Hebräer 4,12f.

Hebräer 4,12f.

Der scharfe Schnitt | Sexagesimae | 20.02.2022 | Hebr. 4,12f. | Dietz Lange |

Liebe Gemeinde!

Diese Sätze sind eine Zumutung. Sie klingen grausam und brutal. Da wird das Wort Gottes mit einem zweischneidigen Schwert verglichen, das Leib und Seele des Menschen mittendurch schneidet. Anscheinend stellt sich der Schreiber Gott als eine Art Scharfrichter vor. Ist das überhaupt ein christlicher Gedanke? Wir denken ihn uns doch viel freundlicher. Wir sprechen von Gott als wohlmeinendem Begleiter in allen Lebenslagen. Wir glauben, dass wir uns immer an ihn wenden können, wenn wir in Schwierigkeiten sind. Wir predigen Sonntag für Sonntag von Gottes unendlicher Liebe und Güte. Und nun Gott als Henker? Hatten etwa die mittelalterlichen Ketzerrichter Recht, wenn sie Menschen köpfen oder auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließen? Ein paarmal war das übrigens auch auf evangelischer Seite der Fall! Da ist doch sogar der weltliche Staat in unserem Land menschlicher, denn er hat die Todesstrafe längst abgeschafft.

Das zweite Bild ist nicht viel sympathischer. Da wird uns Gott wie ein auf äußerste Genauigkeit bedachter Untersuchungsrichter vorgestellt, vor dem nichts verborgen bleibt. Er deckt all unsere sorgsam gehüteten Geheimnisse auf. Selbst die harmlosesten kleinen Mogeleien zieht er ans Licht. Wir sind ihm nackt und schutzlos preisgegeben. Auch hier ist der menschliche Staat offenbar menschlicher, jedenfalls in einer Demokratie. Denn er hat strenge Gesetze zum Datenschutz erlassen, damit möglichst niemand unsere Privatsphäre antastet. Selbst in unseren persönlichen Beziehungen hat jeder von uns ein paar Ecken, in die wir niemanden hineinblicken lassen. Wenn ein enger Freund mich bloßstellen sollte, wäre die Freundschaft am Ende. Ist Gott wirklich einer, der uns keine Privatsphäre gönnt?

Die Antwort auf all diese Fragen ist: Der Schreiber will uns bewusst schockieren. Er will uns einschärfen, dass Gott nicht wie ein etwas vertrottelter alter Mann ist, der den Überblick verloren hat und deshalb die Dinge einfach laufen lässt. Wir müssen ihm in der Tat für alles Rede und Antwort stehen. Aber solche Strenge ist nicht zu verwechseln mit Grausamkeit. Vielmehr übt er sie gerade deswegen aus, weil er unser Wohl will. Das zeigt der Anfang unserer Briefstelle. Da heißt es: Das Wort Gottes ist lebendig und wirksam. Gott wirkt das Leben, denn er ist unser Schöpfer und der Schöpfer der Welt. Er will dieses Leben erhalten. Weil wir ihm dabei immer wieder mit unserer Achtlosigkeit oder sogar unserer Bosheit im Wege stehen, bedarf es seiner harten Hand.

Wir dürfen durchaus unser Leben dankbar genießen. Nur soll das keinesfalls auf Kosten der uns geschenkten Leistungsfähigkeit gehen, und schon gar nicht auf Kosten eines Mitmenschen. Damit das nicht passiert, weist uns Gott den Weg, den wir gehen sollen. Dafür sind wir ihm zu Dank verpflichet, aber auch Rechenschaft schuldig. Dazu gehört die völlige Offenheit, von der wir gehört haben. Die hat nichts mit bösartiger Verletzung unserer Privatsphäre zu tun, sondern im Gegenteil mit Vertrauen. Unter Menschen ist es in Ordnung, wenn auch das größte Vertrauen manchmal Grenzen haben muss, weil Menschen nicht unbegrenzt vertrauenswürdig sind. Das ist bei Gott anders. Dass er alles sieht, auch die geheimsten Winkel unserer Seele, das muss uns nur dann Angst machen, wenn wir ein schlechtes Gewissen haben. Wenn wir dagegen Gott grenzenlos vertrauen, dann stellen wir ihm bedenkenlos und gern alles anheim, ganz besonders die vertrackten Situationen, in denen wir das Gefühl haben: Wie auch immer ich handle, irgendwie wird es falsch sein, was dabei herauskommt. Entweder fühlt mein Sohn sich zurückgesetzt, oder meine Tochter ist tief verletzt. Dann kann ich darauf vertrauen, dass Gott am Ende doch etwas Gutes daraus machen wird.

