines und desselben Beters. Auf der Seite des Sprechers finden die Unterschiede statt, nicht aber auf der Seite Gottes, an den sie sich richten.

Und dann wollen wir auch dies bedenken: Das Gefühl der Nähe Gottes kann selbst zu einer Bemächtigung werden, und alles Sprechen von ihr, alles Bezeugen, sich ihrer bewusst zu sein, so wahrhaftig es ist, steht seinerseits in der Gefahr, zu einer Festlegung Gottes zu werden. Sogar dann, wenn wir meinen, angemessen von Gott zu sprechen, von seiner Treue und Zuwendung nämlich, sind wir nicht davor gefeit, einem selbstkonstruierten Gottesbild zu folgen. „Sie suchen mich täglich und wollen gerne meine Wege wissen […]. Sie fordern von mir Recht, sie wollen, dass Gott ihnen nahe sei“ (Jes 58, 2; Lutherbibel, revidiert 2017).

Gott festzulegen aber, das ist die eigentliche Ursünde. Das ist die Handaufhebung gegenüber Gott. Aus ihr spricht der Empörer, und zwar auch dann, wenn die Rede, die er führt, alles andere als empörerisch klingt. Gott kann nur sich selbst auf irgendetwas festlegen, wie er es, unserem Glauben an ihn zufolge, getan hat. Unserem Glauben, der sich hierin auf sein Wort beruft.

III.

So stehen wir also vor der Aufgabe, beides miteinander zu verbinden: das Wissen – der Psalm spricht ausdrücklich von „Erkenntnis“ – unserer Ferne von Gott, und andererseits das Vertrauen auf seine Treue uns gegenüber. Fern sind wir ihm, treu ist er uns.

Der Psalm weist die Richtung. Er setzt ja nicht mir der Selbstanklage ein, sondern mit der Bitte: „Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte.“ Wir bitten ihn um die Tilgung unserer Sünden, und das tun wir im Vertrauen darauf, dass es geschehen werde. Nur aus diesem Vertrauen heraus ist ja die Anrufung überhaupt verständlich, Gott möge uns „wieder“ trösten mit seiner Hilfe. „Wieder“ – das bedeutet: Hier ist die Erfahrung schon wahr geworden, um die gebeten wird.

Und dies ist es, was wir uns heute, an diesem Tag der Selbsterkenntnis, zu eigen machen wollen. Dies ist es, was uns mit dem Psalmbeter verbindet und wodurch wir dann auch seine Worte nachsprechen können.

Wir sind uns des Beistandes Gottes bewusst, doch zugleich ist uns klar, wie wenig wir selbst den Anlass zu solchem Beistand bieten. Wir sind angewiesen auf die gnädige Zuwendung, die ganz und gar aus der Güte Gottes erwächst. Unser Tun, aber auch alles Wollen und Streben geht von uns aus, und damit ist es schon verstrickt und eingewoben in ein Selbst-sein-Wollen.

Diese, wie wir meinen, sehr realistische Sicht auf uns selbst ist unserem Vertrauen auf Gottes Beistand eingeschrieben. Im Vertrauen aber haben wir den eigentlichen Grund. Nicht die Verwerfung unseres Soseins bestimmt das Bild, das wir von uns haben, sondern die Gewissheit, aller Unzulänglichkeit zum Trotz dennoch aufrecht durch das Leben und diese Welt gehen zu können. Indem wir uns diese Unzulänglichkeit vor Augen halten, erblicken wir uns selbst. Das Leben, das wir führen, ist kein Käfig, in den wir gebannt wären. Es gibt die Möglichkeit zur Gestaltung, wir können entscheiden, und zwar im Kleinen wie aber auch im Großen.

Solche Entscheidungen werden ständig getroffen. Und das eben ist es, wozu uns der kritische, realistische Blick auf uns selbst in die Lage versetzt: Wir wissen darum, dass wir sie treffen. Und so stimmen wir denn auch ein in die Bitte „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist. […] Tröste mich wieder mit deiner Hilfe, und mit einem freudigen Geist rüste mich aus.“

Amen.

Pfarrer Dr. Dr. Matthias Wolfes

Herderstraße 6

10625 Berlin

wolfes@zedat.fu-berlin.de

Pfr. Dr. Dr. Matthias Wolfes ist Pfarrer der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) und amtiert zur Zeit an der Trinitatiskirche in Berlin-Charlottenburg (Kirchenkreis Charlottenburg-Wilmersdorf).

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