I Just Want To See His Face

Home / Bibel / Neues Testament / 04) Johannes / John / I Just Want To See His Face
I Just Want To See His Face

Sonntag Lätare, 14. März 2021 | Johannes 12, 20-24 | auch als Audio | verfasst von Uland Spahlinger |

Johannes 12, 20-24 (BasisBibel)

20 Es befanden sich auch einige Griechen unter denen, die zum Fest nach Jerusa­lem gekommen waren, um Gott anzubeten. 21 Die gingen zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa stammte, und baten ihn: »Herr, wir wollen Jesus sehen!« 22 Philippus ging zu Andreas und sagte es ihm. Dann gingen die beiden zu Jesus und berichteten es ihm. 23 Da sagte Jesus zu ihnen: »Die Stunde ist gekommen! Jetzt wird der Menschen­sohn in seiner Herrlichkeit sichtbar. 24 Amen, amen, das sage ich euch: Das Weizenkorn muss in die Erde fallen und sterben, sonst bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.

Hinweis: Diese Predigt können Sie sich auch anhören!

Liebe Gemeinde,

es war 1972, da veröffentlichten die Rolling Stones ihr Doppelalbum „Exile On Main Street“ – („Verbannt auf die Hauptstraße“, könnte man das übersetzen). Dort „stimmen sie … den Outcast-Blues der Spieler, Komödianten und Trunken­bolde an, ein Lied der Penner, Prostituierten und Pimps voller Aggression, Obszö­nität und Poesie“[1]. So markant beschreibt das Rocklexikon von 1973 diese Platte der Bad Boys, der bösen Jungs des Rock ’n‘ Roll. Ich hatte die LP, fand sie toll – und mir fiel als Schüler überhaupt nicht auf, was da in den Songs verhandelt wurde. Für viele Erwachsene, auch für Kirchenvertreter, waren die Rolling Stones ein ro­tes Tuch. Sie provozierten. Sie verkörperten einen Teil von Welt und von aufmüp­figer Jugendkultur, die an allem rüttelte, was gute Ordnung, Tradition oder Sitte und Anstand hieß.

Fast 50 Jahre später. Die Rolling Stones gibt es immer noch; als Rock-Opas touren sie weiterhin durch die Welt. Mick Jagger, inzwischen zum „Sir“ geadelt, wird heuer 78. Die Zeiten haben sich gewandelt. Aber die Kraft der Songs von damals – man kann sie noch spüren. Und man kann Überraschungen erleben. Auf dem Al­bum „Exile On Main Street“: da gibt es einen Song mit dem Titel „I Just Want To See His Face“[2]. Klingt sehr wie ein Gospel, erdig, entspannt. Die zweite Strophe heißt übersetzt:

Manchmal brauchst du einen, wenn du jemand zum Lieben hast

Manchmal hast du keinen, wenn du jemand zum Lieben brauchst

Dann ist dir mit Gerede über Jesus nicht gedient

Dann willst du einfach sein Gesicht sehn

Then you don’t want to walk and talk about Jesus

You just want to see His face[3]

Diese Zeile kam mir gleich in den Sinn, als ich unseren Predigttext las. Mick Jagger und die griechischen Festbesucher in Jerusalem – sie haben die gleiche Frage. Sie teilen dasselbe Anliegen:  wir wollen Jesus sehen!

Wieso aber sollte ausgerechnet ein Mick Jagger Jesus sehen wollen? Erzählt wird, dass bei dieser Platte Billy Preston mitspielte, ein farbiger Soul- und Gospelmusi­ker, Kirchenorganist auch seit Kindertagen. Er soll während der Auf­nahmen Jag­ger immer wieder zu Gottes­diensten mitgenommen haben[4].

Holen wir doch probehalber die alte Geschichte her zu uns und spielen sie mal durch: Mick kommt zu Billy – was machst du am Sonntag? – Kirche, geh doch mit! – Die beiden gehen; aber Mick ist nicht zufrieden: nur drüber reden langt ihm nicht, „I just want to see His face“ – ich will sein Gesicht sehen. Mit an­deren Wor­ten: Ich will ihm leibhaftig begegnen.