Freilich, meine Entscheidung nimmt mir Gott nicht ab. Darauf bezieht sich das zweischneidige Schwert in unserem Text. Die zwei Schneideflächen bedeuten: In jedem menschlichen Leben gibt es immer wieder Situationen, in denen wir nicht neutral bleiben können, sondern uns die Hände schmutzig machen müssen. Einfach nur willenlos alles über sich ergehen lassen, darf nur ein Baby oder jemand, der aus gesundheitlichen Gründen zu Entscheidungen nicht in der Lage ist. Da ist dann die Verantwortung der Angehörigen umso größer, die stellvertretend handeln müssen. Wir anderen kommen um Entscheidungen nie herum. Manchmal kann ich sie nur nach bestem Wissen und Gewissen fällen. Wenn die Sache trotzdem den befürchteten schlimmen Ausgang nimmt, muss ich auf Gottes Vergebung hoffen. Gerade dann ist das unbedingte Vertrauen auf Gott schlechterdings lebenswichtig.

Anders als unter Menschen kennt die Entscheidung für oder gegen Gott keine Grauzone und kein Zwielicht. Das macht der größere Zusammenhang im Hebräerbrief deutlich, in dem unser Predigttext steht. Da vergleicht der Schreiber seine Gemeinde mit dem Volk Israel, das nach dem Ausbruch aus Ägypten durch die Wüste wanderte. Gott hatte die Israeliten unerwartet glücklich aus der Unfreiheit herausgeführt. Darum war es klar, dass sie sich jetzt weiterhin seiner Leitung anvertrauen mussten. Weil aber die Wanderung so lange dauerte, verloren sie die Geduld, hielten trotzig an und wollten nicht weiter. Aber der Preis wäre die zwangsweise Rückkehr nach Ägypten gewesen. Das hätte die Fortsetzung der Sklaverei auf unabsehbare Zeit bedeutet, wahrscheinlich sogar eine Verschärfung ihrer Bedingungen. Da blieb nur übrig, im Vertrauen auf Gott weiterzuwandern.

Gott hat Israel aus Ägypten herausgeführt. Dazu gibt es in der deutschen Geschichte Parallelen. Gott hat uns aus Hitlers verbrecherischem Regime und aus der DDR-Diktatur herausgeführt. Natürlich ist die Demokratie, die an deren Stelle getreten ist, nicht das Paradies auf Erden. Sie ist, wie Winston Churchill einmal gesagt hat, „die schlechteste aller Staatsformen, außer all den anderen, die man ausprobiert hat“. Demokratie ist anstrengend. Aber auch hier gibt es eine klare Alternative: Entweder wir geben uns weiterhin alle Mühe, dass die Menschen in unserem Land einigermaßen unbehelligt von Hass leben können, oder wir lassen eine Rückkehr zu Diktatur und Willkür zu, wie sie unseren rechten und linken Extremisten vorschwebt und wie es heute ein auf der ganzen Welt verbreiteter Trend ist.

