Heiligen Abend

Heiligen Abend

Predigt für den Heiligen Abend |  Jesaja 11,1-9 | verfasst von Suse Günther | 

Es wird ein Zweig hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus der Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.

Er wird Wohlgefallen haben an der Furcht des Herrn. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stab seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und Treue der Gurt seiner Hüften. Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird das Mastvieh zusammen mit den jungen Löwen treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass Ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden das Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein Kind wird seine Hand strecken in das Loch einer Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berg, denn das Land wird voll der Erkenntnis des Herrn sein, wie Wasser, das das Meer bedeckt.

Und es wird geschehen zu der Zeit, dass der Zweig aus der Wurzel Isais da steht als Zeichen für die Völker.

 

Gott, gib uns ein Herz für Dein Wort und nun ein Wort für unser Herz. AMEN

 

Liebe Gemeinde!

Unser Predigttext ist entstanden in einer der allerdunkelsten Stunden des Volkes Israel: Als das Volk ins Exil nach Babylon geführt war: Der Krieg gegen die Babylonier war ebenso verloren wie die Heimat. Und damit alle Hoffnung darauf, dass sich das Blatt jemals wieder zum Guten würde wenden können. Der Baum des berühmten Königs David war abgesägt mit Stumpf und Stiel, nur die Wurzel war noch übrig.

Wie Sie wissen, bin ich unter anderem Krankenhausseelsorgerin und musste dazu eine Zusatzausbildung ablegen als systemische Therapeutin. Wir haben gelernt, menschliche Erfahrungen und Systeme aufzustellen mit Figuren oder lebenden Menschen, um sie begreiflicher zu machen. Und wir haben gelernt, dass  dadurch, dass nur eine Figur ihre Position verändert, alles in Bewegung kommt. Es entsteht ein neues Bild, das Auswirkungen nicht nur auf die hat, die an der Aufstellung beteiligt sind. Sondern weit darüber hinaus.

Jesaja beschreibt in unseren heutigen Predigttext eine solche grundlegende Veränderung im Bild. Es entsteht etwas ganz Neues: Nicht mehr der vernichtete Baum des Königreiches David, auf den sich alle Hoffnung stützte. Und den es nun nicht mehr gibt. Sondern ein neuer Zweig wird wachsen. Aus der alten Wurzel eine neue Zukunft.

Damit verändert sich für alle nicht nur das Bild, sondern auch die persönliche Zukunft. Jesaja zeichnet uns sehr anschaulich das künftige Friedensreich, das mit diesem neuen Zweig einhergeht. Er zeichnet es, in dem er die Figuren beschreibt, die an diesem Bild beteiligt sind. Tiere, die einander nicht mehr zum Fraß dienen, sondern nebeneinander existieren. Menschen, die unter diesen Raubtieren friedlich leben können.

Auf einmal gibt es eine neue Mitte in diesem Kosmos, der vorher aus wild hineingeworfenen Kreaturen bestand, von der sich jede ihren eigenen Platz erkämpfen musste.

Mehr als 600 Jahre später versucht der Evangelist Matthäus das in sein System zu fassen. Er beginnt sein Evangelium und seine Weihnachtsgeschichte damit, dass er den Stammbaum des Volkes Israel agribisch aufschreibt: Von Abraham bis zum König David sind es, so schreibt Mattäus, 14 Generationen. Von David bis zum Exil in Babylon sind es wieder 14 Generationen. Und von diesem Exil bis zur Geburt Jesu wieder 14. Dass Matthäus das so schreibt, ist kein Zufall. Die Sieben ist für die Juden die göttliche Zahl, denken Sie an die sieben Tage, in denen Gott die Erde erschaffen hat oder den siebenarmigen Leuchter als Symbol für den brennenden Dornbusch, in dem Gott erschien. Die vierzehn ist also doppelt göttlich. Wenn Matthäus alles so beschreibt, dass immer vierzehn Generationen vergingen, dann heißt das für ihn, dass hier Gottes Wirken deutlich wird. Es ist Gott, der sowohl in der dunklen als auch in der lichtdurchfluteten Zeit unseres Lebens handelt. Es ist Gott, der aus dem vernichteten Stammbaum Davids einen ganz neuen Zweig, ein Reis wachsen lässt. Und es ist Gott, der diesen Zweig dann groß und stark werden lässt, der 14 Generationen später seinen Sohn Jesus als Mensch in er Welt geboren sein lässt, um den Menschen eine Zukunft zu geben.

