Hiobs Klage

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Hiobs Klage

Texte: Hiob 3 und 16,9–17 sowie 19,23–27 | Predigt verfasst von Pfarrer Dr. Frank Jehle |

Lassen Sie mich auch heute zuerst einen Umweg einschlagen. Ich spreche nicht über das Buch Hiob, sondern ich erzähle aus der buddhistischen Welt. Wenn man in den heiligen Schriften des Buddhismus liest, begegnet man Erzählungen über den Tod Buddhas: Als der Achtzigjährige sein Ende kommen fühlt, legt er sich hin, «wie ein Löwe sich hinlegt, auf die rechte Seite, einen Fuss mit dem anderen überdeckend», «und lag da ernstbesonnen und klarbewusst».[1] Zu seinem Lieblingsjünger, Ānanda, sagt er:

«Lass doch, Ānanda! Traure nicht und jammere nicht! Habe ich dir denn, Ānanda, nicht schon längst gesagt, dass wir uns von allem, was uns lieb und angenehm ist, scheiden, trennen müssen […]? Wie könnte es in diesem [d.h. in meinem] Falle anders sein, Ānanda?»[2]

Nachdem Buddha gestorben ist, steht in derselben heiligen Schrift:

«[Diejenigen seiner Jünger, die] noch nicht frei von Leidenschaften waren, [rangen] die Hände […] und jammerten, (andere) fielen jählings zur Erde und wälzten sich hin und her, (indem sie klagten): ‹Allzu bald ist der Herr völlig zur Ruhe gegangen, allzu bald ist der Selige völlig zur Ruhe gegangen, allzu bald ist das Auge (d. h. das Licht) in der Welt verschwunden.› Diejenigen von den Mönchen aber, die frei von Leidenschaften waren, ertrugen es ernstbesonnen und klarbewusst, (indem sie dachten): ‹Vergänglich sind die Daseinserscheinungen, wie wäre es möglich, (dass es) in diesem Fall (anders sei)?›»[3]

Der ideale Mensch trauert gemäss dieser Anschauung also nicht! Er lässt sich nichts zu nahekommen. Er ist in jeder Lage völlig gefasst. Es ist dies der Lebensentwurf nicht nur des Buddhismus in allen seinen Variationen, sondern auch der meisten anderen Religionen und Philosophien Asiens, auch des Hinduismus und des Jainismus, bei uns im Westen aber auch unter anderem der Stoiker, einer antiken Philosophenschule. Ataraxie, d. h. Unerschütterlichkeit, ist hier das Schlüsselwort. Und auf diesem Hintergrund ist es nun wirklich bemerkenswert: Die jüdische und die christliche Bibel sieht es anders. «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!»[4] So steht es in Psalm 22, und mit diesem Satz stirbt Jesus im Markus- und im Matthäusevangelium am Kreuz. Und wie Hiob klagt, haben wir gehört. Ich will jetzt nicht noch einmal über die literarische Qualität der gelesenen Verse sprechen, die zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur gehören, auf dem gleichen Niveau wie die griechischen Tragödien, Dante oder Shakespeare. Heute geht es um den Inhalt.

Zuerst zum ersten der drei Texte: Er besteht aus drei Teilen.

Im ersten verflucht Hiob den Tag seiner Geburt und die Nacht, in der er gezeugt worden ist. Das heisst, er möchte überhaupt nicht existieren. Er denkt sich selbst aus dem Weltgeschehen gewissermassen weg. Er möchte gar nicht sein. «O gäbe es mich nicht!» Seine von schwerem Leid getroffene Existenz ist in seinen Augen sinnlos.

Im zweiten Teil seiner Klage malt er sich aus, wie es wäre, wenn er gestorben wäre. Er stellt sich die Totenwelt vor. Hier sind alle gleich, Könige und Untertanen, Mächtige und Arme. Und besonders die Elenden dieser Welt haben es endlich gut. Sie dürfen sich ausruhen. Die Zwangsarbeiter im Steinbruch müssen sich nicht mehr vor der Peitsche der Aufseher fürchten.

Und dann der dritte Teil: Hiob fragt nach dem Sinn seines Leidens.

«Warum gibt [Gott] den Leidenden Licht

und Leben denen, die verbittert sind –,

die sich sehnen nach dem Tod, doch er kommt nicht […]?» (Hiob 3,20f.)

*

Ein solcher Text steht also in der Bibel! Ganz wichtig ist: Für Hiob ist es eindeutig nicht irgendein namenloses und blindes Schicksal, das ihn getroffen hat, sondern es ist der Gott des jüdischen (und christlichen) Glaubens selbst. Dieser Gott steht nach seiner Überzeugung hinter seinem Leid und hat es so verfügt. In der ganzen Bibel gibt es keine vergleichbare, gleich heftige Anklage gegenüber Gott. In Kapitel 16 stehen die drastisch-bildhaften Verse:

«[Gott] fletscht mit den Zähnen gegen mich […].

