Ihr dummen kleinen Tage

Ihr dummen kleinen Tage

„Ihr dummen kleinen Tage“ – oder: Was ist die Zeit? | Predigt über 1.Thessalonicher 5,1-8 | verfasst von Ulrich Wiesjahn |

 

(die Lesung des Textes erfolgt als Paraphrase am Ende der Predigt)

 

Liebe Gemeinde! Liebe Nachdenkliche!

Eine sehr geheimnisvolle, oft übersehene Frage durchzieht das ganze Neue Testament: Was ist die Zeit? Und darin enthalten ist natürlich die Frage: Was ist das Leben? Was ist m e i n Leben? Gibt es da nur die Länge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder gibt es so etwas wie eine Tiefe? Vollzieht sich mein Leben nur im Rahmen der großen chronologischen Gleichgültigkeit oder gibt es womöglich noch eine wunderbare Erfüllung?

Für mich als alten Mann ist das durchaus eine wesentliche Frage. Denn ich durchstreife jetzt noch einmal alle Zeiten meines Lebens, besonders die Kindheit und Jugend. Aber auch das Ende und der Tod sind mir unmittelbar nah. Und dabei habe ich das Gefühl, dass weder Uhr noch Kalender das alles erfassen kann.

Der Kirchenvater Augustinus hat einmal sehr klug zu der Frage „Was ist die Zeit?“ bemerkt: „Wenn man mich nicht fragt, weiß ich es. Doch wenn man mich fragt, weiß ich es nicht.“ Gelöst ist die Frage bis heute nicht. Immerhin ist es interessant, dass die moderne Physik gern von der Raumzeit spricht, in der alles erhalten bleibt. Doch der gewöhnliche Verstand will wie eh und je alles schön chronologisch nacheinander. Es ist wie ein Denkzwang – ja, unsere Zeitvorstellung ist ein Denkzwang. Wir können anscheinend nicht anders.

Und was hat das alles mit dem Neuen Testament zu tun? Nun, sowohl bei Jesus als auch bei den Aposteln taucht bei den Zuhörern immer wieder die Frage nach dem Zeitpunkt des Weltendes, der Auferstehung, des Anbruchs des Himmelreichs auf. Und das scheint ja eine ganz natürliche Frage zu sein. Wir leben in zwei großen Lebensräumen: dem eigenen Leben und dem Leben der Welt. Und wie das eine endet, so wird sich auch das Weltende einmal ereignen.

Ehe ich mich diesen Gedanken widme, möchte ich ein kleines Gedicht des Dadaisten und Surrealisten Hans Arp (1887-1966) vorlesen:

 

„Ihr dummen kleinen Tage,

kommt euch denn nie

ein Sterbenswörtchen von Erlösung

über eure gemalten Lippen?

Kniet ihr denn nie mehr

vor einem Kreuz?

Ihr dummen kleinen Tage,

ihr kennt nur Kommen und Gehen.

Wisst ihr denn nicht,

dass euch jeden Augenblick

die heilige Unendlichkeit anblickt?“

 

Was ist darin der Hauptgedanke? Nun der, dass nicht die Aneinanderreihung das Leben ausmacht, sondern die erfüllten und erfüllenden Augenblicke. Im kürzesten Augenblick ist alles da (in der Lichtgeschwindigkeit steht ja auch die Zeit fast still). Es ist der Augenblick des Bewusstseins, der Aufmerksamkeit, der Offenbarung und Erleuchtung. Es ist der Augenblick der Freude, wie Jesus sagen würde. Es ist der Augenblick Gottes. Der Physiker- und Mathematikerphilosoph Ludwig Wittgenstein hat es für sich einmal so formuliert: „Eine Auslegung der christlichen Lehre: Wach vollkommen auf!“

Das nun herauszustellen – die Nähe Gottes, die erfüllte Zeit, die Bedeutung des Hier und Jetzt -, das war und ist die Botschaft Jesu bis hin zum Wort am Kreuz: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein!“ Was alles im Heute steckt, im Jetzt, im Augenblick, das verkündet Jesus unentwegt. Wir kennen es auch aus dem Vaterunser mit der Bitte: „Unser tägliches Brot gib uns heute!“ Das Tägliche, das Heutige ist für Jesus völlig ausreichend. Denn alles andere ist ja so nah: Gott ist nah, die Menschen sind nah, die Natur ist nah. „Schaut euch doch um!“, ruft er: „Gott ist hier! Macht keine Pläne für übermorgen. Und von allem: Sorgt euch nicht, ängstigt euch nicht, sondern freut euch!“

Die Apostel trafen dann bei ihren Missionsreisen immer wieder auf ähnliche Fragen: „Wann kommt denn der Jüngste Tag, der große Gottestag? Wann geht es mit dieser Welt zu Ende?“ Und ihre Antwort, wir werden es gleich hören, lautete: „Zählt nicht die Stunden, Tage und Jahre, sondern lebt jetzt aufmerksam! Erfüllt euer Leben mit einer Qualität! Geht in die Tiefe! Seid jederzeit bereit für das Erscheinen Gottes! Schielt nicht nach Lebenslänge, sondern sucht die Erfüllung! Wenn ihr das tut, erfüllt ihr euer Leben, eure Zeit!“

Bevor ich zum Schluss die Gedanken des Paulus über die Zeit und ihr Ende vorlese, stelle ich noch schnell eine Frage und eine Antwort in den Raum. Die Frage heißt: Was ist eine Offenbarung? Und meine Antwort darauf lautet: Eine Offenbarung befreit uns von festgelegten Denkzwängen und ermöglicht uns eine neue Sichtweise. Unsere übliche Zeitvorstellung ist zu eng und zu simpel. Das Leben ist mehr als das, was sie erfasst.

Von dieser Voraussetzung her hören wir nun in leichter Umformulierung, was Paulus an die Gemeindemitglieder in Thessalonich schreibt: „Was unsere Zeitvorstellung betrifft, meine Lieben, so wisst ihr ja Bescheid. Man kann nichts berechnen oder einen Ablaufkalender herstellen. Denn unser himmlischer Herr kann jederzeit kommen. Wenn auch alle anderen glauben, sie hätten noch viel Zeit, dann ist er plötzlich da und niemand kann ihm ausweichen. Doch ihr, meine Lieben, ihr seid für ihn wach und bereit. Das unterscheidet uns von den anderen. Und uns stehen dafür die drei Gottesgaben zur Verfügung: nämlich der Glaube, die Liebe und die Hoffnung. Schließlich hat uns Gott nicht zum Verderben bestimmt, sondern zu einem ewigen Leben.“

A m e n.

 

 

Pfr.i.R. Ulrich Wiesjahn

E-Mail: ulrich.wiesjahn@web.de

Langjähriger Pfarrdienst in Berlin und Goslar, dazu zuständig für ein Alten- und Pflegeheim. Autor verschiedener theologischer und schöngeistiger Werke und Verfasser des Blogs „kritischfromm.wordpress.com (auch: Der christliche Blogger) zu Fragen des Christentums in der Gegenwart.

 

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