Es ist Gott, der das Bild, das uns Menschen so aussichtslos erscheint, neu ausrichtet und der damit alles verändert. Er stellt seinen Sohn in unsere Mitte und stellt uns auf diese Weise neu auf. Wir bekommen eine neue Chance.

In einer Aufstellung, wie ich sie beruflich vornehme, frage ich am Ende die Teilnehmenden: Wie geht es Ihnen jetzt an diesem neuen Platz?

Die Menschen antworten unterschiedlich auf diese Frage, so wie sie ja auch unterschiedlich veranlagt sind. Einer wird vielleicht sagen: „Ich kann mir vorstellen, dass ich hier gut leben kann aber alles ist noch sehr ungewohnt“. Eine andere könnte antworten: „Hier fühle ich mich pudelwohl“ Und ein dritter: „Nein, das ist nichts für mich“.

Wie fühlen wir uns auf diesem neuen Platz mit Jesus, der an Weihnachten in unsere Mitte gekommen ist? Pudelwohl, ungewohnt oder fremd? Oder ganz anders?

Wie es dann im wirklichen Leben sein wird, das wird sich erst zeigen. Die Teilnehmenden gehen wieder ihrer Wege nach dieser Begegnung. Alle nehmen etwas mit, für alle kommt etwas in Bewegung. Und alle möchten ja auch, dass sich etwas bewegt, denn dazu sind sie hergekommen.

Was verändert sich dadurch, dass Jesus an Weihnachten in unsere Mitte kommt? Jesaja beschreibt es anschaulich im Predigttext. Es soll ein friedlicher, liebevoller, vertrauensvoller und gerechter Umgang miteinander herrschen. Ja. Es ist nun über 2600 Jahre her, dass dieses friedliche und hoffnungsfrohe Bild aufgestellt wurde.

Und alle, die einmal an so einer Aufstellung teilgenommen haben, wissen leider auch das: Das, was uns da so bewegt hat, wird auch im Alltag sich beweisen müssen. Es ist uns als leuchtender Höhepunkt eingeprägt, aber dann kommt eben auch wieder unser ganz normales Leben mit alle seinen Herausforderungen. Ungezählte Kriege und Dunkelheiten gab und gibt es seit Jesajas Hoffnungsbild. Das Volk Israel kehrte aus der Verbannung zurück und ist bis heute in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt.

Gerechtigkeit? Wir sind weit davon entfernt in diesen Corona Zeiten, in denen die einen arbeiten müssen bis zum sprichwörtlichen Umfallen. Und die anderen nicht arbeiten dürfen und ihre Existenzgrundlage verlieren.

Hat in dann in diesen Zeiten ein altes Bild von Gerechtigkeit, Frieden und Hoffnung, das wir uns jedes Jahr an Weihnachten noch einmal ins Gedächtnis rufen, überhaupt noch Bedeutung?

Vielleicht können wir uns dieses Bild als Auftrag an uns bewahren, als Auftrag, der dann auch in die Zukunft führt und nicht nur die uralte Vergangenheit heraufbeschwört: So kann es sein und so können wir es schaffen: Indem wir einen neuen Platz ausprobieren, indem wir anderen einen neuen Platz zugestehen. Indem wir Jesus den Platz in unseren Leben nicht nur an Weihnachten als Krippenfigur übriglassen. Wie fühle ich mich an meinem neuen Platz? Was bedeutet er für mich? Welchen Auftrag höre ich für mich?

Ich fühle mich trotz allen Ängsten dieser Zeit hoffnungsvoll.

Mein Platz an der Seite der Menschen und an Jesu Seite gibt mir Standfestigkeit, Geborgenheit und Zuversicht in dieser zerbrechlichen Welt. Und mein Auftrag? Leben miteinander und füreinander. Mit Gottes Hilfe. AMEN

(c) Suse Günther

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