Hiob 2,1-13

Hiob 2,1-13

namenlos | Invocavit | 26.02.2023 | Hiob 2,1-13 | Nadja Papis |

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien…

Der Krieg in der Ukraine…

Die tödliche Krankheit…

Der plötzliche Unfalltod…

Arbeitslosigkeit, Mobbing, Angst, Traumatisierungen, Verunsicherung…

Leid ist allgegenwärtig. Es gehört zum menschlichen Leben dazu. Und obwohl die meisten von uns dazu tendieren, es zu verdrängen, zu verschweigen oder zu übergehen, bleibt die Frage nach dem Leid bestehen. Und die nach dem Umgang mit leidvollen Erfahrungen.

Das ist nicht erst heute so. Leiderfahrungen gehören seit je zum menschlichen Leben. Und auch die Suche nach möglichen Wegen mit diesem Leid. Und nach Erklärungen, warum es dieses Leid überhaupt gibt.

Hiob ist wie ein alter Freund für mich, ein guter Freund. Bereits im Studium haben mich seine Erfahrungen und auch sein Weg berührt. Er ist der leidende Gerechte – beispielhaft, vorbildhaft und auch unantastbar.

Mit Hiob habe ich begriffen, dass Leidende keine Erklärungen brauchen, sondern Zuwendung. Dass sie schreien, toben, klagen, schimpfen oder schweigen müssen, um das Leiden auszuhalten und irgendeinen Umgang damit zu finden. Hiob hat mir vor Augen geführt, dass Gott auch mitten im Leiden die Adresse bleibt, um eben all diese Schreie, Klagen und das verzweifelte Schweigen loszuwerden. Und dann – so wie Hiob – die Gegenwart des Göttlichen zu erleben, diese allerletzte Geborgenheit.

Hiob ist also ein guter alter Freund, er hat mich schon so oft begleitet – in meinen eigenen Leidensmomente, aber auch in der Seelsorge und Verkündigung.

Und jetzt kommt dieser Predigttext, schonungslos wirft er mich aus meiner Komfortzone raus.

Da inszenieren Gott und der Satan eine Wette über das Gottvertrauen eines Menschen und riskieren dafür sein Leben. Eine Wette! Fast wie ein wissenschaftliches Experiment mutet es an, wie die beiden Ausgangslage, Umstände und Bedingungen aushandeln, um dann zu schauen, wer nun recht hat. Und dabei geht es um einen Menschen!

Nein, es geht nicht um einen Menschen, genau gesagt geht es um viele Menschen.

Da ist ja nicht nur Hiob, der leidet. Bereits bei der ersten Prüfung verendet alles Vieh mitsamt Knechten und Hirten und die Töchter und Söhne Hiobs sterben. Haben sie gelitten? Ja, sicher. Sie wurden überfallen, hatten wahrscheinlich Angst, die einen mussten mitansehen, was passierte. Ich kann mir die Schreie kaum vorstellen, welche diese so unschuldig erzählte «Prüfung» begleiteten. Es erinnert mich an die meist neutral gehaltenen Berichte über Naturkatastrophen oder Kriege unserer Zeit. Die Toten sind nur Zahlen, sie haben keine Namen, keine Lebensgeschichte, keine Gefühle. Und doch wurden hier so viele Leben einfach ausgelöscht – wegen einer Wette!

Auch in unserem Text, der sog. zweiten Prüfung, ist Hiob nicht der einzige Leidende. Klar, er wird krank, so krank, dass er sich isolieren muss von der Gesellschaft, auf dem Boden im Dreck sitzt und sich mit einer Tonscherbe kratzt. Nur ist er nicht allein, wie viele wohl denken: «Seine Frau sagte zu ihm» (V9a). Seine Frau ist auch da. Namenlos. Und später verachtet. Ja, sie gilt als Helferin des Satans, als Widersacherin von Hiob, als die, die ihn in seinem grössten Elend im Stich lässt. Sie setzt seinem Leiden quasi noch eins obendrauf mit ihren Worten: «Verfluche Gott und stirb!». So ist sie in die Wirkungsgeschichte eingegangen.