Ich glaube, das ist der Punkt: viele Menschen heute hätten das wohl gern. Es wäre einfacher. Man könnte mal nachfragen – Faktencheck. Wir wären nicht auf eine uralte Überlie­ferung an­gewiesen.

Die Griechen, die damals nach Jerusalem gekommen waren, waren vermutlich nicht so skeptisch. Sie waren ja Zeitgenossen, sie hatten von dem Wunderrabbi mit dem phänomenalen Ruf gehört. Gerade war er – so erzählt Johannes – in Jerusalem eingezogen mit großem öffentlichen Rummel. „»Da merkt ihr, dass ihr nichts machen könnt. Alle Welt läuft ihm nach!« (Joh. 12,19), stellen seine Geg­ner resigniert fest.

Und schon kommen sie: alle Welt – hier: die griechischen Besucher. Die, die Fra­gen haben, ein Anliegen, eine Not oder einfach eine Neugier. Sie wollen „sehen“. Überzeugen wollen sie sich, dass etwas dran ist an den Gerüchten und Geschich­ten. Wasser in Wein? Eine Ehebrecherin gerettet? Kranke geheilt? Got­tes Nähe vor Augen geführt? Einen Toten wieder zum Leben geholt? Wer ist die­ser Mann? Kommt da etwas rüber? Zu uns? Fällt da vielleicht ein Stück Gottesbe­gegnung für uns ab?

Direkt trauen sie sich nicht hin. Sie sprechen Begleiter an, Landsleute, zumindest welche mit der gleichen Mutterspra­che, Philippus und Andreas, griechischstämmig ihren Namen nach zu urteilen. Man weiß ja nicht, was kommt.

„Wir würden ihn gern sehen“ (die Griechen). Aber: wird der berühmte Rabbi uns auch gern se­hen wollen?

„Ich möchte sein Gesicht sehen“ (Mick Jagger). Aber wie soll das gehen – 2000 Jahre später?

Und seltsam: Jesus weicht aus – so scheint es jedenfalls. Er geht auf den Wunsch der „Griechen“ nicht ein. Irgendwie erscheint das gar nicht nett. Unjesuanisch, könnte man fast sagen. Abweisend auf jeden Fall. Ist das der Jesus, der sonst kei­nem Gespräch ausweicht, auch keinem Streitgespräch? Ist das der, der sich zuwendet und der in die Hocke geht, wenn einer klein ist oder am Boden liegt? Ist es der, der Vertrauen auf den Lippen, an den Händen und im Herzen trägt? An und in dem wir Gottes Liebe erkennen sollen? Ist das der Jesus, an den vielleicht Mick Jagger dachte, als er sang: „I just want to see His face?“

Hier kommt Johannes ins Spiel, der Evangelist mit dem ganz eigenen Kopf. Der hat sich nämlich gut überlegt, warum er die Szene genau an dieser Stelle seiner Geschichte platziert hat. Johannes möchte, dass seine Leserinnen und Leser, ver­mutlich etwa 70 Jahre nach Kreuzigung und Auferweckung Jesu, nicht nach dem Augenschein suchen – heute würden wir vielleicht sagen: nach dem Blick durch die Kameralinse. Zum einen weiß er, dass das 70 Jahre später so nicht möglich ist, zum anderen ist ihm aber auch klar: nur hingucken allein reicht nicht. Später im Evangelium, nach Ostern, wird Jesus dem Jünger Thomas und allen, die es hören wollen, sagen: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh. 20,29). Gu­cken allein reicht also nicht. Gucken führt nicht zum Ziel.

