Wach und nüchtern.

Wach und nüchtern.

Predigt zu 1. Thessalonicher 5:1-6 | verfasst von Matthias Wolfes |

„Von den Zeiten aber und Stunden, liebe Brüder, ist nicht not euch zu schreiben; denn ihr selbst wisset gewiß, daß der Tag des HERRN wird kommen wie ein Dieb in der Nacht. Denn sie werden sagen: Es ist Friede, es hat keine Gefahr, so wird sie das Verderben schnell überfallen, gleichwie der Schmerz ein schwangeres Weib, und werden nicht entfliehen. Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, daß euch der Tag wie ein Dieb ergreife. Ihr seid allzumal Kinder des Lichtes und Kinder des Tages; wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasset uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasset uns wachen und nüchtern sein. (Jubiläumsbibel 1912)

Liebe Gemeinde,

wieder und wieder machen wir uns in unseren Gottesdiensten Gedanken darüber, was es mit unserem Glauben auf sich hat, wie er beschaffen ist und wohin er uns führt. Den allermeisten biblischen Texten entnehmen wir dazu bestimmte Aussagen und Anleitungen. Und so ist es auch heute.

Die kurze Passage aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki gibt uns, wie ich meine, ganz wesentliche Hinweise, und es bedarf eigentlich nicht vieler Worte, um das klarzumachen.

Die Gedanken des Apostels sind stark von endzeitlichen Vorstellungen geprägt. Ebenso verhält es sich bei den Menschen, die er anspricht. Die apokalyptischen Erwartungen waren drastisch und real. Und selbst, wenn man sagen kann, dass auch wir durchaus nicht mehr in der sicheren Selbstverständlichkeit leben, die vielleicht frühere Zeiten ausgezeichnet haben, so sind wir doch meilenweit entfernt von der unmittelbaren Zukunftsangst jener ersten Christen. Besonders aber die Einkleidung der christlichen Botschaft in eine Sprache der Besorgnis und der Angst, wie sie sich aus solchen endzeitlichen Vorstellungen ergibt, mutet uns fremd an. Und das mit recht. Wir sind keine Gefangene unserer Zeit; wir führen unser Leben nicht als Gefesselte.

Lassen Sie uns die Worte des Apostels deshalb einmal so hören, als würden sie solcher Einkleidung entbehren. Dann lauten sie: Ihr seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages.“ Als solche aber sollt ihr „wach und nüchtern“ sein. „Wach und nüchtern“ – das ist die entscheidende Aussage, und über sie möchte ich sprechen.

I.

Im und aus dem Glauben zu leben, bedeutet: auf ein Ziel hin zu leben. Die Wachheit (oder auch Wachsamkeit) und die Nüchternheit des Glaubens bestehen darin, die Orientierung auf das Ziel hin stetig festzuhalten. Wir sind kein schwankendes Rohr, das heute dies und morgen jenes will. Vielmehr halten wir fest, was wir als wahr erkannt haben. In religiöser Sprache gesprochen: Wir halten fest an der Wahrheit, die uns offenbar geworden ist. Diese Wahrheit betrifft unser Verhältnis zu Gott.

Wir betrachten Gott als den Urheber alles Wirklichen. Unser Leben und die Geschichte dieses Lebens sind selbst Teil jener von Gott ins Dasein gesetzten Wirklichkeit. Das ist die Perspektive des Glaubens; von ihr lassen wir nicht ab, und an ihr festzuhalten, allen Widerständen und Anfechtungen zum Trotz, ist die Aufgabe des christlichen Lebens. Dieser Aufgabe können wir aber nur gerecht werden, wenn wir „wach und nüchtern“ bleiben. Wir dürfen uns nicht darauf einlassen, die bitteren Realitäten aus irgendwelchen Hoffnungsgründen heraus zu verleugnen. Es gibt unter den vielen Formen von Selbstbetrug auch religiöse. Religiöser Selbstbetrug wäre es, wenn wir die Härten, die Dunkelheiten und Schmerzen des wirklichen Lebens ausblenden zugunsten einer erträumten Scheinwirklichkeit. Zur Geschichte des Lebens gehört eben etwa auch dessen Endlichkeit. In einem ganz trivialen Sinn ist das Ziel allen Lebens der Tod. Die Endlichkeit ist geradezu das Wesen der Welt. Und doch wissen wir, dass Gott die Welt nicht für das Nichts geschaffen hat. Jene Einsicht ist aufgehoben in der glaubenden Zuversicht, dass Gott zu seiner Welt steht, zu seiner Schöpfung, die er als treuer Gott geschaffen hat und der er selbst treu ist.

II.

Wollen wir näher beschreiben oder wenigstens ahnungsweise zum Ausdruck bringen, was wir uns unter Gott vorstellen, so ist „Treue“, neben „Güte“ und „Gerechtigkeit“, ein immer wiederkehrendes Prädikat. Der Gott, von dem wir dabei sprechen, ist der, dessen Nähe wir an und in uns selbst erfahren haben und erleben.

Gott ist treu. Damit sprechen wir die zentrale Überzeugung des christlichen Glaubens aus, und an ihr eben halten wir fest – ich kann das nur wiederholen –, allen widrigen Erfahrungen und Geschehnissen zum Trotz. Zum Trotz aber auch den Glücksmomenten, die uns so rasch ebenfalls in eine ganze andere Richtung lenken können. Die Verbundenheit mit dem treuen Gott, in dessen Hand unser Dasein ist, soll alle Tage und Nächte bestimmen. Jede Stunde wollen wir uns ihrer gewiss sein. Das ist das wache und nüchterne Leben, das wir im Glauben führen, ein Leben in und mit Gott. Wir finden uns in ihm.

