Hohelied 2,8-13

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Hohelied 2,8-13

Rollenwechsel | Zweiter Advent | 04.12.2022 | Hld 2,8–13 | Christoph Kock |

2. Warten auf ein Kind

Warten auf Weihnachten. Auf das Kind in der Krippe. Sich einstellen auf den Zauber des Anfangs, den ein Neugeborenes ausstrahlt. Vor allem, wenn es zufrieden in seinem Bettchen liegt. Die Lieder an Heiligabend stimmen darauf ein. „In reinlichen Windeln das himmlische Kind, viel schöner und holder als Engel es sind“. In den Schlaf wird der holde Knabe im lockigen Haar gesungen, in der stillen und heiligen Nacht: „Schlafe in himmlischer Ruh.“ Wie in der Pampers-Werbung. Reinlich werden sie nicht lange gewesen sein, aber wer mag schon Lieder von verschmutzten Windeln hören. Und wer weiß, ob Jesus nicht ein kleiner Schreihals gewesen ist, den Josef nachts umhertragen musste. Wie dem auch sei, ein Kind lenkt die Blicke auf sich, zaubert Menschen ein Lächeln aufs Gesicht. Wie selig werden sie, wenn das Kind es erwidert.

Also Weihnachten zur Kirche: Mit den Hirten zur Krippe gehen, um das Kind zu sehen. Was daran so anrührend ist? Vielleicht weil ein Kind einfach nur da ist. Nichts tut außer trinken, schlafen, ja auch schreien und die Windeln füllen. Weil es so bedürftig ist, Nähe braucht, auf dem Arm gehalten werden will. Weil es so viel Raum lässt für die eigene Sehnsucht, die Menschen im Gepäck haben und die im Laufe eines Lebens so schwer werden kann, dass es wehtut. Das Kind ist da. Das menschgewordene Wort liegt in der Krippe.

  1. Es ist was es ist

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe.»

III. Gott hat sich verliebt

Ein Ausschnitt ist längst noch nicht das ganze Bild. Nur ein Teil neben vielen anderen. Der Anfang drängt darauf, dass es weitergeht. Das Kind wird erwachsen. Verkörpert eine Botschaft. Jesus redet, handelt, provoziert, wirbt. Begegnet anderen Menschen einfühlsam, wird enttäuscht, ist verletzbar. So wirkt Gott in der Welt. Im Wort, das spricht. Anspricht. Zuspricht. Verspricht. Warum Gott das alles auf sich nimmt? Gott hat sich verliebt. Zunächst in sein Volk Israel, dann in alle Menschen. Die Bibel erzählt diese Liebesgeschichte mit ihren Höhen und Tiefen, voller Leidenschaft, inklusive Enttäuschung, Wut, Auseinandergehen und wieder Zusammenkommen – ein Bild mit vielen Facetten. „Es ist, was es ist“, seufzt Gott. So rettungslos ist Gott in die Welt verliebt, dass Gott bis zum Äußersten geht, um sie zu retten:

„Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie hingab. Jeder, der an ihn glaubt, soll nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“ (Johannes 3,16)

Also Weihnachten zur Kirche und gespannt sein, wie es weitergeht. Diese mit Hingabe, Liebe und Emotionen durchtränkte Beziehung. Drama oder Happy-End? Wahrscheinlich beides. Neuland betreten und einer alten Bekannten überraschend über den Weg laufen. „Du hier?“ Die Sehnsucht nach einer Liebe, deretwegen Menschen manchmal hin und weg oder völlig aus dem Häuschen sind.

Stimmen wir uns darauf ein mit einem biblischen Liebeslied. Hören wir hinein in das Hohelied der Liebe, in das 2. Kapitel:

  1. „Komm doch heraus!“ – ein Duett

8 Hör ich da nicht meinen Liebsten?

Ja, da kommt er auch schon!

Er springt über die Berge,

hüpft herbei über die Hügel.

9 Mein Liebster gleicht der Gazelle

oder einem jungen Hirsch.

