Hoffnung stiften!

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Predigt für den 1. Christtag, den 25. Dezember 2020 | von Domprobst Gert-Axel Reuß |

Predigttext: Jes 52, 7 – 10 – Der Predigttext wird im Rahmen der Predigt verlesen.

Liebe Gemeinde,

der Schweizer Theologe Walter Hollenweger wurde einmal gefragt, ob er Wunder kenne, echte Wunder. „Ja,“ so antwortete er, er kenne zwei wirkliche Wunder: Die Existenz Israels und dass die Sklav:innen Nordamerikas den christlichen Glauben ihrer Unterdrücker übernommen und ihm eine bis heute wirkende Tiefe und Kraft gegeben hätten.[1]

Die einen ein Volk, annähernd 2.000 Jahre ohne eine eigene nationale Existenz. Diskriminiert und verfolgt, ständig bedroht, durch Anpassung an die Umgebung unterzugehen, und im vergangenen Jahrhundert einem rücksichtslosen und grausamen Vernichtungswillen unterworfen – dieses Volk lebt. Und mit ihm der Glaube an den einen Gott: Höre Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. (5. Mose 6, 4.5)

Die anderen in Afrika eingefangen wie wilde Tiere und wie Ware unter unmenschlichsten Bedingungen auf die Plantagen Amerikas verfrachtet. Menschliche Würde gestanden ihre ‚Herren‘ ihnen nicht zu. Unbegreifliches geschieht. Sie nehmen den christlichen Glauben an und finden in der biblischen Botschaft Trost, Halt und Hoffnung. Und diese Hoffnung leuchtet sogar noch im säkularen Gewand einer Autobiografie mit dem Titel „A Promised Land“ (Barack Obama).

Der Glaube Israels und der Glaube der Nachfahren der Sklav:innen Nordamerikas – zwei Wunder – denen wir heute noch etwas Drittes hinzufügen können und sollen: Unseren Glauben, mag er auch schwankend sein. Unser Gottvertrauen, größer als wir selbst. Unsere Hoffnung!

Ja, Menschen sind in diesen Tagen und Wochen verunsichert. Und wir sind es möglicherweise auch. Im Herzen Europas stehen wir vor Herausforderungen, mit denen wir so nicht gerechnet haben. Natürlich kein Vergleich zu dem, was andere vor uns erlebt und erlitten haben. Aber was zählt das schon, wenn es um das eigene Befinden, wenn es um die eigenen Ängste geht? Doch! Es zählt! Die Erfahrungen und der Glaube derer, die vor uns gewesen sind, zählen. Die Worte der Propheten auch, sie zählen. Sie meinen uns! Heute!

[Verlesen des Predigttextes Jes 52, 7 – 10.]

So steht im Buch des Propheten Jesaja:

7 Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, der da Frieden verkündigt, Gutes predigt, Heil verkündigt, der da sagt zu Zion: Dein Gott ist König! 8 Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und jubeln miteinander; denn sie werden’s mit ihren Augen sehen, wenn der HERR nach Zion zurückkehrt. 9 Seid fröhlich und jubelt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. 10 Der HERR hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.]

Liebe Gemeinde,

manche beklagen den Zustand dieser Welt. Und es gibt wahrlich genug Gründe für unseren energischen Protest. Ich will das eine nicht gegen das andere ausspielen. Aber wirkliche Kraft entfaltet ein solcher Protest erst dann, wenn darin eine Hoffnung aufblitzt. Hoffnung auf eine menschlichere Welt, weil Gott selbst Mensch geworden ist. Hoffnung, die sich an einem gerade geborenen Kind neu entzündet. Geboren in einem Stall, gebettet in einen Futtertrog für Tiere.

Mehr Armut geht nicht. Ob dieses Kind die nächsten Tage überleben wird? Doch! Keine Frage. Für die Hirten, für die drei Weisen aus dem Morgenland ist das ganz klar. Sie sehen in diesem Stall schon das ganze Bild einer Welt von morgen, in der keine Kinder mehr verhungern. In der Hass und Gewalt überwunden sind und niemand eines frühen Todes sterben wird.

