Hebräer 12, 1-3

Hebräer 12, 1-3

 


Palmsonntag (6. Sonntag der
Passionszeit), 24. März 2002
Predigt über Hebräer 12, 1-3, verfaßt von Jürgen
Jüngling

1. Schon wenige Stichworte aus diesem Bibelwort machen deutlich, wie
es um die Gemeinde bestellt ist, die den Hebräerbrief bekommen hat.
Von Beschwernissen ist da die Rede, von der nötigen Geduld und vom
Kampf wird berichtet und schließlich vor Mattheit und Mutlosigkeit
gewarnt. Kommt uns diese Aufzählung nicht bekannt vor? Es liegt auf
der Hand: Die Christen damals sind müde geworden; sie haben Anfechtungen
durchstehen müssen und sind durch mancherlei Verfolgungen gegangen;
nun stehen sie vor der Frage, woran denn eigentlich das Regiment Gottes
im Weltgeschehen abzulesen sei. Deshalb noch einmal: Kommt uns diese Lagebeschreibung
nicht bekannt vor?

Der Schreiber des Briefes geht auf die Situation ein – sehr umsichtig
und sehr sensibel. Sein Stichwort heißt „Ermutigung“:
Ermutigung einzelnen und einer ganzen Gemeinde gegenüber, die sich
mehr schlecht als recht darum bemühen, ihren Glauben zu behalten
und zu gestalten. Diesen Blickwinkel möchte auch ich einnehmen und
deshalb den vorgetragenen Argumenten ein wenig nachgehen. Es könnte
ja sein, dass sie auch uns in den mancherlei Verzagtheiten hilfreich sind.

2. Da ist zunächst einmal die Rede von der Wolke der Zeugen – auf
den ersten Blick ein schwerverständliches Bild. Was damit gemeint
ist, wird schon im Kapitel unmittelbar vorher ausgeführt (Hebr. 11,23-38),
denn da werden sie alle aufgezählt: z. B. der Abraham und der Jakob,
der Josef und der Mose, sogar die Dirne Rahab, dazu David, Samuel, die
Propheten und schließlich eine ganze Reihe von namentlich nicht
einmal Genannten. Es ist schon bezeichnend, welch großes Panorama
von Personen und Begebenheiten da ausgebreitet wird. Und jede dieser Erwähnungen
wird eingeleitet mit den Worten: „Durch den Glauben“ geschah
dieses oder jenes. Gemeint ist: durch den Glauben all jener gottesfürchtigen
Zeugen.

Ich kann mir gut vorstellen, wie die Aufzählung auf die Leser von
damals gewirkt haben mag. Ganz sicher ist bei dem einen oder anderen von
ihnen der Schwermut über ihre Lage noch schwerer geworden: Ja, das
waren Zeiten, aber heute? Und wir? Wir kennen das von alten Menschen,
wenn sie sagen: Früher war alles anders und vor allem besser. Und
umso grauer werden ihnen darüber die Tage, die sie jetzt zu verbringen
haben. Nein, unsere Gegenwart sollten wir wirklich nicht an den großen
Eindrücken von einst messen. Das führt nur allzu schnell in
noch größere Unsicherheit und Ängstlichkeit und am Ende
gar zur Resignation.

Das aber will der Briefschreiber auf gar keinen Fall. Kann man denn im
Ernst jemanden noch tiefer herunterziehen, als er ohnehin schon ist? Da
gilt es vielmehr, den Horizont der Adressaten zu öffnen und zu weiten.
Da gilt es, Ihnen mit dem Hinweis auf die Wolke der Zeugen klarzumachen,
dass Gott schon immer und deshalb auch jetzt mit uns Menschen etwas vorhat.
Wie oft ist es doch der Fall, dass wir nicht weiterwissen, dass wir am
Ende sind mit all unserem Latein? Wie hilfreich kann es dann sein, wenn
jemand uns auffordert: Denke doch an manche brenzligen Situationen zurück!
War es nicht so, dass dir da stets neue Kraft zugewachsen ist, so dass
es weitergehen konnte? Oder: Schau doch bitte einmal über dein tiefes
Loch hinaus! Mache deine Augen weit auf und nimm die Chancen wahr, die
es neben und über diesem Loch noch gibt! Solche Hinweise können
aus der Enge führen, können entkrampfen, können Mut machen
für den nächsten Schritt.

Um wie viel mehr gilt das erst im Blick auf Gott? Die Erinnerung an Abraham
und Mose, an Paulus und Luther, an Albert Schweitzer und Mutter Theresa
und auch an so manche Station unseres eigenen Lebens lässt es uns
doch wie Schuppen von den Augen fallen: Gott ist nicht nur hier oder da
gegenwärtig, sondern immer und überall. Diese Erinnerung zeigt
uns auch, dass er uns auf einen Weg gestellt hat, auf dem er uns längst
begleitet. Und wenn wir gar auf die lange Wegstrecke zurückschauen,
die schon die Geschlechter vor uns zurückgelegt haben, dann kann
uns klar werden, dass auch wir in unserem Lauf nicht allein sind.

Das gilt für uns persönlich, das gilt für den Lauf der
Welt und nicht zuletzt für den weiteren Weg unserer Kirche. Sicher,
da gibt es überall so mancherlei Fragen und Anfragen – wie übrigens
schon immer. Wer aber um die Treue Gottes weiß, der wird jeden schmallippigen
Pessimismus und ebenso jeden rosaroten Optimismus hinter sich lassen.
Für ihn gilt – auch gegen manchen Augenschein: Gott bleibt sich und
deshalb auch uns treu, abzulesen z. B. an der Wolke der Zeugen.