Seine Geschosse umschwirren mich,

erbarmungslos durchbohrt er meine Nieren,

lässt meine Galle auf die Erde fliessen.

Bresche um Bresche schlägt er in mich,

wie ein Krieger stürmt er gegen mich an.» (Hiob 16,9–14)

Das Besondere daran ist: Hiob kann keinen Grund dafür erkennen, dass Gott sich so verhält. Wenn jemand sagt, er sei an seinem Leiden selbst schuld, weist er diesen Vorwurf von sich:

«Doch an meinen Händen klebt kein Unrecht […].» (Hiob 16,17)

Hiob widerspricht der Theorie, dass das Ergehen eines Menschen von seinem Wohlverhalten oder von seinen Missetaten abhängt. – Das Besondere und Einmalige besteht darin, dass Hiob trotz allem, was ihm widerfahren ist, an seinem Gottesglauben festhält.

In der Weltliteratur gibt es Beispiele, die sich davon unterscheiden:[5] Iwan Karamasow in Dostojewskijs Roman «Die Brüder Karamasow» sagt dem Gottesglauben ab – er wird Atheist – angesichts des vielen unschuldigen Leidens in der Welt. Und ähnlich im Roman «Die Pest» von Albert Camus: Der Todeskampf eines Kindes wird hier dargestellt, und die Hauptfigur des Romans, der behandelnde Arzt Bernard Rieux, sagt empört:

«[…] ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.»[6]

Das heisst: Bis in den Tod hinein werde ich mich weigern, an Gott – und zwar an einen gütigen Gott – zu glauben. Wie Iwan Karamasow bekennt auch Dr. Rieux sich zum Atheismus.

Der biblische Hiob, mit dessen Klagen wir uns heute befassen, ist im Gegensatz zu diesen Romanfiguren – vielleicht überraschenderweise – nicht ein Atheist! Im Gegenteil: Trotz allem, was er erlebt hat, betet er immer noch zu Gott!

«[…] mein Gebet ist rein.» (Hiob 16,17)

«Warum verbirgst du dein Angesicht und behandelst mich wie deinen Feind?» (Hiob 13,24)

«Sei du selbst mein Bürge bei dir!» (Hiob 17,3)

Immer neu spricht er Gott mit du an.

So heftig und gelegentlich geradezu unerträglich Hiobs Klagen sind: Er hält trotzdem an Gott fest.

Die folgenden Verse sind einer der Höhepunkte oder sogar der Höhepunkt der ganzen Hiobdichtung:

«Ich aber weiss: Mein Anwalt lebt,

und zuletzt wird er sich über dem Staub erheben.

Und nachdem meine Haut so zerschunden wurde,

werde ich Gott schauen ohne mein Fleisch

[das heisst: wenn ich nur noch Haut und Knochen bin].

Ich werde ihn schauen,

und meine Augen werden ihn sehen […].» (Hiob 19,25–27)

In alten Bibelübersetzungen heisst es: «Ich weiss, dass mein Erlöser lebt.» Sie kennen wohl die Arie «I know that my redeemer liveth» aus dem Oratorium «Der Messias» von Georg Friedrich Händel. «Ich weiss, dass mein Erlöser lebt.» Die alten Theologen sahen in dieser Stelle im Alten Testament einen Hinweis auf Jesus Christus im Neuen Testament. Jüdische Bibelleserinnen und Bibelleser werden hier nicht einverstanden sein. Aber etwas ist eindeutig: Das Besondere an Hiobs Klagen besteht darin, dass er einerseits sein Leid zwar unzensuriert aus sich herausschreit, dass er anderseits aber trotzdem an seinem Gottesglauben festhält, zu Gott betet und ihn als Entlastungszeugen oder als Fürsprecher beziehungsweise Anwalt anruft.