Es wird nie erzählt oder nur schon beachtet, wie sehr sie leiden muss. Nicht nur Hiob, auch die Namenlose hat alles verloren: Ihre Kinder, den Besitz, alle Angestellte und sicher auch all ihre Lebensgrundlagen. Davon wird nie gesprochen. Und auch das ist meiner Meinung nach ein grosser Anteil am Leiden von vielen Menschen: Es wird verschwiegen, verachtet, weggedrängt, runtergemacht, vertröstet, übersehen, überhört… Wie viele Randfiguren hat nur schon unsere Geschichtsschreibung? Wie viele Randfiguren, namenlose, wortlose, rechtlose hat unsere Berichterstattung? Wie viele leidende Randfiguren hat unsere Leben?

Die Menschen unter den Trümmern des Erdbebens – und all ihre Angehörigen…

Die Kämpfenden im Krieg, die Zivilopfer, die Witwen und Waisen, die Verängstigten, die fürs Leben geschädigten…

Die emotional vernachlässigten Kinder liebloser oder selber geschädigten Eltern…

Immer wenn ich in einer Kathedrale, einem Dom oder Münster bin, denke ich an die Tausenden von Menschen, welche beim Bauen nicht nur ihre Kraft und Arbeit, sondern auch ihr Leben gaben und mit keinem Wort erwähnt werden. Und an alle, die um sie trauerten. Zur Ehre Gottes, wohlverstanden.

Wie oft höre ich in Trauergesprächen von verschwiegenem Leiden innerhalb einer Familie, von Suchtthemen zum Beispiel die Auswirkungen auf alle haben.

Für mich gehört es zu meinem Glauben und zur Nachfolge Jesu, diesen unbeachteten Menschen Aufmerksamkeit, Beachtung und Würde zu schenken. Ich will sie nicht weiter übergehen, die heute nicht und die damals nicht. Den Namenlosen ein Gesicht, eine Geschichte, ein Ohr zu geben, das hat mich schon immer bewegt. Ihnen Mitgefühl auszudrücken und Hochachtung und nachzufragen: Wer bist du denn, namenlose Frau? Und wie ging es dir in all dem?

Eines sagt unser Text deutlich: Die Namenlose blieb an Hiobs Seite. Sogar als er mit Aussatz befallen war und sich aus allem ausgliederte, war sie da. Und obwohl sie selber unglaublich viel Leid erfahren hatte, aufs Höchste trauerte und nicht wusste, wie ihr Leben weiter gehen soll, war sie da. Und blieb im Gespräch mit Hiob.

Heute würde ich einem Paar in der Seelsorge meine grösste Hoffnung ausdrücken, wenn es nach all dem, was die beiden erlitten hatten, noch miteinander redet. Meistens ist gemeinsames Leiden etwas, das trennt und nicht verbindet. Ich kann nicht für dich da sein, wenn ich selber zerbreche. Und du kannst mir kein Halt geben, wenn du selber hilflos bist. Die Wut auf das Leben, das so Ungeheuerliches zumutet, richtet sich gegeneinander. Schuld und Scham errichten tiefe Gräben oder hohe Mauern, die trennen.

Die Namenlose spricht mit Hiob. Sie ist da. Allein dafür hat sie Achtung verdient. Denn – nochmals zur Erinnerung – sie hat all ihre Kinder, den ganzen Besitz, ihr gewohntes Leben verloren.