3. Ich komme zum nächsten Aspekt der Worte für den heutigen
Sonntag: zu dem des Laufens. „Lasst uns laufen mit Geduld in dem
Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger
und Vollender des Glaubens.“ Besonders diejenigen, die selber gerne
laufen, wissen darum: Wichtig ist die richtige Einstellung, und ebenso
wichtig ist die nötige Kondition. Wer die nicht mitbringt, braucht
gar nicht erst anzutreten.

3.1. Da wird zunächst die Geduld genannt, ein Begriff, der heutzutage
und vielerorts nicht gerade hoch in Kurs steht! Geduldig will und darf
kaum jemand sein, höchstens die Alten. Was zählt, ist Beschleunigung.
Und nicht ohne Grund antworten wir schnoddrig auf manche Terminanfrage:
am besten schon gestern! Wir können nur schwer darauf warten, bis
sich etwas entwickelt: Das Abitur am besten schon mit 17, den Osterhasen
bereits Ende Januar und den frischen Spargel seit Wochen. Beschleunigung
ist geradezu zu einem Markenzeichen unserer Tage geworden. Doch die Frage
sei erlaubt: Was bleibt dabei nicht alles auf der Strecke? Hat nicht auch
die geduldige Erwartung ihren tiefen Sinn? Ist nicht bei mancherlei Anlass
die Geduld nach wie vor eine große Tugend? Deshalb wehe denen, die
dabei in Ungeduld fallen: bei der Begleitung von heranwachsenden Kindern,
beim Umgang mit hinfällig gewordenen Alten, beim langsamen Reifen
einer Liebe, bei der langwierigen Genesung und ebenso beim Wachsen des
Glaubens. Von Kaiser Konstantin wird berichtet, er habe sich erst auf
dem Sterbebett taufen lassen. Wenn da auch andere Gründe eine Rolle
gespielt haben, so wird gleichwohl deutlich, wie wichtig diese Dimension
des Lebens ist. Schon im Alten Testament heißt es: „Ein Geduldiger
ist besser als ein Hochmütiger“ (Prediger Salomo 7,8) oder auch:
„Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein“ (Klagelieder
3,26). Ja, Gott selbst wird mit Geduld in Verbindung gebracht. Wie könnte
er auch anders mit seinen Geschöpfen in Kontakt bleiben? Wir lesen
dazu: „Der Herr ist geduldig und von großer Kraft“ (Nahum
1,3) oder: „Er ist geduldig und von großer Barmherzigkeit“
(4. Mose 14,18). Deshalb noch einmal der Aufruf an uns: „Lasst uns
laufen mit Geduld“! Schließlich hat Gott uns genau das Maß
an Zeit gegeben, das wir brauchen.

3.2. Und noch eines ist wichtig im Lebens-Lauf der Christen, nämlich
das Wissen um seine Richtung. Einfach drauflos laufen ist deshalb nicht
angesagt. Das führt in die Irre und macht höchstens müde.
Die Richtung muss schon stimmen, wenn wir uns auf den Weg machen. Von
wem aber lassen wir Sie uns vorgeben? Wer oder was bestimmt unser Ziel?
Zu wem wollen wir aufsehen? Es sind heute so wahnsinnig viele unterwegs,
die dabei „hierhin“ oder „dahin“ rufen und gerade
ihren Weg als Königsweg preisen. Die Qual der Wahl ist groß.
Sinnangebote gibt es zuhauf, so dass der Zielkonflikt längst vorprogrammiert
ist.

In unserem Bibelwort heißt es deswegen eher bescheiden: „Lasst
uns … aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens.“
Das ist alles andere als Erfüllung jetzt oder Vollendung pur. Und
doch ist dieses Aufsehen Bedingung – auf lateinisch: Kondition – für
das Bestehen unseres Laufes. Der Schreiber des Briefes gaukelt den Hebräern
nicht das Paradies auf Erden vor wie manch andere selbsternannten Glücks-
und Heilsbringer. Für ihn ist klar: Die Wartezeit ist nicht beendet.
„Jerusalem, die hochgebaute Stadt“ liegt nicht vor den Füßen
und ist auch nicht mit Händen zu greifen. Das himmlische Jerusalem
bleibt Verheißung. So richtet sich der Blick auf Jesus auch beileibe
nicht nur auf den, der mit Palmzweigen in die Hauptstadt einzieht und
wie ein König gefeiert wird. Nein, es muss schon der ganze Jesus
in den Blick kommen. Die vor uns liegende Karwoche erinnert uns daran:
vom Palmenstreuen geht es weiter über den abgrundtiefen Zweifel im
Garten Gethsemane bis zu der erbarmungswürdigen Szenerie auf Golgatha.
Doch das alles hat auf Jesu Weg nicht das letzte Wort. Denn das letzte
Wort ist – Gott sei Dank! – die Freude an Ostern, ist die endgültige
Bestätigung seiner Botschaft. Deshalb bleibt unsere Hoffnung auf
ihn nicht leer: Sie richtet sich mit gutem Grund an alle Welt und gibt
auch uns die Richtung unseres Laufes vor. Und deshalb gilt auch aktuell
der alte Trost, „damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken
lasst“. So macht es Sinn, auf diesem eingeschlagenen Weg zu bleiben.
So tut es gut, unser Leben an dem auszurichten, der der Anfänger
und Vollender des Glaubens ist.

Amen.

Oberlandeskirchenrat Jürgen Jüngling, Kassel
E-Mail: landeskirchenamt@ekkw.de

 

 

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