Das Hoffnungsbild, das uns der Prophet (Jesaja) zeichnet, ist nicht weniger real – ja, möglicherweise unserer heutigen Welt viel näher als das Krippenbild, das vielen zur Idylle gerät. Eine Stadt in Trümmern. Menschen, die sich in diesen Trümmern notdürftig eingerichtet haben – ständig bedroht, vom Wetter, von Räubern. Immerhin: die Gemeinschaft hat sich so weit organisiert, dass sie Wächter bestimmt hat. Aber die stehen nicht „sehr hoch auf der Zinne“, wie es in einem unserer Kirchenlieder heißt, sondern durchstreifen die zerstörten Wege und Straßen.

Unwillkürlich drängen sich mir die Bilder von Kara Tepe auf, dem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos, die in der vergangenen Woche in den Nachrichten zu sehen waren. Es braucht keine phantasievollen Anstrengungen sich vorzustellen, wie eine Hoffnungsbotschaft lauten müsste, damit sie sich in Windeseile zwischen den Zelten dort ausbreitet. Wir wissen es alle. Was fehlt uns, entsprechend zu handeln? Die Hoffnung? Der Mut?

Der HERR hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.

Am Anfang muss doch die Bitte stehen, dass auch wir Gott wirken sehen in unserer Welt. Dass auch uns offenbart wird „das Heil unseres Gottes“. Und dann – an zweiter Stelle – die Bereitschaft, sich von Gott in den Dienst dieser Hoffnung nehmen zu lassen.

Nach meinem Eindruck haben wir es in Bezug auf die Pandemie bisher ganz gut gemacht, wenn nicht die Angst um uns selbst sondern die Sorge um die anderen unser Handeln geleitet hat. Vielen ist längst klar: Uns ist nur geholfen, wenn allen geholfen wird. Und das bedeutet möglicherweise auch, geduldig zu warten, bis ich mit einer Impfung an der Reihe bin.

Wenn wir das können – können wir dann nicht auch noch viel mehr? Statt vor der Größe der Probleme die Augen zu schließen, im Kleinen das tun, was wir tun können? Haben wir das nicht auch schon erlebt, getan?

Doch! Jede:r von uns kann Hoffnungsgeschichten erzählen! Kleine und große. Geschichten, in denen uns Freudenbot:innen begegnet sind. Menschen, deren Da-sein, deren Botschaft, deren Handeln (und manchmal auch deren Unterlassen) uns froh gemacht haben. Und manches Mal waren wir solche Menschen. Weil wir irgendwie in der Lage waren, von uns selbst abzusehen und wahrzunehmen – oft eher intuitiv als bewusst, was der Mensch neben uns gerade braucht. Ohne es recht zu merken, sind wir über uns hinausgewachsen. Zu der/dem anderen hin. Ganz Botin, Bote.

Hoffnung verleiht Flügel. Und so mag es sein, dass die, zu denen die Hoffnung geflogen kam, selbst Hoffnung stiften. Freudenbot:innen werden, (Freudenbot:innen) sind!

„Fürchtet Euch nicht! Siehe, ich verkündige Euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn Euch ist heute der Heiland geboren, welches ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“

Das ist die Botschaft von Weihnachten. Das ist die Botschaft dieses Festes. Auch – oder gerade: im Jahr 2020.

Die Freude, die allen widerfahren wird, sie will auch unser Herz ergreifen, in Besitz nehmen. Die Freude, die allen widerfahren wird, will weitergesagt, weitergegeben werden. Durch unseren Glauben, wie schwankend er auch sein mag. Unser Gottvertrauen, größer als wir selbst. Unsere Hoffnung.

Amen.

Gert-Axel Reuß

Domprobst

Domhof 35

23909 Ratzeburg

Mail: reuss@ratzeburgerdom.de


Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor der Nordkirche, von 1992 – 2001 Referent von Bischof Karl Ludwig Kohlwage in der Bischofskanzlei Holstein-Lübeck, seit 2001 Domprobst zu Ratzeburg


[1] Den Hinweis auf Walter Hollenweger und die Kraft wirklicher Wunder verdanke ich einer Predigt von Bischof Karl Ludwig Kohlwage, gehalten am 3. Dezember 2000 im Lübecker Dom. Der Predigt sind auch Gedanken und Formulierungen der folgenden beiden Absätze entnommen.

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