«Wie ähnlich sind Schöftland und Jerusalem?»

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«Wie ähnlich sind Schöftland und Jerusalem?»

Predigt über Apg 6,1-7 in der Reformierten Kirche Schöftland | verfasst von Dörte Gebhard |

Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde

Die Gemeinde ist ziemlich gross, ein wenig unübersichtlich. Nicht jeder kennt jede, dazu sind es auch zu viele. Und man hat natürlich seine Vorlieben und damit seine Lieblingsgruppen und -kreise.  Aber eine grosse Zahl von Mitgliedern engagiert sich, freiwillig, zum Glück, denn es gibt mehr als genug zu tun. Dazu kommen noch jeden Monat die vielen Neuzuzüger, die Täuflinge …

Nein, auch wenn es Ihnen so vorkommt: Ich erzähle nicht nur von unserer Kirchgemeinde, sondern zugleich auch von Jerusalem, wie es Lukas in der Apostelgeschichte schildert. Die Gemeinde dort ist erst ungefähr 50 Jahre alt, nicht so altehrwürdig wie wir mit unseren ungefähr 1400 Jahren. Aber manches ähnelt sich gewaltig. Vielleicht können wir als «uralte» Gemeinde heute von der jungen Gemeinde damals noch etwas lernen. Bald sind wir schlauer!

Lukas erzählt von Spannungen in der Jerusalemer Gemeinde, vor allem aber von spannenden Lösungen. Wir hören aus der Apostelgeschichte den Anfang des 6. Kapitels:

Die Wahl der Sieben

1 In diesen Tagen aber, als die Jünger immer zahlreicher wurden, kam es dazu, dass die Hellenisten unter ihnen gegen die Hebräer aufbegehrten, weil ihre Witwen bei der täglichen Versorgung vernachlässigt wurden.  2 Die Zwölf beriefen nun die Versammlung der Jünger ein und sprachen: Es geht nicht an, dass wir die Verkündigung des Wortes Gottes beiseitelassen und den Dienst bei Tisch versehen. 3 Seht euch also um, Brüder, nach sieben Männern aus eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geist und Weisheit sind; die wollen wir einsetzen für diese Aufgabe. 4 Wir aber werden festhalten am Gebet und am Dienst des Wortes.  5 Der Vorschlag gefiel allen, die versammelt waren. Und sie wählten Stephanus, einen Mann erfüllt von Glauben und heiligem Geist, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, einen Proselyten aus Antiochia, 6 führten sie vor die Apostel, und diese beteten und legten ihnen die Hände auf.  7 Und das Wort Gottes breitete sich aus, und in Jerusalem wuchs die Zahl der Jünger stetig; auch ein grosser Teil der Priester wurde dem Glauben gehorsam. 

Die Ähnlichkeiten liegen auf der Hand. Die Gemeinde wird immer grösser und unübersichtlicher. Nicht jeder mehr kennt jede. Das lag damals vor allem an den unterschiedlichen Sprachen. Die einen redeten aramäisch und die anderen griechisch – und nur die wenigsten beherrschten beides. Die einen waren die sogenannten «Hebräer» und die anderen die sogenannten «Hellenisten». Die einen wussten von den anderen wohl nicht viel. Zum Glück überliefert Lukas nicht die Vorurteile, die sich gebildet haben mögen, weil man nicht so einfach miteinander ins Gespräch kommen konnte. Manche Kenner der damaligen Zeit und des Neuen Testaments vermuten sogar, dass längst zwei Gottesdienste gefeiert wurden: einer auf Aramäisch und einer auf Griechisch. Hellenisten und Hebräer trafen sich dann selten bis nie.

In unserer Gemeinde gibt es solche Sorten von Leuten ganz ähnlich: Es sind Menschen, die sich beim Dankeschönanlass für die Freiwilligen das allererste Mal begegnen, die gar nichts voneinander wissen. Wer von den Holzikern war schon mal in Bottenwil im Gottesdienst? Und umgekehrt? Die einen lieben Orgelmusik, gern auch mit Trompete, die anderen kennen die Lieder der Jugendband am besten und fast auswendig. Überhaupt: Die einen gehen sonntags gern in die Kirche und die anderen nehmen lieber etwas in die Hand, kochen Kaffee in grossen Kannen und arbeiten das ganze Jahr auf den Basar hin … Die einen haben am liebsten Kinder um sich her, die anderen machen ehrenamtlich Besuche im Alterszentrum, … Gottlob sind nicht alle gleich!

