Mit Gefühlen

Mit Gefühlen

Predigt über Joh 13,21–30 | verfasst von Wolfgang Vögele |

Friedensgruß

Der Predigttext für den Sonntag Invokavit steht Joh 13,21-30:

„Als Jesus das gesagt hatte, wurde er erregt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist’s? Jesus antwortete: Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald! Niemand am Tisch aber wusste, wozu er ihm das sagte. Denn einige meinten, weil Judas den Beutel hatte, spräche Jesus zu ihm: Kaufe, was wir zum Fest nötig haben!, oder dass er den Armen etwas geben sollte. Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht.“

Liebe Schwestern und Brüder,

zuerst suchen Hörerinnen und Leser in einer biblischen Geschichte meist nach einem Anknüpfungspunkt. Dieser wirkt wie ein doppelseitiges Ventil, durch das sämtliche Befindlichkeiten moderner Zeit in die alte biblische Geschichte einströmen: Wolkenkratzer und Instagram, globale Warenströme und digitale Hackerangriffe, die Covid-Pandemie und der Inzidenzwert, Talkshows, Body Shaming und die Ausläufer der #metoo-Debatte. Hier, in die wunderbare Geschichte von Judas, Jesus und dem Lieblingsjünger läßt sich kein Anknüpfungspunkt einhämmern, aus dem sich dann biblische Weisheit wie ein frommer Cocktail in die Gegenwart ergießt.

Andere suchen nicht sofort nach Gegenwart und Zeitgeist, sondern zunächst nach wichtigen dogmatischen Fragen. Johannes nimmt seinen Rang ein als theologischer Philosoph unter den Evangelisten. Man kann fragen, wie sich in Jesus Gott und Mensch verbinden, wie sich die Predigt Jesu zum Willen Gottes verhält, wie Glaube und Moral miteinander aufgerechnet werden können. Für solche Fragen finden sich in dieser Geschichte immerhin leise Andeutungen, die der Evangelist aber aus dem Vordergrund heraushält.

Was wir gehört haben, liebe Schwestern und Brüder, ist eine Geschichte, die nur aus Gefühlen und Menschlichkeit besteht. Großes Kino, in Szene gesetzt mit einfachen psychologischen Mitteln, ohne Moral und Dogmatik, ohne Belehrung und Besserwisserei. Das kann man nicht verstehen, das kann man nur nachfühlen.

Dafür ist es nötig, kurz den Zusammenhang in Erinnerung zu rufen. Die Szene spielt kurz vor Gefangennahme und Kreuzigung. Johannes erzählt keine Geschichte vom letzten Abendmahl. An deren Stelle tritt die Erzählung von der Fußwaschung (Joh 13, 1-21), die im Kirchenjahr auf den Gründonnerstag, also unmittelbar vor Karfreitag fällt. Bis heute wäscht der Papst jedes Jahr an Gründonnerstag Menschen, die Barmherzigkeit nötig haben, die nackten Füße. Schon mehrfach hat er deswegen eine Justizvollzugsanstalt besucht, nur im letzten Jahr mußte die Fußwaschung wegen der Corona-Pandemie ausfallen. In der evangelischen Kirche konnte sich dieses liturgische Ritual nie durchsetzen, wohl weil es ein antibürgerliches Geschmäckle – Schweißfüße! – ausströmt. Manchmal wird das im Protestantismus so wichtige Priestertum aller Gläubigen von hierarchischen Würdenträgern der anderen Konfession praktiziert. Biblisch ist das gut belegt und begründet.

Jesus hat seinen Jüngern die Füße gewaschen. Danach beginnt die Predigtgeschichte. Leser und Hörerinnen haben das untrügliche erste Gefühl: Jesus regt sich auf. Er erregt sich ‚im Geist‘. Ich halte das nicht für einen Hinweis auf den Heiligen Geist. Es ist nur gemeint: Bei Jesus schlägt der emotionale Pegel aus, bei den Jüngern vermutlich auch. Sie chillen nicht mehr, jetzt hypen die Gefühle. Jesus wirft – im wahren Sinne des Wortes – das Stichwort des Verrats in die frisch fußgewaschene Runde.

Ein Verräter? Wer war’s?

Große Verunsicherung unter den Jüngern. Niemand traut sich. Nur Petrus spürt, daß einer etwas sagen muß; nur er selbst will das nicht tun. Vermutlich spürt er, der schon im Namen den Felsen der Standhaftigkeit trägt, etwas von seinem Wankelmut, von der Angreifbarkeit seines Glaubens. Er läßt also einen anderen Jünger anstupsen. Von diesem verschweigt der Evangelist Johannes an dieser Stelle und später bei der Kreuzigung merkwürdigerweise den Namen. Er nennt ihn nur den Lieblingsjünger. An vorigen Stellen hat Johannes die Namen aller Jünger aufgezählt, einer von den genannten Zwölfen muß es also sein.

