Heilende demokratische Prozesse

Heilende demokratische Prozesse

Predigt zu Apostelgeschichte 6,1–7 | verfasst von Rainer Kopisch |

Liebe Gemeinde,

Als Pfarrer neu in meiner Stadtgemeinde erhielt ich nach den Gottesdiensten auch Wünsche für meine Predigten.

„Ich möchte aus dem Gottesdienst bestätigt mit neuer Kraft und Zuversicht für die Woche nachhause gehen können“ sagte mir eine ältere Dame nach einem Gottesdienst. Ich erinnere mich noch gut. Sie war wie Mütter ihrer Generation liebevoll und fordernd. Sie sorgte für sich selbst und meldete ihre Bedürfnisse deutlich an. Das war wichtig für sie und für mich als Hauptverantwortlicher in der Gemeinde.

Nun ist es nicht einfach, in einer Gemeinde alle Bedürfnisse zu kennen und auf Wünsche zu reagieren. Das war sicher schon immer so.

In der Geschichte des Predigttextes erzählt Lukas aus der Jerusalemer Urgemeinde. Es geht um die Bedürfnisse der Witwen der griechischen Juden in der Gemeinde, an denen man bei der Versorgung vorbeisieht. So die Wortwahl des Lukas.

Ich lese aus der Apostelgeschichte des Lukas im Kapitel 6 die Verse 1-7:

1 In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. 2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. 3 Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. 4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. 5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia. 6 Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf. 7 Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.

Lukas erzählt eine Geschichte von der erfolgreichen Lösung eines kritischen Problems in der Urgemeinde in Jerusalem. Der Erfolg wurde möglich durch die Einsicht der zwölf Apostel in die Grenzen ihrer Arbeitsbelastung und ihren Entschluss, Verantwortung für das Zusammenleben in der Gemeinde abzugeben und die notwendigen Maßnahmen dazu zu treffen. Dieser notwendige Schritt war die Wahl von sieben Männern, die Dienste  in der Gemeinde zur Entlastung der Apostel übernehmen sollten.

Der Berliner Historiker Werner Dahlheim hat sich in seinem lesenswerten Buch „Die Welt zur Zeit Jesu“ auch diese Geschichte angesehen.

Als Historiker hat er natürlich einen besonderen Blick für das Geschehen, in dem Menschen Probleme lösen, die Bedeutung für die Zukunft bekommen. Dahlheim weist zunächst darauf hin, dass Lukas sein Evangelium und die Apostelgeschichte in einer Zeit schreibt, als die christliche Gemeinde in Jerusalem nicht mehr existierte. Er schreibt: „Wer wie Lukas am Ende des Jahrhunderts auf die inzwischen untergegangene Gemeinde in Jerusalem zurückblickte, sah, was es nie gegeben hatte: Dort sollte eine ideale Gemeinschaft gelebt haben, in der jeder mit jedem teilte, was er hatte.

So war es gerade nicht gewesen. Die später beschworene Harmonie verdeckt nur notdürftig die schweren Konflikte, welche die Gemeinde schon in den ersten Jahren spalteten.“ Dann widmet sich Dahlheim dem Konflikt zwischen den hebräischen und den griechischen Christen. Das Murren über das Übersehen der griechischen Witwen scheint ihm nicht der Grund für den eigentlichen Konflikt zu sein. Dahlheim hält es eher für wahrscheinlicher, „dass es  Streit um den täglichen Besuch des Tempels gab, den die Judenchristen nicht aber die Hellenisten pflegten.

Er schreibt weiter: „Was auch immer den Konflikt auslöste, sein Ergebnis war folgenreich. Die Hellenisten wählten sich eine eigene Leitung aus sieben Mitgliedern, die dem Kreis der zwölf entgegen trat. Sie richtete eine eigene Witwenversorgung ein, und sahen sich fortan mit eigener geistlicher Autorität ausgestattet. Damit spalteten sich die Gläubigen in zwei Gruppen, die sich sozial und sprachlich deutlich voneinander abgrenzten und ein grundsätzlich unterschiedliches Verständnis vom Tempel pflegten: für den einen war der tägliche Tempelbesuch Herzenssache, die anderen kritisierten den blutigen Tempelkult als <Vergehen gegen den Heiligen Geist>. Sie – und nur sie – trieb der Zorn der jüdischen Behörden aus Jerusalem und ihr Anführer Stephanus starb den Märtyrertod.“ Soweit der Historiker Werner Dahlheim.

Liebe Gemeinde,

ich will den historischen Rückblick auf die die Urgemeinde in Jerusalem verlassen. Was in ihr an theologischer Entwicklung in Verbindung mit dem Heiligen Geist begann, trägt den christlichen Glauben und die Theologie bis in unsere Tage.

Glaubensspaltungen zwischen christlichen Gruppen hat es von Anfang an gegeben. Der Ausdruck „Ringen um den rechten Glauben“ ist uns aus der eigenen Kirchengeschichte geläufig. Menschengruppen wurden wegen ihres Glaubens aus ihrer angestammten Heimat vertrieben. Der Dreißigjährige Krieg war ein Krieg von Herrschern, die mit unterschiedlichen christlichen Glaubensgemeinschaften verbunden waren, um die Vorherrschaft des jeweils rechten Glaubens in einem möglichst großen Gebiet. Natürlich waren die Herrschaftsstrukturen andere als wir sie heute in unserer eigenen Demokratie finden.