Und nun kommt es in Jerusalem zu Ungerechtigkeiten. Die «Neuen» kriegen offenbar weniger als die «Alteingesessenen», wenn man das bei dieser jungen Gemeinde denn so sagen kann. Aber nun geschieht etwas äusserst Bemerkenswertes in der jungen Gemeinde. Niemand konnte damals sagen: «Das war schon immer so, das haben wir doch immer so gemacht, das geht nicht!» Solche Traditionen hatten sich noch nicht gebildet.

Jetzt fangen wir an zu hoffen, dass die Ähnlichkeiten zwischen Schöftland heute und Jerusalem damals wirklich gross sind! Aber unser Gott erweckt auch immer wieder Propheten, die bei uns «alten» Gemeinden doch – sicherheitshalber – nachfragen und nachhelfen, in diesem Falle ist es Kurt Marti:

«Wo chiemte mer hi
wenn alli seite
wo chiemte mer hi
und niemer giengti
für einisch z’luege
wohi dass me chiem
we me gieng.»¹

Sagen wir einmal, dass das jetzt aramäisch war! Damit ich auch bei den «Griechen» unter uns nicht missverstanden werde, will ich es gern noch übersetzen:

«Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten,
wo kämen wir hin,
und niemand ginge,
um einmal zu schauen,
wohin man käme,
wenn man ginge.»

Wir können uns nun allerdings weder länger in Bern noch in Norddeutschland aufhalten, sondern müssen wieder nach Jerusalem eilen, denn dort sind bereits weitere, kleine Wunder im Gange. Sie empfehlen sich ebenfalls sehr zur Nachahmung.

Der Konflikt ist da und wunderbar ist, was nicht geschieht: Keiner scheint die «Faust im Sack» zu machen. Der Konflikt wird öffentlich gemacht und dabei nicht dramatisiert oder verharmlost. Beide Auswege sind immer wohlfeil, werden aber gleichermassen nicht beschritten. Es wird z. B. auch niemand aufgefordert, sich doch jetzt «nicht so anzustellen». Es wird aber vor allen Dingen nicht nach einem Schuldigen gesucht. Das ist immer sehr beliebt, aber enorm zeitraubend und energiefressend. Für die Lösung des Problems ist es offenbar nicht entscheidend, wie es soweit hatte kommen können, sondern wie es anders weitergehen kann. Sie gehen also los und schauen, wohin sie kommen, wenn sie gehen.

Damit es besser weitergeht, beruft die immerhin 12-köpfige Gemeindeleitung eine Versammlung ein. Dieser Versammlung wird ein weitreichender Vorschlag gemacht. Sie sollen nicht einen suchen oder zwei oder drei, sondern gleich sieben Personen. Es heisst in der Apostelgeschichte: Der Vorschlag gefiel allen, die versammelt waren.

Ob auch alle versammelt waren? Oder nur die Benachteiligten und ihre Freunde? An der spannendsten Stelle schildert Lukas leider nicht, wie es genau zu und her gegangen ist. Ob man sich selbst bewerben konnte oder berufen werden musste, wie das Wahlprozedere genau ablief. An manchen Stellen ist das dicke Bibelbuch doch zu dünn.

Auf jeden Fall werden sieben Personen gesucht. Es geht also nicht um einzelne Überstunden, sondern um sieben volle Arbeitsplätze. Lukas ist ein vornehmer und harmoniebedürftiger Mensch, darum will er nicht schreiben, was zwischen den Zeilen zur Debatte steht: Geld. Es geht offensichtlich auch um ziemlich viel Geld, genauer gesagt um Spendengeld. Daher werden Männer mit einwandfreiem Leumund gesucht, die zudem klug und von Gott ‘be-geistert’ sind.

Genau solche Leute suchen wir in Schöftland auch – zum Beispiel für die freien Plätze in der Kirchenpflege und ein Team für die Einrichtung eines Förderkontos. Sieben Personen insgesamt wären geradezu ideal, auch die Hälfte könnte schon hilfreich wirken.

Die Ähnlichkeit zwischen Jerusalem und Schöftland mag überwältigend sein, aber kleine Unterschiede gibt es natürlich: Bei uns sind auch Frauen gefragt.