Aber der Name fehlt, der Titel überrascht dann doch: der Lieblingsjünger. Im Johannesevangelium bilden die Jünger eine Art Bruderschaft unter Gleichen, einen Orden frommer Gralsritter, versammelt um eine Tafelrunde, die weder Vorsitz noch Unterordnung zuläßt. Und dennoch spricht Jesus, sozusagen der Kosmetiker der geistlichen Pediküre, von einem Jünger, zu dem er sich offensichtlich emotional hingezogen fühlt, mehr jedenfalls als zu den anderen Jüngern. Es bleibt rätselhaft, wieso der Empfänger des Gefühlspokals nicht genannt wird.

Zwischen Jesus und dem Lieblingsjünger besteht nicht nur platonische Sympathie, sie zeigt sich in einer konkreten körperlichen Geste. Der Lieblingsjünger lehnt sich an die Brust Jesu – wie gemalt. Und in vielen Abendmahlsbildern des Mittelalters ist das in aller Anrührung genauso zu sehen. Und gegenwärtige Hörer, die in der Pandemie Abstand halten und das Gesicht hinter einer Maske verbergen, befällt die Sehnsucht, einem anderen Menschen wenigsten wieder einmal die Hand zu geben oder ihn gar freundschaftlich zu umarmen. Ständige Distanz, so notwendig sie im Moment sein mag, macht traurig.

Überhaupt verbinden sich in diesem biblischen Erzählstück Gefühle und Gesten. Denn Jesus nennt auf die Nachfrage nicht einfach den Namen des Verräters. Er sagt: Der, dem ich jetzt einen Bissen zu essen gebe, der ist der Verräter. Das kann man lesen als einen versteckten Hinweis auf das von Johannes nicht ausdrücklich erwähnte Abendmahl. Aber gemeinsames Essen stiftet Freundschaft und Gemeinschaft. Auch Brot und Wein im geistlichen Sinn stiften Gemeinschaft, Gemeinschaft des Glaubens. Diese wird nun in ihr Gegenteil verkehrt. Beim heiligen Essen erkennen sich nicht mehr Brüder und Schwestern, hier wird ein Verräter benannt.

Sein Name ist Judas. Über diesen abtrünnigen Jünger Judas ist in der Kirchengeschichte unendlich viel nachgedacht worden. Wie kann er, der Jesus so lange nachfolgte, dazu kommen, ihn zu verraten? Wie kann er, der am Tisch des Abendmahls saß und dem die Füße gewaschen wurden, für dreißig Silberlinge die Freundschaft mit Jesus preisgeben? Die Theologen des Abendmahls fragten: Wie kann jemand, der einen Augenblick früher noch würdig war, Brot und Wein zu empfangen, im nächsten Augenblick den Verratsplan fassen? Wie kann sich jemand, der in beneidenswerter Gemeinschaft mit Jesus stand, gegen ihn wenden? Filmemacher, Theaterautoren und Schriftsteller haben die Ursachen für den Verrat Jesu in der Psychologie und in einer paradoxen Theologie gesucht. Man spekulierte über Kränkungen, die Judas sich gefallen lassen mußte, weil Jesus andere – siehe den Lieblingsjünger – bevorzugte. Judas hätte dann den Verrat aus psychologischer Enttäuschung begangen.

Andere störten sich daran, daß die Bibel den Verrat des Judas mit dem Willen Gottes erklärte. Wie kann Gott bestimmen, daß Judas zum Verräter wurde und sich erhängte, wenn er doch allen Menschen seinen Segen und seine Barmherzigkeit verheißen hat? Wenn man so denkt, verwickelt sich die Theologie unweigerlich in Widersprüche.

Auch der Evangelist Johannes präsentiert eine Lösung für das Verratsproblem, die ich aber eigentlich ganz schwach finde. Johannes schiebt die Verantwortung auf den Satan. Und dieser tritt pünktlich erst in Erscheinung, als das Leckerli des Verrats schon heruntergeschluckt ist. Der Teufel war’s, der auf den bösen Judas schlechten Einfluß ausübte. Ich will jetzt nicht die Judas-Erzählungen der anderen Evangelisten zum Vergleich heranziehen. Aber wer von der Freiheit des Menschen – sowohl im Glauben als auch in den Rechten seiner Persönlichkeit – ausgeht, der kann sich nicht einfach auf den Teufel berufen. Das wirkt wie eine Verschiebung der Verantwortung. Vielleicht läßt sich die Frage, aus welchen – psychologischen wie theologischen – Gründen Judas seinen Verrat begangen hat, gar nicht schlüssig und konsequent beantworten. Erklärungen wirken manchmal wie wohlfeile Satzgebilde, die die eigene Ratlosigkeit nur verdecken.