Vielmehr – und sehr ge­heimnisvoll: „Die Stunde ist gekommen! Jetzt wird der Menschensohn in seiner Herrlichkeit sichtbar“ (12,23). Das geht wohl nicht immer, dass der Menschen­sohn sichtbar wird in seiner Herrlichkeit. Es braucht dazu die richtige Stunde, den glücklichen, den gesegneten Moment. Und das kennen wir doch auch: du grü­belst über etwas nach und kommst und kommst nicht darauf. Oder du willst ein Ikea-Regal zusammenbauen, und die Anleitung hilft einfach nicht weiter – du ka­pierst sie nicht. Bis dann, auf einmal, die Erleuchtung kommt, die Eingebung: „So muss das – so kann es gehen. Das ist die Lösung!“ Auf solche Momente setzt Jo­hannes – und sagt immer: Diese Momente, von denen ich hier erzähle, gehen von Gott aus. Denn alles geht von Gott aus. Jesus ging von Gott aus; keiner jemals war so eng mit Gott verbunden wie er. „Ich und der Vater sind eins“ (Joh. 10,30) – stärker und anstößiger kann man es nicht auf den Punkt bringen als Jesus das in seiner Rede über den Guten Hirten tut.

Es braucht also den richtigen Moment, um zu erkennen. Und nur mit den Augen gucken reicht einfach nicht. Weder die Griechen aus der Geschichte noch Mick Jagger mit seinem Lied kommen hier weiter. Johannes möchte uns zu einem Se­hen anleiten, „das über sich selbst hinauswächst“[5].

Aber was heißt das nun? Johannes bietet uns ein Bild an, einen Vergleich: „Das Weizenkorn muss in die Erde fallen und sterben, sonst bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.“ So, sagt Jesus, wird der Menschensohn verherr­licht, also Gott gleichgestellt. Denn Gott ist es, dem Anbetung und Verherrlichung zustehen[6].

Jesus sagt dies relativ kurz vor seinem Foltertod, einem Vorgang der tiefsten Er­niedrigung, Zurschaustellung des Leidens, Abschreckung, Befriedigung von sadis­tischer Zuschauerlust: Nicht ich – der da!

Jesus deutet um und spannt damit einen Bogen: Aus dem „Tod“ des einzelnen Elements entsteht etwas ganz Neues, erkennbar ähnlich, aber doch anders. Aus dem einen Weizenkorn, das in die Erde versenkt wird, werden viele. Nur so geht es. Aus dem Tod des einen fließt Leben (ewiges! Leben) für die vielen. So wandelt sich die Erniedrigung zur Erhöhung[7]. Das ist die Herrlichkeit, die Jesus meint – die Herrlichkeit, für die „jetzt“ die rechte Zeit gekommen ist.

Um Liebe geht es am Ende, eine Liebe, die über den Tod hinausreicht und die den Tod nicht fürchtet. Paradox auf den ersten Blick, für Bilanzlogik und Faktencheck nicht erreichbar. Sie wird sich dir nur erschließen, wenn du anders draufschaust. Aber dann wird sie sich dir er­schließen.

Es könnte ja sein, dass sich eine Frage oder ein Anspruch verbietet, der heute bei uns eine große Rolle spielt (und vielleicht schon immer gespielt hat): Wir möch­ten vorab wissen, was es uns bringt. Anders gesagt: was wir davon haben. Be­kommen wir eine Rendite für unseren Einsatz? Schlägt er sich irgendwie nieder? Oder: Können wir Unterstützung erwarten, wenn wir unverschuldet in Schiefla­gen geraten – etwa jetzt, nach nun schon einem zermürbenden Jahr Coronapande­mie? Wann fließt der angekündigte Ausgleich auch für die kleinen Unternehmen und für Kunstschaffende? Wann endlich können die Kinder wieder in die Kita oder zum Präsenzunterricht in die Schule? Wann können wir die Oma im Senio­renheim besuchen? Impfstoff für alle, gerade auch für die armen Länder der Welt? Fragen nach Ausgleich, nach Gerechtigkeit, nach Perspektive; und wir erleben Tag für Tag, wie schwer sie zu beantworten sind und wie schnell es am Detail hakt. Nur zu verständlich, dass viele nach fairen Bilanzen rufen und auch berücksichtigt werden wollen und dass die Nerven oft blank liegen.

