Hebräer 4,12-13

Hebräer 4,12-13

„Lebendig und kräftig und schärfer“ | Sexagesimae | 20. 2. 2022 | Hebr 4,12-13 | Dörte Gebhard |

Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.        

Liebe Gemeinde

Der Predigttext steht im Hebräerbrief im 4. Kapitel. Ich lese die Verse 12 und 13:

12 Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. 

13 Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.

      I Wie wuchtig können Worte sein?

Scharf wie ein zweischneidiges Schwert, nein, sogar schärfer. 

Wie wuchtig Worte sein können, schauen wir zuerst bei uns selbst nach. Wir machen einen Selbstversuch über Tadel und Lob. 

Überlegen Sie jetzt gleich, in der nächsten Minute, in der ich still bin, wann Sie einmal ernsthaft und hart ermahnt wurden. Nicht irgendein Genörgel, dass Sie hoffentlich schnell wieder vergessen haben. Nicht irgendeine Beanstandung, weil es zuvor ein kleines Missverständnis gab. Gedacht ist an einen grossen Tadel, der diesen Namen verdient. Keine Angst, auf keinen Fall muss es nachher mit dem Nachbarn in der Bankreihe ausgetauscht werden. Wann wurden Sie einmal berechtigt und «fadegrad» getadelt?

* Denkzeit im Stillen

Mir persönlich fallen mehrere Situationen ein. Wenn ich zurückdenke, dann kann ich bis heute körperlich spüren, wie es mir da durch Mark und Bein gegangen ist, als ich zugeben musste: ‘Du hast Recht! Ich habe versagt.’ 

Es zieht durchs Herz. Der Magen dreht sich. Die Knie zittern.

Worte sind wuchtig. Die guten Worte sind es auch.  

Überlegen Sie jetzt, in der nächsten Minute, in der ich wieder schweige, wann Sie einmal herzlich und ehrlich gelobt wurden. Möglicherweise ganz unerwartet. Nicht irgendein Lobgehudel aus Höflichkeit, weil es sich so gehört. Nicht irgendein Gefloskel, weil eine Schmeichelei fällig war. Natürlich geht es wieder die Nachbarin in der Bankreihe nichts an. Denken Sie an ein grosses Lob, das Sie bekommen haben.

* Denkzeit im Stillen

Die Wucht der guten Worte ist bei Ihnen hoffentlich ebenso gross. Spüren Sie wieder die Überraschung und die Freude wie seinerzeit? Haben Sie eben vor sich hingelächelt? Hat sich Wärme in der Herzgegend ausgebreitet? Ist Ihnen dankbar zumute?

Das alles haben ein paar wenige Worte gewirkt! 

Es ist gut, sich diese Kraft bewusst zu machen. Denn oft sind wir fest überzeugt, unsere Worte seien ohnmächtig und führten ohnehin zu nichts. 

Dann sagen wir eine Menge Wörter, leichtfertig, obenhin, machen Bemerkungen, geben Kommentare ab und denken, all das macht doch nichts. Weit gefehlt, das alles macht viel! 

Schon das, was nur so dahingesagt ist, wirkt gewaltig. Es muss gar nicht millionenfach durch die virtuelle Welt geistern. Aber dann verstärkt sich die Wirkung von wenigen Worten natürlich noch immens. 

Vor knapp 200 Jahren schrieb Gustav Adolf Friedrich Sickel in seiner Anleitung zum geistlichen Fischfang, dass dafür gar nichts anderes mehr übrigbleibt als nur das Wort. Nur mit der Predigt können es Geistliche noch versuchen. Alles andere, was Jesus noch tat und konnte, stehe nicht mehr zur Verfügung, um Seelen selig zu machen.[1] Liest man bei Sickel zwischen den Zeilen, leuchtet ein «leider» auf. Leider seien nur die Worte geblieben, leider haben wir keine anderen Möglichkeiten mehr.

Aber Worte von Gott sind genügend lebendig, kräftig und scharf. Ist es nicht ein Segen, dass wir fast nur Worte haben? Dass auch Jesus Christus sich fast ganz auf die Wucht der Worte verliess? Wir haben von ihm keine Bilder, keine Filme, nur wenige Gesten und ausser Taufe und Abendmahl kaum etwas Auffälliges. Im Wesentlichen sind Worte überliefert, «aber was für Worte!» [2]  So beschreibt es Christoph Dinkel treffend und tröstlich. 

Der Kraft der Worte ist zu trauen. 

        II Wenn Worte Waffen werden

Das Bild vom zweischneidigen Schwert, das im Hebräerbrief ausgemalt wird, ist mindestens missverständlich. Ausdrücklich wird betont, dass Gottes Wort lebendig und nicht tödlich ist. Aber haben das alle gehört? Hat es wenigstens die Hälfte verstanden? Wie oft und wie schnell ging es in der Geschichte unter dem Vorwand von Gottes Wort brutal und gewalttätig zu? Wie oft hat man mehr als ein zweischneidiges Schwert genommen, um Andersgläubige zu töten? 

Natürlich hantiert niemand von uns regelmässig mit einem zweischneidigen Schwert herum. Aber wir wissen genau, wie das geht, wenn sich Worte in Waffen verwandeln. 

Das geschieht, wenn Menschen auf die alte Schlange hören. Sie hatte gleich am Anfang Adam und Eva versucht und versprochen: «Ihr werdet sein wie Gott!» (Gen 3,5). Wer das glaubt, glaubt auch bald einmal, das eigene Wort sei Gottes Wort. Dann kommen sie daher als Pharisäer oder Inquisitoren oder Rechthaberinnen und machen ihre eigenen Absolutheitsansprüche geltend. 