Aber nicht nur im Großen, sondern auch und vor allem als Privatmenschen sind wir Christen ein „wanderndes Gottesvolk“ wie einst die Israeliten. Hier steht uns noch viel deutlicher als in der Politik  das Ziel unseres Lebens vor Augen, den ganzen Zwiespalt und unsere ungelösten Lebensprobleme loszuwerden. Wir wollen endlich ganz unbelastet von Leid und Schuld bei Gott aufgehoben sein, so dass uns keine Enttäuschung und kein Zweifel mehr von ihm trennt. „Es ist noch eine Ruhe vorhanden bei Gott“, verspricht uns der Hebräerbrief und erinnert damit an den jüdischen Sabbat als das Ziel der Schöpfung. Aber dieser Sabbat ist noch nicht gekommen, solange unser irdisches Leben noch weitergeht. Wir befinden uns immer noch in der Arbeitswoche und müssen uns deswegen täglich entscheiden, ob wir auf Gottes Weg weitergehen wollen. „Ein Christ ist immer im Dienst“, wie das Lebensmotto des früheren Bischofs von Berlin, Otto Dibelius, lautete.

Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit, wie Dibelius selbst durchaus wusste. Er war ein knorriger Preuße ganz alten Schlages, aber einer, der das Evangelium verinnerlicht hatte. Das Leben eines Christenmenschen hat er sich nicht als freudloses Abhaken lästiger Pflichten vorgestellt. Vielmehr war ihm klar: „Gottes Wort ist lebendig und wirksam“, wie es in unserem Textabschnitt heißt. Das Wort Gottes fordert nicht bloß, sondern es wirbt zugleich dafür, dass wir uns der Leitung durch seinen Geist mit Haut und Haar anvertrauen. Tun wir das, so wird Gott in unserem Innersten zu einer wirkmächtigen Kraft. Offenheit ihm gegenüber ist dann nicht mehr mit Angst vor Bloßstellung und Blamage verbunden, sondern sie ist ein Gefühl grenzenloser Geborgenheit. Aus dem gefürchteten Scharfrichter und dem alles aufdeckenden Untersuchungsrichter wird dann der ernste, aber absolut verlässliche Lenker unseres Lebens. Aus dem Arbeitsüberdruss wird Arbeitsfreude.

Freilich hängt alles daran, dass wir unter Gottes Führung auf dem Wege bleiben. Das gilt für uns alle, auch für uns Ruheständler. Wir sind zwar von der Pflicht zur Berufstätigkeit befreit und haben das hoffentlich redlich verdient. Auf unsere alten Tage sagen wir dankbar mit dem Kirchenlied, das wir gleich singen werden: „Bis hierher hat mich Gott gebracht“, und das ist recht so. Aber das Lied geht ja dann nicht weiter mit „Und jetzt nehme ich ewigen Urlaub von Gott“, sondern: „Hilf fernerweit, mein treuster Hort, hilf mir zu allen Stunden“. Wir müssen entscheiden: Sitze ich nur noch auf dem Sofa und lasse mich hängen, oder vertraue ich mich auch auf den letzten Metern meiner irdischen Wanderschaft wach und aktiv der Führung Gottes an, der mich weiter in seinem Dienst haben will. Es gibt auch in unserem kleiner gewordenen Umkreis Menschen, die Unterstützung durch unsere Lebenserfahrung brauchen. Wenn das nicht mehr der Ehemann oder die Ehefrau ist, dann jedenfalls Kinder und Enkel oder auch ein Fremder, der uns unerwartet begegnet. Manchmal genügt schon ein geduldiges Zuhören und Verschwiegenheit. Gott will, dass wir unterwegs bleiben, so lange bis er unsere Kraft endgültig zur Neige gehen lässt. Dann ist die „Ruhe bei Gott“ in seinem Reich nahe.

                                                                                                                                                         Amen.

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Prof. em. Dr. Dietz Lange

Göttingen

E-Mail: dietzclange@online.de

Dietz Lange, bis 1998 Professor für Systematische Theologie in Göttingen, seit 1988 ehrenamtlicher Prediger an St. Marien ebendort.

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