Die Jerusalemer finden sieben Männer, sehr verschiedener Herkunft, aber alle griechischsprachig, wie an den Namen leicht zu erkennen ist: Stephanus, Philippus, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas und Nikolaus. Nikolaus hat übrigens ein bewegtes Leben und mindestens die weite Reise von Antiochia nach Jerusalem hinter sich. Er ist auf jeden Fall ein Fremder in Jerusalem. Er war Heide gewesen, ist Jude geworden und dann Christ. Aber auf die Herkunft kommt es nicht an, es geht um den guten Ruf, Klugheit und Begeisterungsfähigkeit für den Dienst zur Ehre Gottes und dem Nächsten zugute.

Bei Lukas liest sich das so, als hätten sie damals die sieben Kandidaten in sieben Minuten beieinandergehabt. So schnell wird es wahrscheinlich nicht gegangen sein, wie man nachher davon erzählen kann. Lassen wir uns davon nicht entmutigen, wenn wir sieben Wochen oder sieben Monate oder länger Geduld haben müssen, bis die Begabten gefunden sind.

Für die sieben Neuen damals wurde gebetet und sie wurden gesegnet. Das wird bei uns nicht anders sein, nur auf die Handauflegung würden wir derzeit wegen unseres Schutzkonzeptes verzichten.

Mit dem segensreichen Wirken endet der heutige Predigttext, aber nicht die Geschichte dieser speziellen Wahl, weder für Jerusalem noch für Schöftland.

Denn wie immer ist die Sache noch viel komplexer als sie anfänglich aussieht. Es geht nicht nur um die zwei Sprachen und die zwei Kulturen, aus denen die Gemeindeglieder stammen, sondern es geht auch um die Frage, wer sich um das Predigen und wer sich um die Diakonie, die Versorgung der Armen und Benachteiligten, kümmert. Wer ist für das Wort und wer ist für die Tat zuständig? Die zwölf Jünger stellten sich vor, dass sie predigen und die sieben neu Gewählten sich um die Diakonie sorgen. Die Zwölf sagten: Es geht nicht an, dass wir die Verkündigung des Wortes Gottes beiseitelassen und den Dienst bei Tisch versehen. Seht euch um nach sieben Männern aus eurer Mitte, …, die wollen wir einsetzen für diese Aufgabe. Wir aber werden festhalten am Gebet und am Dienst des Wortes.

Aber es kommt vollkommen anders. Denn der Mensch denkt, Gott lenkt. Oder anders ausgedrückt: Die vollmundigen Wahlversprechen wurden auch damals gar nicht gehalten! Konnten keinesfalls gehalten werden. Das kennen wir zur Genüge. Nun sind die Ähnlichkeiten zwischen Jerusalem und Schöftland aber vorläufig zu Ende!

So können wir am Schluss noch zu den grossen Unterschieden übergehen.

Als Diakone werden die Sieben nicht berühmt. Stephanus, der Erstgewählte, kommt gar nicht dazu, sich als Diakon zu betätigen. Er erweist sich vielmehr bald darauf als einer der wichtigsten Prediger und wird dafür zum Tode verurteilt. Auch sein Kollege Philippus wird trotz Verfolgung ausdrücklich Prediger. Die Steinigung des Stephanus wird übrigens von einem gewissen Saulus überwacht. Den kennen wir. Er wird später Paulus genannt und mit ihm kommt es auch völlig anders als er und irgendjemand denken konnte. Aber schon bevor aus Saulus Paulus wird und er vom Christenverfolger zum Missionar wird, fördert er das Christentum. Er stärkt das Christentum gegen seinen Willen, aber dafür sehr nachhaltig. Lukas schreibt in der Apostelgeschichte im 8. Kapitel:

Es erhob sich aber an diesem Tag eine grosse Verfolgung über die Gemeinde in Jerusalem; da zerstreuten sich alle …

Saulus versuchte die Gemeinde zu zerstören, ging von Haus zu Haus, schleppte Männer und Frauen fort und warf sie ins Gefängnis.

Die nun zerstreut worden waren, zogen umher und predigten das Wort (Apg 8, 1.3-4).

Wie löst man Konflikte? In Jerusalem – und warum nicht in Schöftland auch?

Man spricht den Streit offen an und macht sachliche Lösungsvorschläge, man wählt genügend fähige Leute und bleibt flexibel, besonders, wenn Gott nachher ganz andere Pläne hat.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Pfarrerin PD Dr. Dörte Gebhard

doerte.gebhard@web.de

¹ Kurt Marti: rosa loui, vierzg gedicht ir bärner umgangssprach, Luchterhand 1967.

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