Hesekiel 34, 23-31

Hesekiel 34, 23-31

Christnacht | 24.12.2022 | Hesekiel 34, 23-31 | Gert-Axel Reuß |

Liebe Gemeinde,

selten war die Hoffnung auf Frieden konkreter als an diesem Jahr (2022). Selten waren wir für die Weihnachtsbotschaft empfänglicher als in dieser Nacht: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

In all den vergangenen Jahren standen wohl persönliche Wünsche und Sehnsüchte im Vordergrund, die ihre Berechtigung ja nicht verloren haben: Die Bitte um Gesundheit, die Sorge um das Wohlergehen der Eltern und der Kinder. Aber in diesem Jahr hat sich unser Blickwinkel geweitet und wir verstehen und erleben viel intensiver, dass die Weihnachtsbotschaft eine universale ist: Frieden auf Erden!

Durch die Ereignisse des zurückliegenden Jahres – und hier steht für mich der kriegerische Angriff auf die Ukraine im Vordergrund – bekommt unser schönes Familienfest mit all den guten Wünschen und Geschenken eine andere Tiefe und eine neue Perspektive.

Der Traum der Propheten, der mit der Geburt dieses Kindes zur Welt kommt, gewinnt an Dringlichkeit und Intensität.

[Verlesen des Predigttextes Hesekiel 34, 23 – 31:
23 Und ich will ihnen einen einzigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nämlich meinen Knecht David. Der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein, 24 und ich, der HERR, will ihr Gott sein. Und mein Knecht David soll der Fürst unter ihnen sein; das sage ich, der HERR. 25 Und ich will einen Bund des Friedens mit ihnen schließen und alle bösen Tiere aus dem Lande ausrotten, dass sie sicher in der Steppe wohnen und in den Wäldern schlafen können. 26 Ich will sie und alles, was um meinen Hügel her ist, segnen und auf sie regnen lassen zu rechter Zeit. Das sollen gnädige Regen sein, 27 dass die Bäume auf dem Felde ihre Früchte bringen und das Land seinen Ertrag gibt, und sie sollen sicher auf ihrem Lande wohnen und sollen erfahren, dass ich der HERR bin, wenn ich ihr Joch zerbrochen und sie errettet habe aus der Hand derer, denen sie dienen mussten. 28 Und sie sollen nicht mehr den Völkern zum Raub werden, und kein wildes Tier im Lande soll sie mehr fressen, sondern sie sollen sicher wohnen, und niemand soll sie schrecken. 29 Und ich will ihnen eine Pflanzung aufgehen lassen zum Ruhm, dass sie nicht mehr Hunger leiden sollen im Lande und die Schmähungen der Völker nicht mehr ertragen müssen. 30 Und sie sollen erfahren, dass ich, der HERR, ihr Gott, bei ihnen bin und dass die vom Hause Israel mein Volk sind, spricht Gott der HERR. 31 Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.]

 

Liebe Gemeinde,

der Prophet Hesekiel malt hier ein Bild des Friedens, der so viel größer ist als die Abwesenheit von Krieg. Der Bund des Friedens, den Gott mit seinem Volk erneuert, schließt die ganze Natur mit ein. Wenn Hesekiel in seiner Zukunftsvision ganz bewusst an den 23. Psalm anknüpft, ist schnell klar, dass die Ausrottung aller bösen Tiere sich nicht auf Wölfe und Schlangen beschränkt: „Und sie sollen nicht mehr den Völkern zum Raub werden, und kein wildes Tier im Lande soll sie mehr fressen, sondern sie sollen sicher wohnen, und niemand soll sie schrecken.“

Natürlich haben die Menschen zu allen Zeiten solche Metaphern verstanden und in ihr konkrete Situation und Lebenswirklichkeit übersetzt. Wir brauchen uns das nicht zu verbieten, wenn uns bewusst ist, dass der Feind der Ukraine vor 80 Jahren das nationalsozialistische Deutschland gewesen ist. Wie froh sind wir, dass unseren Müttern und Vätern nach dem Krieg die Hand zur Versöhnung gereicht worden ist – aller Barbareien, die in deutschem Namen geschehen sind, zum Trotz.

Wenn der Text des Propheten Hesekiel ausgerechnet heut in der Heiligen Nacht vorgelesen und gepredigt wird, dann kommt uns  natürlich das „Gleichnis vom guten Hirten“ aus dem Johannesevangelium in den Sinn. Das Kind in der Krippe, dessen Geburt wir in dieser Nacht feiern, ist der von Gott gesandte „Gute Hirte“, der das Volk weiden und ihr Hirte sein soll.

Damit bekommt die Verheißung des Propheten einen Kontext und eine Konkretion, die uns zunächst einmal wegführt von all den naheliegenden Vergleichen, die sich heute Abend nahezu aufdrängen.  Natürlich müssen die Angriffe auf die ukrainischen Städte aufhören und die vergessenen Kriege in so vielen anderen Regionen und Ländern dieser Erde auch. Natürlich müssen wir uns fragen lassen, was wir dazu beitragen können – und das geschieht ja auch. Aber das wäre ja nur ein erster, wenn auch sehr, sehr wichtiger Schritt.