Schon steht er an unserer Hauswand.

Er schaut durch das Fenster herein,

späht durch das Fenstergitter.

10 Mein Liebster redet mir zu:

„Schnell, meine Freundin,

meine Schöne, komm doch heraus!

11 Denn der Winter ist vorüber,

der Regen vorbei, er hat sich verzogen.

12 Blumen sprießen schon aus dem Boden,

die Zeit des Frühlings ist gekommen.

Turteltauben hört man in unserem Land.

13 Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen.

Die Reben blühn, verströmen ihren Duft.

Schnell, meine Freundin,

meine Schöne, komm doch heraus!“

Eine Frau und ein Mann. Ihre Liebe setzt sie in Bewegung. Sie müssen, wollen, werden zusammen sein. Wo die Liebe hinfällt, ist die Zeit des Frühlings gekommen, unabhängig vom Kalender. Der Liebste eilt herbei und kann es gar nicht abwarten, dass seine Freundin das Haus verlässt und in seinen Armen liegt.

Das Hohelied ist als Dialog zwischen Frau und Mann komponiert. Sie bekommen Namen: Salomo, der weise König, und Sulamith. Die einzelnen Lieder reihen sich aneinander wie Perlen auf einer Schnur. In rascher Folge wechseln die Szenen: Mal ist der Königspalast, mal der Weinberg, die Stadt, der Garten, das Weideland oder wie hier das Fenster Schauplatz für das Gespräch der Liebenden. Das Thema der Liebe wird in seiner ganzen Breite entfaltet. Es geht um Träume, Hoffnungen, Sehnsucht und Erfüllung, aber auch um Ängste, Enttäuschung und Liebeskummer. Durch zahlreiche Naturvergleiche und erotische Andeutungen werden alle Sinne angesprochen: Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken. Kein Zweifel, Liebe geht unter die Haut.

Wie kommt eine Sammlung von Hochzeits- und Liebesliedern in die Bibel? Zum einen hat Liebe einen festen Platz in der von Gott geschaffenen Welt. Zum anderen leuchtet auf, wie die Geschichte Gottes mit den Menschen gedeutet werden kann.

  1. Gott fällt aus der Rolle

Gott wie ein Liebhaber. Der wirbt, der begehrt, der enttäuscht werden kann. Gott in der Rolle einer Liebhaberin, die aus Leidenschaft die Verbindung zu den Menschen sucht. Für diejenigen ungewohnt, die Gott in anderen Rollen auf der Bühne sehen. „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“ Der Psalm vom letzten Sonntag. Dieser Auftritt am 1. Advent erscheint gottgemäß: Tür auf für den König der Ehre. Den Herr der Heerscharen. Aber dann kommt jemand, der auf einem Esel sitzt. Gott fällt aus der Rolle. Festlegen lässt Gott sich nicht. So geht das Spiel weiter. Heute am 2. Advent. Gott kommt als Richter, der die ganze Welt mit Gerechtigkeit richten wird. Gottes Auftritt wird von kosmischen Zeichen begleitet. Pauken und Trompeten reichen da nicht aus. Es müssen angsteinflößende Katastrophen sein, die Welt vergeht. Alles liegt unübersehbar in Gottes Macht, wenn Jesus erscheint. Aber dann singt Gott Liebeslieder. Gott fällt von der einen Rolle in die andere. Mir gefällt das. Eine tiefe Sehnsucht klingt an. „Komm doch heraus!“ Ob sie sich erfüllt hat? Ob Gott mit uns Menschen glücklich geworden ist? Ich bin mir nicht so sicher und ahne: Das Happy-End in dieser Beziehung steht noch aus.