Zu ihm darf sich ein jeder wenden, wann immer er will und in welcher Situation er sein mag. Häufig ist es so, dass Leid und Schmerzen der Seele uns dazu veranlassen, ihn anzurufen, und oft erklingt dann auch die Klage, die so rasch zur Anklage wird. Weshalb hast Du mich verlassen? Was habe ich denn verschuldet? Ich sehe keinen Sinn in dem, was geschieht!

Die Worte des Apostels Paulus aber erinnern daran, dass man Gott für seine Zuwendung danken soll. Als „Kinder des Lichts“ hat er uns ins Leben gerufen. Ihm verdanken wir unser Dasein. Er ist es, der uns erhält und bewahrt. Das können wir uns gar nicht oft genug sagen. In all dem ist er langmütig, denn wann hätten wir Anlass dazu, mit uns selbst zufrieden zu sein, wenn uns bewusst ist, dass er es ist, vor dem wir bestehen sollen? Und dennoch bleibt er auf unserer Seite, bleibt er uns treu. Gott entfernt sich nicht.

III.

Ist es zuviel verlangt, wenn ich als die wahre Ausdrucksweise des wachen und nüchternen Glaubens den Lobpreis Gottes bezeichne? Kann nur der religiöse Virtuose Gott aus voller Seele anrufen und ihn preisen? Nein. Denn tatsächlich ist ja das Anstimmen des Gotteslobs immer wieder die Folge unseres Vertrauens zu Gott. Wir haben das oft erfahren; es sind dies die erfüllten Momente des Glückes im Leben eines Christen. Und doch hat nicht jeder solche Ruhe und innere Gelassenheit; auch wir kennen ja das Gefühl der Abgeschiedenheit und des Getrenntseins von Gott. Auch wir wissen um die Sünde. Hier stellen sich viele Fragen, und dabei müssen wir natürlich vor allem selbstkritisch sein. Wie steht es mit unserem Gottvertrauen? Sind wir wirklich so stark, an jenem Vorsatz festzuhalten?

Und dann gibt es, das lässt sich nicht leugnen, so viele Menschen, deren Leben zu misslingen droht, die keine Perspektive sehen, die ihre Familie nicht ernähren können, deren Kinder chancenlos bleiben, weil die Mittel einfach nicht da sind, deren Gesundheit unwiederbringlich zerstört ist, die sehen, dass sie nicht gebraucht werden, und zwar Jung und Alt.

In solchen Situationen findet sich das richtige Wort oft nicht. Dann bleiben nur Beistehen und An-der-Seite-bleiben. Sehen wir jemanden in seinem Leid, dann genügt es, sofern er es duldet, einfach bei ihm zu sein in der Stunde der Not, nicht aber dagegen anzugehen und sie irgendwie zu verkleinern. In dem, was uns oder anderen Leid zufügt und das Dasein untergräbt, können wir Gott nicht als Ursache erkennen. Solches Leid geschieht ohne ihn. Das Schreckliche, Furchtbare ist schrecklich und furchtbar, daran gibt es nichts zu zweifeln, und eine andere Sicht kann sich allenfalls nach einiger Zeit einstellen. Was schrecklich ist, was als irrationales Geschehnis eintrifft – also „böse“ ist – und das Dasein zerrüttet, muss auch schrecklich genannt werden. Falls es dann später doch einmal einen Ort findet im ganzen des Lebens, so doch jedenfalls nicht im Augenblick des Leidens.

Nüchternheit und Wachheit sind angesichts dieser Dinge gerade auch von denen gefordert, die sich in ihrem Glauben an den treuen Gott unangefochten fühlen. Wir loben Gott, weil er „wahrhaftig“ ist, und er ist es ja in der Tat, denn seine Zusage bleibt bestehen, seine Liebe ist grenzenlos und unbedingt. Aber wahrhaftig sollen auch wir selbst sein, gerade diejenigen, die sich zu Gott bekennen.

Jeder Satz, den wir über Gott und zu Gott sprechen, sagt auch etwas über uns selbst. Wir können niemandem andemonstrieren, dass Gott die Welt in Güte und Erbarmen durchwaltet. Und wenn wir auch die Überzeugung haben, Gott beschütze uns, so wird es uns doch nicht gelingen, sie dem, der sie nicht hat, einzureden. Es ist unser Glaube, dass es sich so verhält, und allenfalls kann dies selbst, dass wir es glauben und bekennen, anderen zum Zeichen werden. Von solchen Zeugnissen anderer lebt auch die Art und Weise, wie wir unserem eigenen Gefühl von Gottes Nähe Ausdruck geben. Erst mit Hilfe der anderen lernen wir, unsere eigenen Fragen zu verstehen.

Der Glaube selbst aber ist ein Geschenk. Er kann uns die Kraft geben, zu bestehen, wenn das Schicksal uns hart angreift. Er ist ein Weg und eine Brücke zu Gott. Unser Auftrag ist, für den Dank einzustehen, und das tun wir, wenn wir unvermindert an dem Bekenntnis festhalten, dass unser Gott treu ist.

Amen.


Herangezogene Literatur:

Traugott Holtz: Der erste Brief an die Thessalonicher. Zweite, durchgesehene Auflage (Evangelisch-Katholischer Kommentar. Band XIII), Zürich und Braunschweig / Neukirchen-Vluyn 1990.


Pfarrer Dr. Dr. Matthias Wolfes

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