Bei uns ist die Abhaltung fairer und gerechter Wahlen selbstverständlich zur Vergabe von Verantwortung und Befugnissen.

Angesichts der teilweisen undemokratischen Machtstrukturen in der Welt und dem teilweise willkürlichen Umgang mit der Freiheit der Demokratie halte ich es gerade in unserer heutigen Zeit als geboten, unsere Verantwortung für die in der Gegenwart entstehende Geschichte wahrzunehmen und uns der Verantwortung für die Zukunft gegenwärtiger und künftiger Generationen zu stellen.

Wir tragen als Christinnen und Christen auch eine bürgerliche und mitmenschliche Verantwortung für das Zusammenleben der Menschen in dieser Welt. Diese Verantwortung sollten wir als immer wiederkehrende Gelegenheit ansehen, unsere tatsächliche Verbundenheit mit Gott zu praktizieren. Was in der Zeit der ersten Christengemeinden möglich war, kann uns auch heute möglich sein.

Sie werden den bekannten Text aus der heutigen Epistellesung noch im Ohr haben: „Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Das ist eine deutliche und klare Aussage.

Wie vergegenwärtige ich mir diese Liebe und wie kann ich feststellen, dass ich dabei auf dem richtigen Weg bin? Der Apostel Paulus schreibt im dreizehnten Kapitel des ersten Korintherbriefes, dem Hohen Lied der Liebe, wie wir Menschen bei allen Erfolgen ohne Liebe nichts sind.

Es folgt eine Liste von Eigenschaften der Liebe, die ich Ihnen jetzt nicht vorlesen möchte. Diese Eigenschaften sind wichtig für das eigene Verhalten bei Begegnungen mit Menschen.

Schreiben Sie doch mal in Ruhe zuhause in einer Liste, was Liebe ist und was sie nicht ist. Erinnern Sie sich dabei auch an Ihre eigenen Erfahrungen. Sie werden erkennen, dass Liebe sehr lebendig ist und dass sie bei aller Zartheit eine große Kraft hat.

An Ihre Bedeutung erinnert Paulus am Schluss mit den beiden Sätzen: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Manche Brautpaare wünschen sich diese Worte als Trauspruch. Sie wünschen sich Gott als Begleiter auf Ihrem gemeinsamen Weg.

Diese erwünschte Begleitung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere eigene Verantwortung in unserem Tun und Lassen sichtbar werden muss.

Gelingende Beziehungen zwischen Menschen lassen Platz für das Wachsen der Liebe.

Für das Leben der Christinnen und Christen in Gemeinschaften ist wichtig, was Jesus im Johannesevangelium in den Versen 34 und 35 von Kapitel 13 zu seinen Jüngern sagt:

„Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Und daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“

Die Jünger werden nach dem Tod Jesu mit dem Pfingstfest Apostel und leiten die Gemeinde in Jerusalem. Wie diese verantwortliche Leitung geschieht und an einer entscheidenden Stelle gelingt, davon gibt uns Lukas einen Eindruck.

Hier wird Demokratie an ihrer empfindlichsten und kräftigsten Stelle praktiziert nämlich in freien und gerechten Wahlen für eine Zukunft, in der Platz ist für gesunde Wachstums- und Entwicklungsprozesse.

Die Wege der Christinnen und Christen aus den ersten Gemeinden bis hin in unsere Zeiten sind immer Wege mit Gott gewesen.

Die Zeichen der Anwesenheit Gottes wird bei Menschen manchmal für andere Menschen erlebbar. Von Stephanus heißt es im Text: Er war voll Glaubens und Heiligen Geistes.

Ich wünsche Ihnen liebevolle Begegnungen mit Gott und Menschen.

Amen

Pfarrer i. R. Rainer Kopisch


Zur Erstellung der Exegese des Textes habe ich das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament von Kittel in der ersten Auflage und die Interlinearübersetzung von Ernst Dietzfelbinger in der dritten Auflage benutzt.

Zur Sicht auf die Geschichte hinter dem Predigttext habe ich das Buch von Werner Dahlheim, Die Welt zur Zeit Jesu, benutzt und aus den Seiten 92 und 93 zitiert.


Rainer Kopisch, Pfarrer in Ruhe der Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig, Seelsorger mit logotherapeutischer Kompetenz, letztes selbstständiges Pfarramt: Martin Luther in Braunschweig, in der Vergangenheit: langjähriger Vorsitzender der Vertretung der Pfarrer und Pfarrerinnen in der Landeskirche, Mitglied in der Pfarrervertretung der Konföderation der Landeskirchen in Niedersachsen, Mitglied in der Pfarrvertretung der VELKD, Mitglied in der Fuldaer Runde.

Roonstr. 6
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rainer.kopisch@gmx.de

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