Sie spricht mit Hiob: «Willst du dich noch immer frei von Schuld halten? Verfluche Gott und stirb!» Für diese Worte wurde sie verurteilt und abgestempelt, während Hiob zum leidenden Held hochstilisiert wurde. Aber jetzt mal ehrlich: Ich habe Verständnis dafür. Die Frau leidet enorm. Da ist so eine Wut auf das Leben, das ihr alles genommen hat! Und dieser Mann tut dann auch noch so fromm! Bleibt demütig und ergeben auf seinem Dreckhaufen sitzen und kratzt sich blutig, statt etwas zu tun! Irgendetwas! Ihr irgendetwas abzunehmen! Irgendwie! Statt mit ihr zu reden, zu leben, zu weinen, zu toben, hält er stur an seiner Glaubensüberzeugung fest: Das muss so sein, das ist gottgewollt! Wer würde sich da nicht die Haare raufen! Und diesem Gott mal ordentlich die Meinung sagen!

Ich schimpfe viel mit Gott. Manchmal tobe ich regelrecht im Gebet. Mein Gottvertrauen wird dadurch nur stärker: Das Göttliche hält das mit mir aus. Ich kann mit allem zu ihm kommen. Im Leiden ist das für mich eine enorme Kraftquelle – ein Hoffnungsfunken. Wenn Gott mir dieses Leben zumutet, ist das auch meine Beschwerdestelle. Denn wie Hiob auch sagt: Alles kommt von Gott, das Gute und das Schwere. Wir können lernen, es anzunehmen.

Die Namenlose bleibt auch weiter bei Hiob, sogar nach diesen harschen Worten. Im Gespräch mit seinen Freunden wird sie ein wenig später nochmals erwähnt, immer noch namenlos. Wie hat sie das nur geschafft?

Ich fantasiere weiter: Harte Worte sind gefallen zwischen der Namenlosen und ihrem Mann, beide leiden. Aber sie kennen sich gut, wissen, wie sie ticken. Er erstarrt, sie tobt. Er wird hilflos und kraftlos, sie packt an. Und vielleicht können sie einander so trotz allem zur Seite stehen. Denn irgendetwas verbindet sie auch in all dem Leiden. Liebe? Oder nur die gesellschaftlichen Zwänge? Sie bleiben zusammen.

Ich stelle mir vor, dass sie auch im Gespräch bleiben. Miteinander Erklärungen suchen und verwerfen, miteinander Wege suchen und ausprobieren, miteinander weinen, toben, streiten, hadern und auch beten. Den Weg, den Hiob gegangen ist, kennen wir aus dem Buch, ich bin überzeugt, die Namenlose war mit unterwegs, hat mitgedacht, mitgeredet und vielleicht waren es ja ihre harten Worte, welche bei Hiob den Anfang einer Veränderung bewirkten. Die ihm den Mut gaben, sich gegen die Freunde und ihre Erklärungsversuche zu wehren. Die ihm zeigten, dass Gott ansprechbar ist, auch für unsere Schreie.

Dass Hiob sich veränderte durch seine Leidensgeschichte, merken wir am Schluss des Buches. Während am Anfang die ersten Töchter weder Namen noch Rechte hatten, bekommen die zweiten Töchter von Hiob nicht nur Namen, sondern werden erbberechtigt. Das Leiden scheint nicht nur seinen Glauben und sein Leben verändert zu haben, sondern auch seine Sicht auf Frauen.

Wie hat sich die Namenlose verändert? Sie ist immer noch da, sie gebiert nochmals Kinder, sie erlebt mit ihrem Mann zusammen ein Happyend. Ich könnte mir vorstellen, dass sich nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Glaube verändert hat.

Leiden verändert. Ja, das Leben kann nachher nicht mehr so sein wie vorher. Das ist eine menschliche Urerfahrung. Das Leiden wirft Fragen auf, grosse, störende, schwere Fragen. Und oft macht das Leiden einsam, hilflos, namenlos. Die müssen wir bearbeiten, uns mit ihnen entwickeln und zurückfinden ins Leben. Umso wichtiger ist da die Botschaft des Hiobsbuches: Wenn niemand mehr hinschauen will, wenn du übergangen wirst, wenn das Leiden weg-erklärt, vertröstet, ignoriert wird, ist Gott da, hört und antwortet – auf göttliche Art, nicht auf die, welche wir Menschen uns vorstellen.

Amen

de_DEDeutsch