Sehr viel mehr als in der Erklärung des Johannes finde ich mich darum in der verblüfften Ratlosigkeit der Jünger wieder, die der Evangelist wortreich beschreibt. Auf Jesu Geste und auf das plötzliche Verschwinden des Judas können sich die Jünger keinen Reim machen. So merkwürdig es klingen mag: Ich finde in dieser Ratlosigkeit der Jünger sogar Trost. Denn Glauben und Gottvertrauen, liebe Schwestern und Brüder, bedeutet nicht, alle Fragen zwischen Himmel und Herde beantworten zu können. Im Glauben kommt das persönliche Vertrauen auf die Verheißungen Gottes zum Ausdruck. Glauben besteht nicht aus einer Mauer der Sicherheit, um auf alle persönlichen und globalen Fragen, die sich im Laufe eines Lebens stellen, eine sichere und gewisse Antwort zu geben.

Ich bin überzeugt, daß das auch der Evangelist Johannes wußte, trotz seiner merkwürdigen Satansbemerkung. Diese anrührende Predigtgeschichte wirkt wie eine rasante emotionale Achterbahnfahrt, und der letzte Satz lautet ganz schlicht: „Und es war Nacht.“  Es wird dunkel, der Tag ist vergangen. Es sind noch viele Fragen offen. Das erinnert an den Schluß von Theodor Fontanes Roman „Effi Briest“. Nach einer emotionalen Achterbahnfahrt der Titelperson, frühe Heirat, Ehebruch und Scheidung, die Details müssen nicht erzählt werden, schließt Fontane mit den Worten: „Es ist ein weites Feld.“ So offen klingt auch der Schlußsatz des Evangelisten: „Und es war Nacht.“ Nur vier kurze Worte, die eine banale Tatsache beschreiben und dennoch große Literatur sind.

Nach diesem evangelischen Schlußsatz nur noch zwei kurze Predigtbemerkungen. Die Nacht, die Jesus und die Jünger erwartet, ist die Nacht der Gefangennahme. Es folgen Verhaftung, Verhör, Folter, Verurteilung. Das Kreuz, der Tod Jesu. Die Geschichte geht nicht gut aus, nicht vor Ostern. Und all diesen verstörenden Erfahrungen Jesu gilt Nachdenken, Meditieren und Beten der Gemeinde in der Passionszeit.

Die zweite Bemerkung: Ich bin dankbar für alle biblischen Geschichten, die einen menschlichen, mitfühlenden Jesus zeigen, auch wenn die heutige Predigtgeschichte vor allen Dingen Mißtrauen, Verrat und Enttäuschung ans Licht bringt. Glauben und Vertrauen auf Gott sind in jedem Menschenleben ununterscheidbar verwoben in seine Geschichte, seine Biographie, mit allen Emotionen, Enttäuschungen, mit allen Freuden und Erfolgen, mit Krankheit und Leiden. Leben ist weder planbar noch berechenbar, genauso wenig wie der Wille Gottes. Trotzdem bleibt, bei allen emotionalen Achterbahnfahrten, das Vertrauen in Gottes Verheißungen. Auch in dieser so beunruhigenden Geschichte scheinen diese Verheißungsbilder auf: Jesus wäscht die Füße der Menschen, die der Barmherzigkeit bedürfen. Und er gibt uns zu essen und zu trinken. Er feiert mit Brot und Wein.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als Gefühle, Umstände und Krisen, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Nachbemerkung: Fotos von Abendmahlsdarstellungen und -bildern lassen sich leicht über Suchmaschinen finden. Mich hat besonders beeindruckt der Heiligblutaltar von Tilmann Riemenschneider in der Kirche St. Jakob in Rothenburg ob der Tauber.

Grundlegende Informationen über Fontanes Roman „Effi Briest“ finden sich hier. Nimmt man den Roman „Der Stechlin“ noch hinzu, so lassen sich dem theologischen, aber eben theologischen Skeptizismus Fontanes möglicherweise noch weitere Gedanken für eine Predigt entnehmen.

Dem Zusammenhang zwischen Biographie, Theologie und Glauben bin ich gerade in einem längeren autobiographischen Essay nachgegangen: Vgl. Wolfgang Vögele, Onkel Ernst und die portugiesischen Revolutionäre. Warum und in welchem Umfeld ich in den achtziger Jahren in Heidelberg Theologie studierte, tà katoptrizómena, 2021, H. 129. Im gleichen Heft finden sich weitere Beiträge, die diesem Thema gewidmet sind.

 

PD Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

 

 

 

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er bloggt über Theologie, Gemeinde und Predigt unter www.wolfgangvoegele.wordpress.com.

 

 

 

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