Wenn ich durch die Jesusgeschichten blättere, dann fällt mir eins auf: Jesus stellt die Frage nicht. Ihn scheint nicht zu interessieren, was es ihm bringt oder was er davon hat. Er schaut darauf, dass die anderen etwas davon haben und dass so et­was vom Reich Gottes sichtbar wird, oder, um es mit Johannes zu sagen, von Got­tes Herrlichkeit, die erst so richtig zum Leuchten kommt, als es für Jesus ganz fins­ter zu werden scheint. Paradox, wie gesagt. Aber so ist es nun einmal: Nicht der Anblick ist das Entscheidende, nicht der äußere Schein, sondern das, was dahin­ter liegt. Darauf ist der Evangelist Johannes im Nachdenken über Jesus gestoßen: es gibt etwas, das liegt dahinter. Geheimnisvoll und nicht so leicht zu lüften. Aber real und wichtig für uns Menschen. Du lebst nicht für dich allein – und dann lebst du richtig.

Mit Johannes ist es ähnlich wie mit dem Fuchs in Saint Exupérys „Kleinem Prin­zen“. Der weiß: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“[8]

Dass es fair zugeht unter uns Menschen, das ist wichtig. Und dass vor allem die beachtet werden, die sich selbst nicht helfen können, auch das soll und muss sein. Niemand soll auf der Strecke bleiben müssen. Aber all diese guten Regeln gelten immer unter der Voraussetzung, die wir so gern vergessen: dass wir alle mit begrenzter Zeit leben. Für diese begrenzte Zeit können wir Sorge tragen; die können wir halbwegs einschätzen, wenn schon nicht überblicken. Gott – sagt uns Johannes, sagt uns Jesus – Gott schaut weiter. Gott schaut über den Tod hinaus.

Und auch das gehört zur Antwort auf die Bitte „wir wollen Jesus sehen“: das, was Jesus dem gelehrten Nikodemus in einem Nachtgespräch sagt, quasi der Kerngedanke des Johannesevangeliums und ein Kerngedanke unseres Glaubens: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh. 3,16). Etwas zum Suchen und zum Finden, mit allen Sinnen, mit Herz und Verstand. Über den Augenblick hinaus. Amen.

Dekan Uland Spahlinger, Dinkelsbühl

uland.spahlinger@elkb.de

Dekan Uland Spahlinger, Jg. 1958, Pfarrer der bayerischen Landeskirche seit 1983. Zwei Auslandsaufenthalte (Papua-Neuguinea 1989 – 1993 und Ukraine Mrz. 2009 – Feb. 2014), seit Mai 2014 Dekan in Dinkelsbühl. Verheiratet, drei erwachsene Kinder. Weitgespannt musikbegeistert – als Hörer und aktiv.

[1]     Schmidt-Joos/Graves, Rock-Lexikon rororo 6177, Rowohlt-Verlag Reinbek 1975, S. 301

[2]     https://www.youtube.com/watch?v=-anVr5LWA3U

[3]     Rolling Stones Songbook, Zweitausendeins, Frankfurt 1977, S. 268/269

[4]     So https://en.wikipedia.org/wiki/I_Just_Want_to_See_His_Face, Abschnitt Recording, geöffnet 4.3.21, 11.46

[5]     Hans-Christoph Askani, in GPM 75, Göttingen 2021, S. 230

[6]     Die griechischen Proselyten in unserem Abschnitt wussten das; s. Joh. 12,20.

[7]     So sinngemäß bei J. Schneider, Das Evangelium nach Johannes, ThHNT Sonderband, Hg. E. Fascher, Berlin 19884, S. 230

[8]      Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz, Karl Rauch Verlag, Düsseldorf, 201066, S. 93

de_DEDeutsch