  1. Hohe Erwartungen

Manchmal reicht zum Glück, dass der andere einfach nur da ist. Schon ihre Gegenwart macht selig. Was für ein schöner Moment, in dem alles eindeutig ist. Gott erlebt das selten. Wahrscheinlich, weil der Anfang schon so lange zurück liegt. Ich stelle mir vor: Gott kommt herangesprungen und Gottes Geliebte hat hohe Erwartungen. Sie flüstert sie Gott durch das Fenster zu, bevor sie überhaupt daran denkt, das Haus zu verlassen. Gespickt mit Wünschen privater Natur, für sich selbst oder andere. Mit Wünschen in größeren Bahnen. Frieden und Gerechtigkeit stehen an erster Stelle. Die Liste ist lang. Wie enttäuschend für Gott. „Reicht es dir nicht, dass ich endlich da bin?“, flüstert Gott zurück. „Und wenn wir schon beim Wünschen sind. Meine Worte habe ich dir aufgeschrieben. Wenn du dich daran halten würdest, sähe es auf der Welt anders aus. Du machst mich für das zuständig, was du selbst nicht hinbekommst. Das habe ich sowas von satt.“ An dieser Stelle kommen die ersten Tränen zum Einsatz und wir sind mitten in einem Drama.

Die Sehnsucht ist groß. Aufseiten Gottes ebenso wie aufseiten der Menschen. Sich gegenseitig das Ausmaß der Enttäuschung vorwerfen? Ärger und Wut freien Lauf lassen? Das Ende vom Lied wären gegenseitige Verletzungen, die lange brauchen, um zu vernarben. Gemeinsam in dieselbe Richtung schauen? Sich gegenseitig die Erwartungen zu erzählen und einander zuhören? Das wäre doch ein Anfang.

Ein Kind auf dem Arm. Ein Geliebter vor der Tür. Manchmal nur ein Wort: Frieden. Wie ihn Sulamith und Salomo im Namen tragen, die im Hohenlied von ihrer Liebe singen. Frieden, Schalom. Was für eine Sehnsucht, die Gott mit den Menschen teilt.

Amen.

Baustein für die Begrüßung:

Herzlich willkommen zum Gottesdienst am 2. Advent. Advent – das heißt Ankunft. Advent – das bedeutet Warten. Warten auf Gottes Ankunft. Welche Erwartungen, welche Sehnsucht, welche Träume damit verbunden sind?

Wie Gott ankommt, scheint klar. In einem Kind. Wie wäre es, auf Gott wie auf einen Liebsten, eine Liebste zu warten? Ungewohnt, aber durchaus biblisch. Probieren wir es aus. „Ein Schiff wird kommen / Und das bringt mir deinen einen / den ich so lieb wie keinen / Und der mich glücklich macht.“ Singen wir von diesem Schiff, das an unserem Ufer festmachen wird: „Es kommt ein Schiff geladen.“ (EG 8,1–3)

Sündenbekenntnis:

Großer Gott, du bist auf dem Weg zu uns. Wir ahnen, dass vieles nicht so bleiben kann, wie es ist. Die Welt nicht. Und wir selbst auch nicht. Und doch bleibt alles beim Alten. In der Welt ebenso wie in uns. Wir bleiben ungeduldig mit uns selbst, mit den anderen und mit dir. Da könnte doch so viel drin sein. Mehr Mut. Mehr Kraft. Mehr Zärtlichkeit. O Gott, erbarme dich unser.

Lieder:

Es kommt ein Schiff geladen (EG 8)

Wie soll ich dich empfangen (EG 11, insbesondere Strophe 7)

Wenn Glaube bei uns einzieht (#freiTöne 118)

Quellen und Impulse:

Erich Fried, Was es ist, aus: Es ist was es ist: Liebesgedichte, Angstgedichte, Zorngedichte. © 1983, 1996, 2007 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin.

Einführung zum Hohenlied in: BasisBibel. Bibel digital, Stuttgart 2021i

Magdalene L. Frettlöh, Liebesfrühling im Winter. Erotische Lyrik als Gleichnis adventlicher Sehnsucht, GPM 77 (2022), 13–23

Pfarrer Dr. Christoph Kock

Wesel

E-Mail: christoph.kock@ekir.de

Dr. Christoph Kock, geb. 1967, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit 2007 Pfarrer an der Friedenskirche in der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel.

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