Wie das geht? 

Wenn Jesus Christus spricht «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben …», sind manche allzu schnell überzeugt, sie haben die Wahrheit. Sie wissen den Weg. Sie entscheiden über Leben – und Tod. 

Ein fataler Fehler. Ein gefährlicher Irrtum. Ein häufiger Trugschluss.

Der Gedanke vom zweischneidigen Schwert ist missverständlich und wurde oft missbraucht. Dennoch ist er zu etwas gut, denn:

      III Worte dringen durch und durch

Das haben wir am Anfang der Predigt am eigenen Leibe nachvollzogen, wie eindringlich Worte sein können. Im Bösen wie im Guten. 

Worte, schärfer als zweischneidige Schwerter, scheiden die Geister, unterscheiden gut und böse. 

Aber nicht Menschen werden unterschieden, hier die Guten, da die Bösen, die einen zur Rechten, die anderen zur Linken. Oder einerseits die Gläubigen, andererseits die Ungläubigen. Oder dort die, die zu tadeln sind und hier jene, die zu loben sind. So einfach ist es nicht! 

Genau diese Aufteilung gilt nicht, sondern in mir muss unterschieden werden. In mir sind gut und böse daheim. Zu beidem bin ich fähig. Ich bin die, die getadelt und gelobt wird. Beides. 

Damit ich geeignet werde für Gottes Ewigkeit, sind wahrlich einschneidende Veränderungen in mir vonnöten: Mitten durch Seele und Geist, durch Mark und Bein, durch Gedanken und Sinne des Herzens

Die wenigsten von uns sind zwar Chirurginnen und Chirurgen, aber nicht wenige wurden mindestens schon einmal oder sogar öfter operiert. Wenn es etwas Böses, einen Tumor etwa, zu entfernen gilt, muss das Skalpell scharf sein. Übrigens bin ich froh, dass nicht mit sperrig-schweren, zweischneidigen Schwertern operiert wird, sondern mit scharfen, kleinen Messern, die präzise Schnitte erlauben. 

Das Böse muss heraus, damit das Gute Platz hat. Das ist so schmerzhaft, dass die Betäubung erfunden wurde. Bei Gott aber müssen wir ohne Narkose durch. Bei Gott können wir auch nicht wegschauen. Bei Gott können wir auch nichts verstecken. 

Es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.

      IV Wer tadelt und wer lobt? Wer richtet?

Solche Verse aus dem Hebräerbrief sucht man sich nicht als erstes aus, wenn man einen Gottesdienst vorbereitet. Auf christlichen Wandkalendern mit hohen Wasserfällen und weiten Aussichten liest man diese Worte kaum. In die engere Auswahl für Konfirmandensprüche kommen sie wohl auch nicht. 

Aber immer wieder strecken Prediger und Predigerinnen den Zeigefinger wie ein zweischneidiges Schwert aus. Sie zeigen erst auf die Leute und dann auf Gott, der nicht einfach freundlich und wohlgesinnt, lieb und nett sei, sondern hart und streng richte und regiere. Der auch noch eine andere Seite habe … Dass man sich nicht täuschen solle … 

Ich glaube das nicht! Wir Menschen haben zwei zu unterscheidende Seiten in uns. Gott nicht. Uns Menschen muss es messerscharf durch Geist und Seele, durch Mark und Bein fahren. Gott nicht.

Kehren wir an den Anfang zurück und jeder und jede frage bei sich ein drittes Mal nach: Wer hat mich getadelt? Wer hat mich gelobt? Wer war das?

*Dritte, kürzere Zeit im Stillen

Einen Tadel und ein Lob nehmen wir uns nur zu Herzen von jemandem, der uns wichtig ist. Wenn die Person, die etwas sagt, uns viel bedeutet. Behaupten möchte ich: Ich nehme Tadel und Lob überhaupt nur ernst von jemandem, den ich mag, den ich liebe. Sonst könnte es mir egal sein. Gleichzeitig werden wir – ernsthaft – nur von jemandem getadelt oder gelobt, der es gut mit uns meint. Sonst könnte es dem Gegenüber doch völlig egal sein. 

Gott offenbart, was herausgeschnitten werden muss. Gott scheidet die Geister, das Böse vom Guten, weil er uns liebt. Sonst könnte es ihm egal sein.

Aber es ist ihm nicht egal. Darum kommt er zur Welt mit seinem Wort, lebendig, kräftig und schärfer als wir denken. 

Weil wir es nötig haben.                                                                                  

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen. 

Predigt am 20. 2. 2022 über Hebr 4, 12-13 „Lebendig und kräftig und schärfer“ in der Reformierten Kirche in Schöftland/Schweiz um 9.30 Uhr

Pfarrerin Dörte Gebhard 

[1]  Vgl. Sickel, Gustav Adolf Friedrich: Grundriß der christlichen Halieutik oder einer auf Psychologie und Bibel gegründeten Anweisung durch Predigten die Menschen für das Reich Gottes zu gewinnen. Nach den Bedürfnissen der Zeit für Candidaten des Predigtamtes und jüngere Prediger bearbeitet, Leipzig 1829, S. 4.

[2] Dinkel, Christoph: Der evangelische Kult ums Wort, EvTh 67, 2007, 388–393, S. 393.

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