Was – so fragen sich manche heute – ist mit dem 1,5-Grad-Ziel, um den Klimawandel zu begrenzen und den Völkern Ozeaniens das Überleben zu sichern – denn deren Inseln werden untergehen. Wenn solches denn überhaupt noch zu verhindern ist. Sollen wir frieren, weil wir die Energieversorgung nicht rechtzeitig umgestellt haben? Das alles sind drängende Fragen, die sich nicht einfach ausblenden lassen – spätestens wenn der Politikbetrieb nach der Weihnachtspause wieder Fahrt aufnimmt, wird über den ‚richtigen‘ Umgang mit den Krisen wieder gestritten werden. Fragen, die sich nicht so einfach lösen lassen, weil wir verstrickt sind in diese Probleme.

Darauf geben weder die Propheten eine Antwort noch die Weihnachtsbotschaft. Doch NEIN! Sie geben eine Antwort! Die Antwort ist, dass uns das Kind in der Krippe, dass uns Jesus Christus befreien will aus den Verstrickungen und Verwicklungen, in denen wir stecken. Die Weihnachtsbotschaft kuriert keine Symptome, sondern ihr Lösungsansatz reicht tiefer. Sie pflanzt eine Sehnsucht in unsere Herzen, die sich nicht mit vordergründigen Lösungen zufrieden gibt (auch wenn diese politisch – sozusagen als Zwischenschritte – geboten sind). Die Weihnachtsbotschaft ist keine Vertröstung auf einen „St. Nimmerleinstag“, sondern sie setzt auf die Kraft der Hoffnung, die sich nicht einschüchtern lässt (durch welche Machtmittel auch immer).

Die Kraft der Veränderung wächst von unten. Sie gründet in einem Gottvertrauen, das konkrete Schritte nicht aufschiebt – aber sich zugleich der Vorläufigkeit allen menschlichen Handelns bewusst ist. Die Hirten, die zur Krippe kommen – und wer weiß: da sind gewiss auch Frauen darunter gewesen – sie lehren uns dieses Gottvertrauen, das im Kleinen das Große sieht. Vordergründig wird sich an ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen nichts geändert haben am Tag danach. Aber etwas in ihnen hat sich geändert: „Fürchtet Euch nicht! Denn Euch ist heute der Heiland geboren, welches ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“

Die Weisheit der Weisen aus dem Morgenland beruht nicht auf ihrem astromischen Wissen, nicht auf ihrem Reichtum und ihrer Macht, sondern dass sie das Kind der Maria anbeten. Das Kind einfacher Leute, das keine Throne an sich reißen wird, keine Söldnerheere befehligt, keine Schätze für sich und die Seinen zur Seite bringt, sondern ein Leben der Hingabe führen wird. Das ist der neue Ton, den Gott in unser Leben bringt, der die Bosheit austrocknet und nicht die bösen Tiere ausrottet, der Wüsten zum Blühen bringt und nicht durch menschliche Gier immer neue Wüsten entstehen lässt, der den Menschen eine Sicherheit gibt, die sich nicht auf Zäune und Abschreckung stützt, sondern auf gegenseitigen Beistand und ein Vertrauen, das sich auch durch Rückschläge nicht unterkriegen lässt.

Manche mögen das für gefährlich und naiv halten. Aber ist eine solche Naivität, der wir uns auch heute noch kaum entziehen können, wenn wir ein Neugeborenes sehen, nicht die eigentliche Kraft unseres Lebens? Was soll falsch daran sein, wenn wir in den Kindern unsere Zukunft sehen und deshalb fast alles dafür tun wollen, damit die Kinder eine Zukunft haben. – Ja, wir könnten mehr tun. Und ernsthafter handeln. Auch wenn uns unser Verhalten gelegentlich Lügen straft, bedeutet das ja nicht, dass dieser Impuls falsch ist.

Der Lebensweg Jesu läuft manchen unserer Denkmuster zuwider und fasziniert doch bis heute und spornt viele an, sich an ihm ein Beispiel zu nehmen. Wenn wir in dieser Nacht seine Geburt feiern, dann erfahren wir, dass Gott bei uns ist und wir zusammen mit Israel seine Völker sind. Gott will uns zu seiner Herde machen – und nicht nur uns. Die anderen auch!

So lasst uns die Hoffnung nicht aufgeben, dass Frieden möglich ist. Und damit rechnen, dass dieser Friede viel umfassender ist, als wir uns vorstellen können. So lasst uns die Sehnsucht nicht klein reden, dass Menschen sich ändern können. Auch wenn sie andere Signale senden. Lasst uns von einer Welt träumen, in der die Bäume auf dem Feld ihre Früchte bringen und der Regen zur rechten Zeit und nicht zur Unzeit kommt, so dass keiner mehr Hunger leidet.

Lasst uns das Wunder dieser Nacht feiern und erfahren, dass Gott keinen verloren gibt: Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.

Amen.

Gert-Axel Reuß

Domprobst

Domhof 35

23909 Ratzeburg

Mail: reuss@ratzeburgerdom.de

Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor der Nordkirche, seit 2001 Domprobst zu Ratzeburg

de_DEDeutsch