*

Wenn ich einen Gottesdienst vorbereite, frage ich mich: Was möchtest du der Gemeinde in diesem Gottesdienst mit nach Hause geben? Nun, heute vielleicht das Folgende: Da gibt es also viel Leid in der Welt – sowohl im globalen als auch im persönlichen Bereich. Wollen wir es so machen wie Iwan Karamasow oder wie Dr. Rieux im Roman «Die Pest»? Wollen wir angesichts des Unglücks Atheisten werden? Ich hätte einiges Verständnis dafür. Es gibt wirklich unsägliches Leid in der Welt und im persönlichen Leben vieler Menschen. Aber können wir uns vielleicht nicht trotzdem wie Hiob in der Bibel verhalten? Auch wenn wir Gott nicht verstehen, können wir trotzdem zu ihm beten. Auch wenn es dunkel ist – nicht nur um uns herum, sondern auch in uns selbst –, können wir trotzdem wenigstens den Versuch machen, uns an den verborgenen Gott zu klammern. Das Buch Hiob sagt uns, dass wir auch unsere finsteren Gedanken nicht unterdrücken und verdrängen müssen. Sprechen wir sie aus! Aber, sagt uns das Buch Hiob, schreien wir sie nicht ins Leere hinaus, sondern breiten wir sie, auch wenn wir Gott manchmal nicht verstehen, trotzdem vertrauensvoll exakt vor ihm aus!

Wiederholen wir Kernverse aus dem Buch Hiob:

«Warum verbirgst du dein Angesicht

und behandelst mich wie deinen Feind?»

«Sei du selbst mein Bürge bei dir!»

«Ich aber weiss: Mein Anwalt lebt, […]

Und nachdem meine Haut so zerschunden wurde,

werde ich Gott schauen ohne mein Fleisch.

Ich werde ihn schauen,

und meine Augen werden ihn sehen […].»

Martin Luther sagte in seiner Römerbrievorlesung von 1515/16, das Gebet sei «gleichsam ein Schiff, das gegen reissende Strömung flussaufwärts fährt».[7]

Gerne zitiere ich aus dem Büchlein «Ermutigung zum Gebet» des römisch-katholischen Theologen Johann Baptist Metz:

«Die Sprache des Gebets bändigt nicht und zähmt nicht die Sprache der Leiden, sie weitet sie aus ins Unermessene und Unbesprochene.»[8] – «Sie ist selbst Sprache dieses Leidens, Leidenssprache und Krisensprache, Sprache der Klage und der Anklage, Sprache des Aufschreis und des ‹Murrens der Kinder Israels›.»[9] – «Man kann Gott alles sagen, buchstäblich alles, alles Leid, alle Zweifel und auch alle Verzweiflung, selbst, dass man nicht an ihn glauben kann […], wenn man nur versucht, es ihm zu sagen.»[10]

Gemäss Johann Baptist Metz wäre es also «unchristlich» und keineswegs das Zeichen einer besonderen Frömmigkeit, wenn man von Menschen, denen schweres Leid wie Hiob widerfahren ist, verlangen würde, dass sie ihre Wut und ihren Zorn im Angesicht Gottes nicht in Worte fassen dürften.[11] Ich denke, es ist dies ein wichtiger Aspekt der Bibel – sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments: Anders als unter anderem im Buddhismus, von dem ich am Anfang der heutigern Predigt erzählte, ist klagen erlaubt. Das Leid und den Tod muss man nicht ertragen, ohne mit einer Wimper zu zucken. Unser Gebet darf ehrlich und ungeschminkt sein. Wir müssen uns nicht gefasster geben, als wir wirklich sind.

Noch einmal: Klagen – und zwar vor Gott klagen und natürlich auch jubeln – ist erlaubt! Wir dürfen Menschen sein. Ich denke, dass wir das aus dem heutigen Gottesdienst mit nach Hause nehmen dürfen. Amen.

St. Gallen-Rotmonten, 23. August 2020

[1] Moritz Winternitz (Hg.): Der ältere Buddhismus nach Texten des Tipitaka. Tübingen 1929, S. 23.

[2] A. a. O., S. 24.

[3] A. a. O., S. 27.

[4] Ps 22,2 und Mk 15,34 = Mt 27,46.

[5] Vgl. zum Folgenden: Frank Jehle: Von Johannes auf Patmos bis zu Karl Barth. Zürich 2015, S. 212f.

[6] Albert Camus: Die Pest. Übersetzt von Guido G. Meister. Taschenbuchausgabe. Hamburg 1950, S. 126.

[7] Nach: Friedrich Horst: Hiob. Neukirchen 1968, S. 162. «Sicut Nauis contra vim torrentis acta sursum.» WA 6, S. 468, Z. 7f.

[8] Johann Baptist Metz (und Karl Rahner): Ermutigung zum Gebet. Freiburg/Basel/Wien 1977, S. 21.

[9] A. a. O., S. 18f.

[10] A. a. O., S. 20.

[11] Vgl. Frank Jehle: Von Johannes auf Patmos bis zu Karl Barth. Zürich 2015, S. 42.

 

Hinweis: Voraussichtlich im Frühjahr 2021 erscheint unter dem Titel „Verkündigung ist kein Monolog: Kunst- und Themapredigten für heute“ ein Predigtband mit Kunstpredigten von Frank Jehle beim TVZ.

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